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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Die Selbständiizkeitsbewegung in Indien

und Schriftsteller sein, nach England kommen und dort das Volk überzeugen,
daß die Inder alle Rechte der britischen Selbstregierung haben müßten. Der
Kongreß beschloß dann zum größern Nachdruck seines Vorhabens englische
Waren zu boycottieren; dies sei eine legitime Waffe. Zum Schluß wurde
Naoriji von jungen Mädchen bekränzt und unter der mit der britischen National¬
hymne abwechselnden indischen vaterländischen Musik heimgeleitet.

Das alles begiebt sich im Hindutum. Wie sieht es nun bei den Moham¬
medanern aus?

Allerdings stehen die beiden Religionsgesellschaften zueinander im Gegen¬
satz, allerdings halten die Mohammedaner schon als Minderheit mehr zu den
Herren. Aber von Zufriedenheit mit den Zuständen ist wenigstens bei den
geistig leitenden Kreisen nicht viel zu spüren. Auch sie haben ihre vater¬
ländischen Vereine und beschäftigen sich dort ernstlich mit einer Reform der
Zustände. Am 1. Oktober 1906 hatten sie eine Deputation, die angeblich
Millionen Mohammedaner vertrat, zum Vizekönig nach Simla gesandt,
rd Minto empfing sie, und sie entwickelten ihm ihr Begehren. Auch sie
^erlangten Selbstregierung, jedoch sollte diese nicht nach dem einfachen Mehr-
uettsprinzip ausgeübt werden, sondern nach selbständigen Nationalitäts- und
iengionsgruppen -- eine Institution, die den Indern viel Kummer machen
^lrd, wenn sie halbwegs nach Art der österreichisch-ungarischen Entwicklung
ausfüllt. Lord Minto glaubte ihnen aber die Gewährung in Aussicht stellen
In können. Er hielt eine längere Ansprache an sie, in der er ihnen die
egnungen des englischen Regiments an der Hand der Geschichte auseinander¬
letzte. Ex ging auf die Gründe ihrer Unzufriedenheit ein und mahnte sie, sich
weht einer britenfeindlichen Bestrebung hinzugeben. "Westliche Gedankenweite,
le Lehren der westlichen Zivilisation, die individuelle Freiheit Großbritanniens
rönnen viel für das indische Volk tun, nur muß man nicht unpraktischerweise
auf der Annahme bestimmter politischer Methoden bestehn----Die große Masse
des indischen Volks hat keine Kenntnis von konstitutionellen Einrichtungen.
stimme mit Ihnen überein, daß die ersten Sprossen in der Leiter der
Selbstregierung in der Gemeinde- und Distriktverwaltung gefunden werden
Müssen; in dieser Richtung müssen wir die allmähliche politische Erziehung des
^les suchen."

Bei andern Gelegenheiten kommen ganz andre Leidenschaften zum Vor¬
hin. Namentlich verarge man es England, daß es seiner frühern Politik,
den Sultan der Türkei zu unterstützen, untreu geworden ist, daß es Ägypten
annektiert hat und in der Taha-Akabafrage offen gegen den Sultan aufge¬
treten ist. Man behauptete wohl, der Großherr in Konstantinopel habe nichts
"ehr mit den Gläubigen in Indien zu schaffen. In Wahrheit jedoch gilt das
einmal vollständig in politischer Beziehung. In religiöser ist er noch
"umer das Haupt des Islam. Vor nicht langer Zeit hielten die moham¬
medanischen Rechtsgelehrten eine Versammlung in Lahore ab; dort erklärte ein


Grenzboten II 1907 64
Die Selbständiizkeitsbewegung in Indien

und Schriftsteller sein, nach England kommen und dort das Volk überzeugen,
daß die Inder alle Rechte der britischen Selbstregierung haben müßten. Der
Kongreß beschloß dann zum größern Nachdruck seines Vorhabens englische
Waren zu boycottieren; dies sei eine legitime Waffe. Zum Schluß wurde
Naoriji von jungen Mädchen bekränzt und unter der mit der britischen National¬
hymne abwechselnden indischen vaterländischen Musik heimgeleitet.

Das alles begiebt sich im Hindutum. Wie sieht es nun bei den Moham¬
medanern aus?

Allerdings stehen die beiden Religionsgesellschaften zueinander im Gegen¬
satz, allerdings halten die Mohammedaner schon als Minderheit mehr zu den
Herren. Aber von Zufriedenheit mit den Zuständen ist wenigstens bei den
geistig leitenden Kreisen nicht viel zu spüren. Auch sie haben ihre vater¬
ländischen Vereine und beschäftigen sich dort ernstlich mit einer Reform der
Zustände. Am 1. Oktober 1906 hatten sie eine Deputation, die angeblich
Millionen Mohammedaner vertrat, zum Vizekönig nach Simla gesandt,
rd Minto empfing sie, und sie entwickelten ihm ihr Begehren. Auch sie
^erlangten Selbstregierung, jedoch sollte diese nicht nach dem einfachen Mehr-
uettsprinzip ausgeübt werden, sondern nach selbständigen Nationalitäts- und
iengionsgruppen — eine Institution, die den Indern viel Kummer machen
^lrd, wenn sie halbwegs nach Art der österreichisch-ungarischen Entwicklung
ausfüllt. Lord Minto glaubte ihnen aber die Gewährung in Aussicht stellen
In können. Er hielt eine längere Ansprache an sie, in der er ihnen die
egnungen des englischen Regiments an der Hand der Geschichte auseinander¬
letzte. Ex ging auf die Gründe ihrer Unzufriedenheit ein und mahnte sie, sich
weht einer britenfeindlichen Bestrebung hinzugeben. „Westliche Gedankenweite,
le Lehren der westlichen Zivilisation, die individuelle Freiheit Großbritanniens
rönnen viel für das indische Volk tun, nur muß man nicht unpraktischerweise
auf der Annahme bestimmter politischer Methoden bestehn----Die große Masse
des indischen Volks hat keine Kenntnis von konstitutionellen Einrichtungen.
stimme mit Ihnen überein, daß die ersten Sprossen in der Leiter der
Selbstregierung in der Gemeinde- und Distriktverwaltung gefunden werden
Müssen; in dieser Richtung müssen wir die allmähliche politische Erziehung des
^les suchen."

Bei andern Gelegenheiten kommen ganz andre Leidenschaften zum Vor¬
hin. Namentlich verarge man es England, daß es seiner frühern Politik,
den Sultan der Türkei zu unterstützen, untreu geworden ist, daß es Ägypten
annektiert hat und in der Taha-Akabafrage offen gegen den Sultan aufge¬
treten ist. Man behauptete wohl, der Großherr in Konstantinopel habe nichts
"ehr mit den Gläubigen in Indien zu schaffen. In Wahrheit jedoch gilt das
einmal vollständig in politischer Beziehung. In religiöser ist er noch
"umer das Haupt des Islam. Vor nicht langer Zeit hielten die moham¬
medanischen Rechtsgelehrten eine Versammlung in Lahore ab; dort erklärte ein


Grenzboten II 1907 64
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/501>, abgerufen am 06.02.2025.