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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Die österreichischen Reichsratswahlen

Worden, das gegenwärtige Kabinett ist also gar kein parlamentarisches Kabinett
mehr, die Frage aber, aus welchem Material ein andres parlamentarisches
Kabinett zu bilden sei, ohne das die Verwirklichung der "wahrhaft demokra¬
tischen Ideen" aber bekanntlich nicht möglich ist, vermag heute kein Mensch
zu beantworten, weil sie gar nicht beantwortet werden kann, da das neue
österreichische Abgeordnetenhaus ungefähr dasselbe Bild bieten wird wie der
deutsche Reichstag vor seiner letzten Auflösung.

Der Ausfall der engern Wahlen ändert nichts daran, da die bürgerlichen
Parteien, besonders die deutschen, ihre Verluste vom 14. Mai nur teilweise
wettzumachen vermochten. Die Stärke der deutschen Fraktionen ist demnach
folgende: 67 Christlichsoziale, 29 Deutschklerikale, 28 deutsche Volkspartei,
19 Fortschrittler, 12 Freialldeutsche, 5 Altdeutsche und 17 Agrarier. Der
Sozialdemokratie sind nicht weniger als 49 deutsche Mandate zugefallen, davon
etwa 10 infolge eines stillschweigenden Kompromisses zwischen den Sozial¬
demokraten und den Fortschrittlern und der deutschen Volkspartei bei den
engern Wahlen, während die bürgerlichen Tschechen, die sich geeinigt hatten,
bei den Stichwahlen nur noch 1 Mandat an die Sozialdemokratie verloren.

Noch bevor es zu den engern Wahlen kam, hatte sich gezeigt, daß auch
der schwache Trost, der der Regierung nach dem 14. Mai übrig geblieben war:
die Schwächung der nationalradikalcn Elemente -- auf einem Irrtum beruhte.
Am Pfingstsoutttag veröffentlichte die tschechoslawische sozialdemokratische Partei
ein Manifest an die Tschechen Böhmens, Mährens und Schlesiens, worin sie
sich in nationaler Beziehung zu allen den nationalen Grundsätzen und
Forderungen bekennt, die die bürgerlichen nationalen tschechischen Parteien
bisher in und außerhalb des Parlaments vertreten haben, und deren Be¬
treibung bekanntlich die vieljährige innerpolitische Krise hervorgerufen hatte,
der schließlich das alte Klassenparlament zum Opfer gefallen ist. Aus dieser
programmatischen Stellung der tschechischen Sozialdemokratie geht hervor, daß
die nationale Frage mit Nichten aus dem Neichsrat verschwinden, sondern das
allgemeine Wahlrechtsparlament genau so beschäftigen wird wie das alte
Klasfenparlament. Ebenso wie aber die Polen auch im neuen Parlament als
"ationalpolitische Einheit auftreten werden, werden es auch die bürgerlichen
Tschechen, deren einzelne Fraktionen schon über ihren Zusammenschluß zu einer
einheitlichen parlamentarischen Organisation verhandeln, die schon mit Rücksicht
auf die nationale Stellung der tschechischen Sozialdemokratie von ihren natio¬
nalen Forderungen nicht ein Titelchen aufgeben wird. Das schließt aber die
Möglichkeit der Bildung einer festen parlamentarischen Mehrheit aus der Ge¬
samtheit der bürgerlichen Deutschen. Tschechen und Polen aus. ebenso un¬
möglich ist aber auch die Ersetzung des einen oder des andern dieser drei
Elemente durch die andern kleinern parlamentarischen bürgerlichen Parteien.
Aber auch an eine Majoritätsbildung auf rein politischer liberaler oder kon¬
servativer Grundlage ist nicht zu denken, da ihr das durch das Anschwellen


Die österreichischen Reichsratswahlen

Worden, das gegenwärtige Kabinett ist also gar kein parlamentarisches Kabinett
mehr, die Frage aber, aus welchem Material ein andres parlamentarisches
Kabinett zu bilden sei, ohne das die Verwirklichung der „wahrhaft demokra¬
tischen Ideen" aber bekanntlich nicht möglich ist, vermag heute kein Mensch
zu beantworten, weil sie gar nicht beantwortet werden kann, da das neue
österreichische Abgeordnetenhaus ungefähr dasselbe Bild bieten wird wie der
deutsche Reichstag vor seiner letzten Auflösung.

Der Ausfall der engern Wahlen ändert nichts daran, da die bürgerlichen
Parteien, besonders die deutschen, ihre Verluste vom 14. Mai nur teilweise
wettzumachen vermochten. Die Stärke der deutschen Fraktionen ist demnach
folgende: 67 Christlichsoziale, 29 Deutschklerikale, 28 deutsche Volkspartei,
19 Fortschrittler, 12 Freialldeutsche, 5 Altdeutsche und 17 Agrarier. Der
Sozialdemokratie sind nicht weniger als 49 deutsche Mandate zugefallen, davon
etwa 10 infolge eines stillschweigenden Kompromisses zwischen den Sozial¬
demokraten und den Fortschrittlern und der deutschen Volkspartei bei den
engern Wahlen, während die bürgerlichen Tschechen, die sich geeinigt hatten,
bei den Stichwahlen nur noch 1 Mandat an die Sozialdemokratie verloren.

Noch bevor es zu den engern Wahlen kam, hatte sich gezeigt, daß auch
der schwache Trost, der der Regierung nach dem 14. Mai übrig geblieben war:
die Schwächung der nationalradikalcn Elemente — auf einem Irrtum beruhte.
Am Pfingstsoutttag veröffentlichte die tschechoslawische sozialdemokratische Partei
ein Manifest an die Tschechen Böhmens, Mährens und Schlesiens, worin sie
sich in nationaler Beziehung zu allen den nationalen Grundsätzen und
Forderungen bekennt, die die bürgerlichen nationalen tschechischen Parteien
bisher in und außerhalb des Parlaments vertreten haben, und deren Be¬
treibung bekanntlich die vieljährige innerpolitische Krise hervorgerufen hatte,
der schließlich das alte Klassenparlament zum Opfer gefallen ist. Aus dieser
programmatischen Stellung der tschechischen Sozialdemokratie geht hervor, daß
die nationale Frage mit Nichten aus dem Neichsrat verschwinden, sondern das
allgemeine Wahlrechtsparlament genau so beschäftigen wird wie das alte
Klasfenparlament. Ebenso wie aber die Polen auch im neuen Parlament als
"ationalpolitische Einheit auftreten werden, werden es auch die bürgerlichen
Tschechen, deren einzelne Fraktionen schon über ihren Zusammenschluß zu einer
einheitlichen parlamentarischen Organisation verhandeln, die schon mit Rücksicht
auf die nationale Stellung der tschechischen Sozialdemokratie von ihren natio¬
nalen Forderungen nicht ein Titelchen aufgeben wird. Das schließt aber die
Möglichkeit der Bildung einer festen parlamentarischen Mehrheit aus der Ge¬
samtheit der bürgerlichen Deutschen. Tschechen und Polen aus. ebenso un¬
möglich ist aber auch die Ersetzung des einen oder des andern dieser drei
Elemente durch die andern kleinern parlamentarischen bürgerlichen Parteien.
Aber auch an eine Majoritätsbildung auf rein politischer liberaler oder kon¬
servativer Grundlage ist nicht zu denken, da ihr das durch das Anschwellen


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[0447] Die österreichischen Reichsratswahlen Worden, das gegenwärtige Kabinett ist also gar kein parlamentarisches Kabinett mehr, die Frage aber, aus welchem Material ein andres parlamentarisches Kabinett zu bilden sei, ohne das die Verwirklichung der „wahrhaft demokra¬ tischen Ideen" aber bekanntlich nicht möglich ist, vermag heute kein Mensch zu beantworten, weil sie gar nicht beantwortet werden kann, da das neue österreichische Abgeordnetenhaus ungefähr dasselbe Bild bieten wird wie der deutsche Reichstag vor seiner letzten Auflösung. Der Ausfall der engern Wahlen ändert nichts daran, da die bürgerlichen Parteien, besonders die deutschen, ihre Verluste vom 14. Mai nur teilweise wettzumachen vermochten. Die Stärke der deutschen Fraktionen ist demnach folgende: 67 Christlichsoziale, 29 Deutschklerikale, 28 deutsche Volkspartei, 19 Fortschrittler, 12 Freialldeutsche, 5 Altdeutsche und 17 Agrarier. Der Sozialdemokratie sind nicht weniger als 49 deutsche Mandate zugefallen, davon etwa 10 infolge eines stillschweigenden Kompromisses zwischen den Sozial¬ demokraten und den Fortschrittlern und der deutschen Volkspartei bei den engern Wahlen, während die bürgerlichen Tschechen, die sich geeinigt hatten, bei den Stichwahlen nur noch 1 Mandat an die Sozialdemokratie verloren. Noch bevor es zu den engern Wahlen kam, hatte sich gezeigt, daß auch der schwache Trost, der der Regierung nach dem 14. Mai übrig geblieben war: die Schwächung der nationalradikalcn Elemente — auf einem Irrtum beruhte. Am Pfingstsoutttag veröffentlichte die tschechoslawische sozialdemokratische Partei ein Manifest an die Tschechen Böhmens, Mährens und Schlesiens, worin sie sich in nationaler Beziehung zu allen den nationalen Grundsätzen und Forderungen bekennt, die die bürgerlichen nationalen tschechischen Parteien bisher in und außerhalb des Parlaments vertreten haben, und deren Be¬ treibung bekanntlich die vieljährige innerpolitische Krise hervorgerufen hatte, der schließlich das alte Klassenparlament zum Opfer gefallen ist. Aus dieser programmatischen Stellung der tschechischen Sozialdemokratie geht hervor, daß die nationale Frage mit Nichten aus dem Neichsrat verschwinden, sondern das allgemeine Wahlrechtsparlament genau so beschäftigen wird wie das alte Klasfenparlament. Ebenso wie aber die Polen auch im neuen Parlament als "ationalpolitische Einheit auftreten werden, werden es auch die bürgerlichen Tschechen, deren einzelne Fraktionen schon über ihren Zusammenschluß zu einer einheitlichen parlamentarischen Organisation verhandeln, die schon mit Rücksicht auf die nationale Stellung der tschechischen Sozialdemokratie von ihren natio¬ nalen Forderungen nicht ein Titelchen aufgeben wird. Das schließt aber die Möglichkeit der Bildung einer festen parlamentarischen Mehrheit aus der Ge¬ samtheit der bürgerlichen Deutschen. Tschechen und Polen aus. ebenso un¬ möglich ist aber auch die Ersetzung des einen oder des andern dieser drei Elemente durch die andern kleinern parlamentarischen bürgerlichen Parteien. Aber auch an eine Majoritätsbildung auf rein politischer liberaler oder kon¬ servativer Grundlage ist nicht zu denken, da ihr das durch das Anschwellen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/447>, abgerufen am 06.02.2025.