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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Für die Reichshauptstadt

ganzen immer wieder den Eindruck empfängt: hier ist kein Schwindel, sonder"
solide Grundlage und gesundes Wachstum. Kaum irgendwo sonst im deutschen
Baterlande mag es im Reiche der materiellen Güter ein erfreulicheres Bild
geben, als dies so gigantisch sich dehnende und reckende Berlin. Es ist die
aller Welt sichtbare Verkörperung des gewaltigen Aufschwungs unsrer ge¬
samten Volkswirtschaft.

Aber ist es vielleicht nur die wirtschaftliche Errungenschaft, deren wir uns
an diesem Bilde freuen dürfen? Mau keimt die Klage, daß unter der plumpen
Gier des materiellen Gewinnens und Genießens jedes edlere Streben erstickt
werde, daß sich der geistige Charakter Berlins seit der Mitte des vorigen
Jahrhunderts höchst unvorteilhaft verändert habe. Eine starke Wandlung ist
in ihm eingetreten, das ist wahr. Das geistige Leben dieser jüngsten der
großen europäischen Hauptstädte hat zu keiner Zeit, wie das andrer, den Stempel
einer alten, mehr als tausendjährigen Kultur tragen können. Um so stolzer
war man darauf, ihm durch seinen unmittelbar eignen Wert eine Bedeutung
gegeben zu haben, die aller Welt Achtung abnötigte. In der ersten Hälfte
des vorigen Jahrhunderts war es der wissenschaftliche Geist, der Berlin in
hohem Grade seine Eigenart verlieh. Es war die Zeit, wo die Hegelsche
Philosophie nicht allein die Gelehrtenwelt beherrschte, sondern die ganze höhere
Gesellschaft in ihren Bannkreis zog. Was dieser Gesellschaft an Glanz und
Reichtum abging, ersetzte sie durch eine Höhe der allgemeinen Bildung, die
von Freund und Feind bewundernd, wenn auch nicht immer ohne neidischen
Spott anerkannt wurde. Ist es zu verwundern, daß die Verehrer solcher
geistigen Vornehmheit -- und es gibt ja noch Lebende genug, die die Berliner
Atmosphäre jener Tage geatmet haben -- verächtlich auf den, wie sie meinen,
banausischen Zug der Gegenwart herabschauen? Aber das philosophische Zeit¬
alter mußte von selbst aufhören, sobald die öffentliche Meinung durch die
Einführung des Konstitutionalismus mit Macht auf die praktische Politik
hingedrängt wurde. Und dazu kam. daß der Philosophie, während sie sich
hochmütig im Besitze der Alleinherrschaft wähnte, sozusagen im eignen Schoße
der Todfeind erstand, die Naturwissenschaft, die. in ihren verschiednen
Zweigen auf das reale Leben angewandt, die großartigste friedliche Um¬
wälzung, insbesondre auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiete, bewirken half,
die die Menschheit je gesehen hat. Und in dieser neuen Ära hat nicht nur
die Berliner Wissenschaft die Führung gehabt, nirgends sonst hat sie auch
für die praktische Verwertung ihrer Ergebnisse einen bereitwilligem und
fruchtbarem Boden gefunden als in der Reichshauptstadt. In dem dadurch
erzeugten ruhelosen Wettkampfe liegt nicht am wenigsten die Quelle des
Jagens und des Hastens. wodurch das heutige Berliner Leben gekenn¬
zeichnet wird.

Freilich, für stille geistige Vertiefung ist in dem brausenden Lärm dieser
ungeheuern Stadt kaum noch der geeignete Ort. Wer sie sucht, der gehe dahin,


Für die Reichshauptstadt

ganzen immer wieder den Eindruck empfängt: hier ist kein Schwindel, sonder»
solide Grundlage und gesundes Wachstum. Kaum irgendwo sonst im deutschen
Baterlande mag es im Reiche der materiellen Güter ein erfreulicheres Bild
geben, als dies so gigantisch sich dehnende und reckende Berlin. Es ist die
aller Welt sichtbare Verkörperung des gewaltigen Aufschwungs unsrer ge¬
samten Volkswirtschaft.

Aber ist es vielleicht nur die wirtschaftliche Errungenschaft, deren wir uns
an diesem Bilde freuen dürfen? Mau keimt die Klage, daß unter der plumpen
Gier des materiellen Gewinnens und Genießens jedes edlere Streben erstickt
werde, daß sich der geistige Charakter Berlins seit der Mitte des vorigen
Jahrhunderts höchst unvorteilhaft verändert habe. Eine starke Wandlung ist
in ihm eingetreten, das ist wahr. Das geistige Leben dieser jüngsten der
großen europäischen Hauptstädte hat zu keiner Zeit, wie das andrer, den Stempel
einer alten, mehr als tausendjährigen Kultur tragen können. Um so stolzer
war man darauf, ihm durch seinen unmittelbar eignen Wert eine Bedeutung
gegeben zu haben, die aller Welt Achtung abnötigte. In der ersten Hälfte
des vorigen Jahrhunderts war es der wissenschaftliche Geist, der Berlin in
hohem Grade seine Eigenart verlieh. Es war die Zeit, wo die Hegelsche
Philosophie nicht allein die Gelehrtenwelt beherrschte, sondern die ganze höhere
Gesellschaft in ihren Bannkreis zog. Was dieser Gesellschaft an Glanz und
Reichtum abging, ersetzte sie durch eine Höhe der allgemeinen Bildung, die
von Freund und Feind bewundernd, wenn auch nicht immer ohne neidischen
Spott anerkannt wurde. Ist es zu verwundern, daß die Verehrer solcher
geistigen Vornehmheit — und es gibt ja noch Lebende genug, die die Berliner
Atmosphäre jener Tage geatmet haben — verächtlich auf den, wie sie meinen,
banausischen Zug der Gegenwart herabschauen? Aber das philosophische Zeit¬
alter mußte von selbst aufhören, sobald die öffentliche Meinung durch die
Einführung des Konstitutionalismus mit Macht auf die praktische Politik
hingedrängt wurde. Und dazu kam. daß der Philosophie, während sie sich
hochmütig im Besitze der Alleinherrschaft wähnte, sozusagen im eignen Schoße
der Todfeind erstand, die Naturwissenschaft, die. in ihren verschiednen
Zweigen auf das reale Leben angewandt, die großartigste friedliche Um¬
wälzung, insbesondre auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiete, bewirken half,
die die Menschheit je gesehen hat. Und in dieser neuen Ära hat nicht nur
die Berliner Wissenschaft die Führung gehabt, nirgends sonst hat sie auch
für die praktische Verwertung ihrer Ergebnisse einen bereitwilligem und
fruchtbarem Boden gefunden als in der Reichshauptstadt. In dem dadurch
erzeugten ruhelosen Wettkampfe liegt nicht am wenigsten die Quelle des
Jagens und des Hastens. wodurch das heutige Berliner Leben gekenn¬
zeichnet wird.

Freilich, für stille geistige Vertiefung ist in dem brausenden Lärm dieser
ungeheuern Stadt kaum noch der geeignete Ort. Wer sie sucht, der gehe dahin,


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[0297] Für die Reichshauptstadt ganzen immer wieder den Eindruck empfängt: hier ist kein Schwindel, sonder» solide Grundlage und gesundes Wachstum. Kaum irgendwo sonst im deutschen Baterlande mag es im Reiche der materiellen Güter ein erfreulicheres Bild geben, als dies so gigantisch sich dehnende und reckende Berlin. Es ist die aller Welt sichtbare Verkörperung des gewaltigen Aufschwungs unsrer ge¬ samten Volkswirtschaft. Aber ist es vielleicht nur die wirtschaftliche Errungenschaft, deren wir uns an diesem Bilde freuen dürfen? Mau keimt die Klage, daß unter der plumpen Gier des materiellen Gewinnens und Genießens jedes edlere Streben erstickt werde, daß sich der geistige Charakter Berlins seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts höchst unvorteilhaft verändert habe. Eine starke Wandlung ist in ihm eingetreten, das ist wahr. Das geistige Leben dieser jüngsten der großen europäischen Hauptstädte hat zu keiner Zeit, wie das andrer, den Stempel einer alten, mehr als tausendjährigen Kultur tragen können. Um so stolzer war man darauf, ihm durch seinen unmittelbar eignen Wert eine Bedeutung gegeben zu haben, die aller Welt Achtung abnötigte. In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts war es der wissenschaftliche Geist, der Berlin in hohem Grade seine Eigenart verlieh. Es war die Zeit, wo die Hegelsche Philosophie nicht allein die Gelehrtenwelt beherrschte, sondern die ganze höhere Gesellschaft in ihren Bannkreis zog. Was dieser Gesellschaft an Glanz und Reichtum abging, ersetzte sie durch eine Höhe der allgemeinen Bildung, die von Freund und Feind bewundernd, wenn auch nicht immer ohne neidischen Spott anerkannt wurde. Ist es zu verwundern, daß die Verehrer solcher geistigen Vornehmheit — und es gibt ja noch Lebende genug, die die Berliner Atmosphäre jener Tage geatmet haben — verächtlich auf den, wie sie meinen, banausischen Zug der Gegenwart herabschauen? Aber das philosophische Zeit¬ alter mußte von selbst aufhören, sobald die öffentliche Meinung durch die Einführung des Konstitutionalismus mit Macht auf die praktische Politik hingedrängt wurde. Und dazu kam. daß der Philosophie, während sie sich hochmütig im Besitze der Alleinherrschaft wähnte, sozusagen im eignen Schoße der Todfeind erstand, die Naturwissenschaft, die. in ihren verschiednen Zweigen auf das reale Leben angewandt, die großartigste friedliche Um¬ wälzung, insbesondre auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiete, bewirken half, die die Menschheit je gesehen hat. Und in dieser neuen Ära hat nicht nur die Berliner Wissenschaft die Führung gehabt, nirgends sonst hat sie auch für die praktische Verwertung ihrer Ergebnisse einen bereitwilligem und fruchtbarem Boden gefunden als in der Reichshauptstadt. In dem dadurch erzeugten ruhelosen Wettkampfe liegt nicht am wenigsten die Quelle des Jagens und des Hastens. wodurch das heutige Berliner Leben gekenn¬ zeichnet wird. Freilich, für stille geistige Vertiefung ist in dem brausenden Lärm dieser ungeheuern Stadt kaum noch der geeignete Ort. Wer sie sucht, der gehe dahin,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/297>, abgerufen am 06.02.2025.