Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.Hemmungen des Fortschritts in China Die Herrschaft der Mongolen dauerte nicht viel länger als hundert Jahre; Gentilorganisation und Mandarinentum, das sind noch heute die schlimmsten Grenzboten II 1907 2
Hemmungen des Fortschritts in China Die Herrschaft der Mongolen dauerte nicht viel länger als hundert Jahre; Gentilorganisation und Mandarinentum, das sind noch heute die schlimmsten Grenzboten II 1907 2
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0017" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/302005"/> <fw type="header" place="top"> Hemmungen des Fortschritts in China</fw><lb/> <p xml:id="ID_25" prev="#ID_24"> Die Herrschaft der Mongolen dauerte nicht viel länger als hundert Jahre;<lb/> dann wurden sie durch den Begründer der Mingdynastie verjagt. Dieser aber,<lb/> wie seltsam, war auch kein Anhänger Konfutses, sondern buddhistischer Mönch.<lb/> Den Mittg folgten die Mandschus. Daß unter deren ersten Kaisern das<lb/> Christentum in China blühte, ist bekannt. In Voltaires Weis as I^ouis XIV<lb/> findet man eine eingehende Beschreibung des gewaltigen Einflusses, den das<lb/> Christentum im siebzehnten und zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts in<lb/> China gewonnen hatte; durch die Eifersüchteleien zwischen den Jesuiten und den<lb/> Dominikanern ging er rasch wieder verloren. Ursprünglichen Naturen, Männern<lb/> mit ungebrochner Willenskraft und von unabhängiger Denkweise, wie es die<lb/> ersten Herrscher neuer chinesischer Dynastien jedesmal waren, mußte es wider¬<lb/> streben, eine Moral anzuerkennen, die der Bewegungsfreiheit des Individuums<lb/> so außerordentlich enge Grenzen zieht wie die konfutsicmische. Deshalb ist es<lb/> auch kein Wunder, daß der Urheber der Taipingrebellion, die ohne die Ein¬<lb/> mischung der Fremden der Mcmdschudynastie einj Ende gesetzt haben würde,<lb/> kein Verehrer Konfutses war. Es steht zwar nicht fest, ob sich Diente selbst<lb/> zum Christentum bekannte, sicher ist aber, daß er mit dem evangelischen<lb/> Missionar Gützlaff regen Verkehr unterhielt, daß der Kern seiner Anhänger<lb/> aus Christen bestand, und daß die Bewegung wenigstens in ihren Anfängen<lb/> von christlich-religiösem Fanatismus getragen wurde; nennt doch ein erbitterter<lb/> Gegner des Christentums in China, Ku Hung ming, M. A. der Edinburger<lb/> Universität, den Aufstand in einem englisch geschriebenen Buch: ed.6 rsböllion<lb/> ot' tds Outoasts ok ed.6 ObristiM Mission.</p><lb/> <p xml:id="ID_26" next="#ID_27"> Gentilorganisation und Mandarinentum, das sind noch heute die schlimmsten<lb/> Hemmungen alles Fortschritts in China. Wie hätte Europa zu seinen Errungen¬<lb/> schaften gelangen können ohne den großen freien Spielraum, worin sich hier<lb/> der Einzelne bewegen darf; wieviele Kräfte würden nicht auch hier gebunden<lb/> bleiben, wenn nicht der Mann bei der Wahl einer Lebensgefährtin dem Zuge<lb/> des Herzens folgen dürfte, sie vielmehr dem Vater, dem Heiratsvermittler lind<lb/> dem Zufall überlasten müßte! Nietzsche, der grimme Feind des Christentums,<lb/> erkannte doch an, daß erst dieses den Geschlechtstrieb zur Liebe „sublimiert"<lb/> habe; vorher habe es im allgemeinen nur eine Befriedigung der Sinnenlust<lb/> gegeben. Etwas andres kennt auch der Chinese kaum. Deshalb treibt in seiner<lb/> sonst so reichhaltigen Literatur die Liebespoesie nur ganz spärliche Blüten. Nur<lb/> unter einer Herdenmoral wie der konfuzianischen kann dieses Volk von mehr<lb/> als 400 Millionen bisher von einer verhältnismäßig winzigen Zahl von Beamten<lb/> ^ auf etwa 20000 Menschen kommt in China ein Mandarin — in Schach<lb/> gehalten werden. Die Schwierigkeiten der Verwaltung müssen aber in dem<lb/> Maße wachsen, als der Europäisierungsprozeß fortschreitet, und eine moderne<lb/> Produktionsweise die ruhige See chinesischen Instinktlebens unter den Stürmen<lb/> entfesselter Leidenschaften in seinen Tiefen aufwühlt. Gerade deswegen lassen<lb/> sich in China grundstürzende Reformern nur auf gewaltsamen Wege unter An-</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II 1907 2</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0017]
Hemmungen des Fortschritts in China
Die Herrschaft der Mongolen dauerte nicht viel länger als hundert Jahre;
dann wurden sie durch den Begründer der Mingdynastie verjagt. Dieser aber,
wie seltsam, war auch kein Anhänger Konfutses, sondern buddhistischer Mönch.
Den Mittg folgten die Mandschus. Daß unter deren ersten Kaisern das
Christentum in China blühte, ist bekannt. In Voltaires Weis as I^ouis XIV
findet man eine eingehende Beschreibung des gewaltigen Einflusses, den das
Christentum im siebzehnten und zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts in
China gewonnen hatte; durch die Eifersüchteleien zwischen den Jesuiten und den
Dominikanern ging er rasch wieder verloren. Ursprünglichen Naturen, Männern
mit ungebrochner Willenskraft und von unabhängiger Denkweise, wie es die
ersten Herrscher neuer chinesischer Dynastien jedesmal waren, mußte es wider¬
streben, eine Moral anzuerkennen, die der Bewegungsfreiheit des Individuums
so außerordentlich enge Grenzen zieht wie die konfutsicmische. Deshalb ist es
auch kein Wunder, daß der Urheber der Taipingrebellion, die ohne die Ein¬
mischung der Fremden der Mcmdschudynastie einj Ende gesetzt haben würde,
kein Verehrer Konfutses war. Es steht zwar nicht fest, ob sich Diente selbst
zum Christentum bekannte, sicher ist aber, daß er mit dem evangelischen
Missionar Gützlaff regen Verkehr unterhielt, daß der Kern seiner Anhänger
aus Christen bestand, und daß die Bewegung wenigstens in ihren Anfängen
von christlich-religiösem Fanatismus getragen wurde; nennt doch ein erbitterter
Gegner des Christentums in China, Ku Hung ming, M. A. der Edinburger
Universität, den Aufstand in einem englisch geschriebenen Buch: ed.6 rsböllion
ot' tds Outoasts ok ed.6 ObristiM Mission.
Gentilorganisation und Mandarinentum, das sind noch heute die schlimmsten
Hemmungen alles Fortschritts in China. Wie hätte Europa zu seinen Errungen¬
schaften gelangen können ohne den großen freien Spielraum, worin sich hier
der Einzelne bewegen darf; wieviele Kräfte würden nicht auch hier gebunden
bleiben, wenn nicht der Mann bei der Wahl einer Lebensgefährtin dem Zuge
des Herzens folgen dürfte, sie vielmehr dem Vater, dem Heiratsvermittler lind
dem Zufall überlasten müßte! Nietzsche, der grimme Feind des Christentums,
erkannte doch an, daß erst dieses den Geschlechtstrieb zur Liebe „sublimiert"
habe; vorher habe es im allgemeinen nur eine Befriedigung der Sinnenlust
gegeben. Etwas andres kennt auch der Chinese kaum. Deshalb treibt in seiner
sonst so reichhaltigen Literatur die Liebespoesie nur ganz spärliche Blüten. Nur
unter einer Herdenmoral wie der konfuzianischen kann dieses Volk von mehr
als 400 Millionen bisher von einer verhältnismäßig winzigen Zahl von Beamten
^ auf etwa 20000 Menschen kommt in China ein Mandarin — in Schach
gehalten werden. Die Schwierigkeiten der Verwaltung müssen aber in dem
Maße wachsen, als der Europäisierungsprozeß fortschreitet, und eine moderne
Produktionsweise die ruhige See chinesischen Instinktlebens unter den Stürmen
entfesselter Leidenschaften in seinen Tiefen aufwühlt. Gerade deswegen lassen
sich in China grundstürzende Reformern nur auf gewaltsamen Wege unter An-
Grenzboten II 1907 2
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