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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Thomas Hardys Napoleonsdrama

Bedeutung des Wortes volkstümlich schaffen konnten, wendet sich Hardy nur
an eine kleine Gemeinde. Er gibt selbst zu, daß das Werk auf der modernen
Bühne nicht ausführbar sei, und was er am Schluß der Einleitung vorschlägt,
eine Rezitation im Stile der Weihnachtsspiele des Landvolks, begleitet von
Bildern, denen durch einen Gazevorhang möglichst viel von den klaren Kon¬
turen einer realen Darstellung genommen wird, ist eben auch nur ein Experiment,
dessen Ausführung einen kolossalen technischen Apparat fordern würde, und an
dem doch nur wenige Interesse haben dürften.

So bleibt denn zunächst nichts übrig als Hardhs Schöpfung so, wie sie
eben ist, als Bruchdrama zu betrachten, und als solches bietet sie des
Interessanten genug. Die Handlung beginnt mit dem Jahre 1805, führt von
den Marineübungen Napoleons im Hafen zu Boulogne zur Krönung in
Mailand, schildert die Kämpfe um Ulm, die Schlacht bei Trafalgar, dann
Austerlitz und endlich Pitts Tod. Der zweite Teil bringt, um nur die Haupt¬
punkte der Handlung anzuführen, die Schlacht bei Jena, die Zusammenkunft
in Tilsit, die spanischen Schlachtfelder, Wagram, Napoleons Scheidung und
seine Vermählung mit Marie Luise, die Geburt des Königs von Rom, das
Krankenzimmer König Georgs des Dritten und im Gegensatz dazu ein Fest des
Prinzregenten, das den zweiten Teil schließt.

In freier Nachahmung der Funktionen des Chors im altgriechischen Drama
hat Hardy eine Anzahl überirdischer Intelligenzen eingeführt, die zunächst in
einer Art "Prolog im Himmel" auftreten und dann das große Schauspiel der
europäischen Mächte im Kampf gegen den Einen beobachten und kommentieren.
Hardy ergreift hierbei die Gelegenheit, den widerstreitenden Gefühlen, mit denen
er "die Bürde des Geheimnisses in dieser unbegreiflichen Welt" betrachtet,
Stimmen zu verleihen, sie in den scharf abgegrenzten Individualitäten der
Geister zu personifizieren. Und weil ihm diese philosophischen Betrachtungen,
kraft derer er das Rätsel des Lebens zu durchdringen sucht, seit seinem reifen
Mannesalter vertraut sind, so ereignet sich das Merkwürdige, daß diese kom¬
mentierenden Zuschauer, der Geist der Jahre, der Genius des Mitleids, der
finstere und der ironische Geist und andre mehr, persönlich greifbarer werden
als, abgesehen von den Hauptpersonen, die Träger des eigentlichen Dramas.

Hardys Plan, das Ringen der Dynastien in dichterischer Einheit zusammen¬
zufügen, bringt eine flüchtige Behandlung der einzelnen Gestalten mit sich.
Napoleon selbst, der unglückliche Admiral Villeneuve, auch Zar Alexander
sind auf Grund detaillierter historischer Studien sehr sorgsam gezeichnet, aber
am eindrucksvollsten sind doch die Szenen, in denen Hardy mit patriotisch
inspirierter Feder das heldenmütige Kämpfen und Sterben der Tapfern seines
eignen Volkes wiedergibt. Das ist nur natürlich. Und wenn er in der Vor¬
rede sagt, wie es ihn verletzt habe, daß in der europäischen Literatur Englands
Anteil im Kampf gegen den Korsen so geringe Beachtung gefunden habe, so möchte
wohl diesem Napoleonsdrama gegenüber der Vorwurf berechtigt erscheinen, daß


Thomas Hardys Napoleonsdrama

Bedeutung des Wortes volkstümlich schaffen konnten, wendet sich Hardy nur
an eine kleine Gemeinde. Er gibt selbst zu, daß das Werk auf der modernen
Bühne nicht ausführbar sei, und was er am Schluß der Einleitung vorschlägt,
eine Rezitation im Stile der Weihnachtsspiele des Landvolks, begleitet von
Bildern, denen durch einen Gazevorhang möglichst viel von den klaren Kon¬
turen einer realen Darstellung genommen wird, ist eben auch nur ein Experiment,
dessen Ausführung einen kolossalen technischen Apparat fordern würde, und an
dem doch nur wenige Interesse haben dürften.

So bleibt denn zunächst nichts übrig als Hardhs Schöpfung so, wie sie
eben ist, als Bruchdrama zu betrachten, und als solches bietet sie des
Interessanten genug. Die Handlung beginnt mit dem Jahre 1805, führt von
den Marineübungen Napoleons im Hafen zu Boulogne zur Krönung in
Mailand, schildert die Kämpfe um Ulm, die Schlacht bei Trafalgar, dann
Austerlitz und endlich Pitts Tod. Der zweite Teil bringt, um nur die Haupt¬
punkte der Handlung anzuführen, die Schlacht bei Jena, die Zusammenkunft
in Tilsit, die spanischen Schlachtfelder, Wagram, Napoleons Scheidung und
seine Vermählung mit Marie Luise, die Geburt des Königs von Rom, das
Krankenzimmer König Georgs des Dritten und im Gegensatz dazu ein Fest des
Prinzregenten, das den zweiten Teil schließt.

In freier Nachahmung der Funktionen des Chors im altgriechischen Drama
hat Hardy eine Anzahl überirdischer Intelligenzen eingeführt, die zunächst in
einer Art „Prolog im Himmel" auftreten und dann das große Schauspiel der
europäischen Mächte im Kampf gegen den Einen beobachten und kommentieren.
Hardy ergreift hierbei die Gelegenheit, den widerstreitenden Gefühlen, mit denen
er „die Bürde des Geheimnisses in dieser unbegreiflichen Welt" betrachtet,
Stimmen zu verleihen, sie in den scharf abgegrenzten Individualitäten der
Geister zu personifizieren. Und weil ihm diese philosophischen Betrachtungen,
kraft derer er das Rätsel des Lebens zu durchdringen sucht, seit seinem reifen
Mannesalter vertraut sind, so ereignet sich das Merkwürdige, daß diese kom¬
mentierenden Zuschauer, der Geist der Jahre, der Genius des Mitleids, der
finstere und der ironische Geist und andre mehr, persönlich greifbarer werden
als, abgesehen von den Hauptpersonen, die Träger des eigentlichen Dramas.

Hardys Plan, das Ringen der Dynastien in dichterischer Einheit zusammen¬
zufügen, bringt eine flüchtige Behandlung der einzelnen Gestalten mit sich.
Napoleon selbst, der unglückliche Admiral Villeneuve, auch Zar Alexander
sind auf Grund detaillierter historischer Studien sehr sorgsam gezeichnet, aber
am eindrucksvollsten sind doch die Szenen, in denen Hardy mit patriotisch
inspirierter Feder das heldenmütige Kämpfen und Sterben der Tapfern seines
eignen Volkes wiedergibt. Das ist nur natürlich. Und wenn er in der Vor¬
rede sagt, wie es ihn verletzt habe, daß in der europäischen Literatur Englands
Anteil im Kampf gegen den Korsen so geringe Beachtung gefunden habe, so möchte
wohl diesem Napoleonsdrama gegenüber der Vorwurf berechtigt erscheinen, daß


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[0140] Thomas Hardys Napoleonsdrama Bedeutung des Wortes volkstümlich schaffen konnten, wendet sich Hardy nur an eine kleine Gemeinde. Er gibt selbst zu, daß das Werk auf der modernen Bühne nicht ausführbar sei, und was er am Schluß der Einleitung vorschlägt, eine Rezitation im Stile der Weihnachtsspiele des Landvolks, begleitet von Bildern, denen durch einen Gazevorhang möglichst viel von den klaren Kon¬ turen einer realen Darstellung genommen wird, ist eben auch nur ein Experiment, dessen Ausführung einen kolossalen technischen Apparat fordern würde, und an dem doch nur wenige Interesse haben dürften. So bleibt denn zunächst nichts übrig als Hardhs Schöpfung so, wie sie eben ist, als Bruchdrama zu betrachten, und als solches bietet sie des Interessanten genug. Die Handlung beginnt mit dem Jahre 1805, führt von den Marineübungen Napoleons im Hafen zu Boulogne zur Krönung in Mailand, schildert die Kämpfe um Ulm, die Schlacht bei Trafalgar, dann Austerlitz und endlich Pitts Tod. Der zweite Teil bringt, um nur die Haupt¬ punkte der Handlung anzuführen, die Schlacht bei Jena, die Zusammenkunft in Tilsit, die spanischen Schlachtfelder, Wagram, Napoleons Scheidung und seine Vermählung mit Marie Luise, die Geburt des Königs von Rom, das Krankenzimmer König Georgs des Dritten und im Gegensatz dazu ein Fest des Prinzregenten, das den zweiten Teil schließt. In freier Nachahmung der Funktionen des Chors im altgriechischen Drama hat Hardy eine Anzahl überirdischer Intelligenzen eingeführt, die zunächst in einer Art „Prolog im Himmel" auftreten und dann das große Schauspiel der europäischen Mächte im Kampf gegen den Einen beobachten und kommentieren. Hardy ergreift hierbei die Gelegenheit, den widerstreitenden Gefühlen, mit denen er „die Bürde des Geheimnisses in dieser unbegreiflichen Welt" betrachtet, Stimmen zu verleihen, sie in den scharf abgegrenzten Individualitäten der Geister zu personifizieren. Und weil ihm diese philosophischen Betrachtungen, kraft derer er das Rätsel des Lebens zu durchdringen sucht, seit seinem reifen Mannesalter vertraut sind, so ereignet sich das Merkwürdige, daß diese kom¬ mentierenden Zuschauer, der Geist der Jahre, der Genius des Mitleids, der finstere und der ironische Geist und andre mehr, persönlich greifbarer werden als, abgesehen von den Hauptpersonen, die Träger des eigentlichen Dramas. Hardys Plan, das Ringen der Dynastien in dichterischer Einheit zusammen¬ zufügen, bringt eine flüchtige Behandlung der einzelnen Gestalten mit sich. Napoleon selbst, der unglückliche Admiral Villeneuve, auch Zar Alexander sind auf Grund detaillierter historischer Studien sehr sorgsam gezeichnet, aber am eindrucksvollsten sind doch die Szenen, in denen Hardy mit patriotisch inspirierter Feder das heldenmütige Kämpfen und Sterben der Tapfern seines eignen Volkes wiedergibt. Das ist nur natürlich. Und wenn er in der Vor¬ rede sagt, wie es ihn verletzt habe, daß in der europäischen Literatur Englands Anteil im Kampf gegen den Korsen so geringe Beachtung gefunden habe, so möchte wohl diesem Napoleonsdrama gegenüber der Vorwurf berechtigt erscheinen, daß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/140>, abgerufen am 06.02.2025.