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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Der Revanchegedanken in Frankreich

unter die Fahne trat, der erste ist, der auf Grund dieses Gesetzes ausgehoben
wurde. Es ist aber unrichtig, auf Grund dieser Tatsache zu behaupten, wie
dies vielfach gescheben ist, daß die zweijährige Dienstzeit in Frankreich praktisch
schon durchgeführt sei, denn in Wirklichkeit setzt sich die heutige französische
Armee aus drei Jahrgängen zusammen, und erst wenn im Frühjahr und Herbst
dieses Jahres die Altersklassen von 1903 und 1904 entlassen sein werden, und
das Heer alsdann nur aus den beiden Jahrgängen 1905 und 1906 zusammen¬
gesetzt ist, kann von der vollendeten Durchführung der Bestimmungen über die
verkürzte Dienstzeit die Rede sein. Inzwischen aber hat das neue Gesetz doch
schon jetzt seine Schatten vorausgeworfen und, wie die jüngsten Verhandlungen
in der Kammer und im Senat zeigen, den zahlreichen Gegnern rechtgegeben,
die von Anfang an behaupteten, es werde damit die Durchschnittsfriedens¬
stärke des Heeres von 574000 Manu, einschließlich der Gendarmerie, ernstlich
in Frage gestellt werden, und mithin der numerische Vergleich mit der deutschen
Armee sich immer ungünstiger gestalten. Freilich hat der Kriegsminister in den
Parlamenten versucht, die Volksvertreter über diese ungünstigen Zahlenauf¬
stellungen hinwegzubringen, indem er ihnen vorhielt, wie unvernünftig es sei,
daß sich die Nation fortwährend durch die nun einmal gegebnen und längst
bekannten günstigen Bevölkerungsziffern in Deutschland gleichsam "hypnotisieren"
lasse, anstatt die Augen nach vorwärts zu richten und mit ihm nach einem
"Kleide zu suchen, das sich für die französischen Verhältnisse zuschneiden lasse"
iMre uMt g. notrs Wille) und die vorhandnen Blößen geschickt bedecke.
Aber auf der andern Seite hat auch Mr. Picquarr nicht in Abrede stellen können,
daß sich die Hoffnungen auf den teilweisen Ersatz des dritten Jahrgangs durch
Freiwillige und Kapitulanten in den Reihen der Brigadiers, Kaporale und
Gemeine bisher nicht erfüllt hätten. Als seinerzeit das neue Nekrutierungs-
gesetz im Senat beraten wurde, erklärte mau vom Miuistertische aus, um das
Gesetz durchzudrücken, daß nach ungefährer Schätzung ans 11500 kapitulierende
Brigadiers und Kaporale und auf 10000 kapitulierende Gemeine zu rechnen
sei, daß mithin Lücken im Friedeusstaude des Heeres schwerlich eintreten könnten.
Aber schon am 1. Oktober 1905 zeigte es sich, daß jene Berechnungen un¬
richtig waren, denn es fanden sich nur 3194 Kaporale und Brigadiers und
1894 Gemeine zu Kapitulationen bereit. Auch am 1. Oktober 1906 trat keine
bedeutende Erhöhung in diesen Zahlen ein, da 3281 Kaporale und Brigadiers
und 1995 Gemeine gegen das vorhergehende Jahr nur einen Zuwachs von
87 und 101 Mann brachten. Und auch für 1907 sind augenscheinlich die Er-
wartungen der Negierung auf sehr viel höhere Kapitulanteuziffern nicht erheblich
besser gestellt, denn in den Erläuterungen zu seinem Voranschläge, die der
Kriegsminister kürzlich vor der Budgetkommission gegeben hat, rechnet er nur
mit 3500 Gradierten und 2200 Gemeinen als Kapitulanten, während er in
der Etatsaufstellung selbst die Höhe der Kapitulanten noch mit 6200 und
3500 Mann beziffert hat.


Der Revanchegedanken in Frankreich

unter die Fahne trat, der erste ist, der auf Grund dieses Gesetzes ausgehoben
wurde. Es ist aber unrichtig, auf Grund dieser Tatsache zu behaupten, wie
dies vielfach gescheben ist, daß die zweijährige Dienstzeit in Frankreich praktisch
schon durchgeführt sei, denn in Wirklichkeit setzt sich die heutige französische
Armee aus drei Jahrgängen zusammen, und erst wenn im Frühjahr und Herbst
dieses Jahres die Altersklassen von 1903 und 1904 entlassen sein werden, und
das Heer alsdann nur aus den beiden Jahrgängen 1905 und 1906 zusammen¬
gesetzt ist, kann von der vollendeten Durchführung der Bestimmungen über die
verkürzte Dienstzeit die Rede sein. Inzwischen aber hat das neue Gesetz doch
schon jetzt seine Schatten vorausgeworfen und, wie die jüngsten Verhandlungen
in der Kammer und im Senat zeigen, den zahlreichen Gegnern rechtgegeben,
die von Anfang an behaupteten, es werde damit die Durchschnittsfriedens¬
stärke des Heeres von 574000 Manu, einschließlich der Gendarmerie, ernstlich
in Frage gestellt werden, und mithin der numerische Vergleich mit der deutschen
Armee sich immer ungünstiger gestalten. Freilich hat der Kriegsminister in den
Parlamenten versucht, die Volksvertreter über diese ungünstigen Zahlenauf¬
stellungen hinwegzubringen, indem er ihnen vorhielt, wie unvernünftig es sei,
daß sich die Nation fortwährend durch die nun einmal gegebnen und längst
bekannten günstigen Bevölkerungsziffern in Deutschland gleichsam „hypnotisieren"
lasse, anstatt die Augen nach vorwärts zu richten und mit ihm nach einem
„Kleide zu suchen, das sich für die französischen Verhältnisse zuschneiden lasse"
iMre uMt g. notrs Wille) und die vorhandnen Blößen geschickt bedecke.
Aber auf der andern Seite hat auch Mr. Picquarr nicht in Abrede stellen können,
daß sich die Hoffnungen auf den teilweisen Ersatz des dritten Jahrgangs durch
Freiwillige und Kapitulanten in den Reihen der Brigadiers, Kaporale und
Gemeine bisher nicht erfüllt hätten. Als seinerzeit das neue Nekrutierungs-
gesetz im Senat beraten wurde, erklärte mau vom Miuistertische aus, um das
Gesetz durchzudrücken, daß nach ungefährer Schätzung ans 11500 kapitulierende
Brigadiers und Kaporale und auf 10000 kapitulierende Gemeine zu rechnen
sei, daß mithin Lücken im Friedeusstaude des Heeres schwerlich eintreten könnten.
Aber schon am 1. Oktober 1905 zeigte es sich, daß jene Berechnungen un¬
richtig waren, denn es fanden sich nur 3194 Kaporale und Brigadiers und
1894 Gemeine zu Kapitulationen bereit. Auch am 1. Oktober 1906 trat keine
bedeutende Erhöhung in diesen Zahlen ein, da 3281 Kaporale und Brigadiers
und 1995 Gemeine gegen das vorhergehende Jahr nur einen Zuwachs von
87 und 101 Mann brachten. Und auch für 1907 sind augenscheinlich die Er-
wartungen der Negierung auf sehr viel höhere Kapitulanteuziffern nicht erheblich
besser gestellt, denn in den Erläuterungen zu seinem Voranschläge, die der
Kriegsminister kürzlich vor der Budgetkommission gegeben hat, rechnet er nur
mit 3500 Gradierten und 2200 Gemeinen als Kapitulanten, während er in
der Etatsaufstellung selbst die Höhe der Kapitulanten noch mit 6200 und
3500 Mann beziffert hat.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/124>, abgerufen am 06.02.2025.