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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Hemmungen des Fortschritts in "Lhtna

maßlose Bewunderung! ihnen erscheint sie als die beste, die es geben kann, sie
dünkt sie jedenfalls^der onropäischen iiberlegeu. Seit Voltane durch die Schriften
der zu Kcmghis Zeiten in China weilenden Jesuiten im "himmlischen Reiche"
den religious- oder- gpttloson Staat x"r exosllönos entdeckt M haben glaubte,
ist die chinesische Gesellschaftsordnung vou europäischen Kritikern immer aufs
neue in das glänzendste Licht gestellt worden, sodaß heute kaum noch mit der
Möglichkeit gerechnet wird, die Morallehre Konfutses könne jemals Westländischen
Tngendbegriffen weichen müssen, und dem Familienkultus könne seine staats¬
erhaltende Rolle genommen werden. Sogar M, von Brandt, der in Helmolts
Weltgeschichte der "weitverbreiteten Ansicht von der Unbeweglichkeit der chinesischen
Kultur" mit großer Entschiedenheit entgegentritt, meint doch auch, unbeweglich
seien gewissermaßen die Grundlagen der Familie und des Staates und damit
der Erziehung und Verwaltung.

Die Vorzüge, die an der chinesischen Gesellschaftsordnung gerühmt werden,
sind im allgemeinen genau dieselben, die Morgan an den ursprünglichen Ge¬
meinwesen aufweist, die bei den Völkern des europäischen Kulturkreises der
schriftlich überlieferten Geschichte vorausgingen. Die Chinesen blieben überhaupt
mit ihrer Kultur fast völlig in der Gentilorgcmisation stecken. Merkwürdig, daß
dies bisher fast gänzlich unbeachtet geblieben ist. Man fasse nur die Haupt¬
kennzeichen dieser gesellschaftlichen Einrichtung ins Auge. Sie beruht ans dem
Familien- und Stammesleben. Wo eine größere Anzahl Personen desselben
Familiennamens beisammen wohnt, wird ein Geschlecht, eine "Gens" gebildet,
das angesehenste Mitglied zum Oberhaupt gewählt. Auf ihn geht ein großer
Teil der väterlichen Gewalt über. Um der bei früh geschlossenen Eheu leicht
eintretenden Entartung der Geschlechter vorzubeugen, ergeht das Verbot, daß
niemand sich aus der eignen Gens eine Frau nehmen darf; Mann und Weib
müssen verschiednen Geschlechtern angehören. Die Verheiratung löst alle bis¬
herigen Verwandtschaftsbande der Frau; sie gehört fortan zur Familie des
Mannes und schuldet diesem unbedingten Gehorsam. Von Zeit zu Zeit werden
Versammlungen der Mitglieder eines Geschlechts abgehalten, in denen die
gemeinsamen Angelegenheiten zur Sprache kommen. Der Rat der Familien hat
die Macht, Mitglieder, die sich gegen die Gens vergingen, zu bestrafe". Alle
Mitglieder sind verpflichtet, sich gegenseitig zu unterstützen, und wo eine höhere
Organisation, ein "Bund" besteht, kann die ganze Gens für das Verbrechen
eines seiner Angehörigen verantwortlich gemacht werden. , , '

So beschaffen war die Gesellschaftsordnung der Jndianervvlker, gerade so
die der ältern Griechen und Römer, und genan so ist es noch heute die der
Chinesen. Im Lande der "Hundert Familien" gibt es im Innern ganze Ort¬
schaften, ja Landschaften, wo alle Bewohner ein und denselben Zunamen tragen.
Die Zahl der verschiednen Geschlechter beträgt heute etwa vierhundert. Als
eine Art Gedächtniskunst für die Naturkräfte, die in der Gentilorganisativn
wirksam sind, ist nun die Konfntsesche Morallehre anzusehen. Das zeigt besonders


Hemmungen des Fortschritts in «Lhtna

maßlose Bewunderung! ihnen erscheint sie als die beste, die es geben kann, sie
dünkt sie jedenfalls^der onropäischen iiberlegeu. Seit Voltane durch die Schriften
der zu Kcmghis Zeiten in China weilenden Jesuiten im „himmlischen Reiche"
den religious- oder- gpttloson Staat x»r exosllönos entdeckt M haben glaubte,
ist die chinesische Gesellschaftsordnung vou europäischen Kritikern immer aufs
neue in das glänzendste Licht gestellt worden, sodaß heute kaum noch mit der
Möglichkeit gerechnet wird, die Morallehre Konfutses könne jemals Westländischen
Tngendbegriffen weichen müssen, und dem Familienkultus könne seine staats¬
erhaltende Rolle genommen werden. Sogar M, von Brandt, der in Helmolts
Weltgeschichte der „weitverbreiteten Ansicht von der Unbeweglichkeit der chinesischen
Kultur" mit großer Entschiedenheit entgegentritt, meint doch auch, unbeweglich
seien gewissermaßen die Grundlagen der Familie und des Staates und damit
der Erziehung und Verwaltung.

Die Vorzüge, die an der chinesischen Gesellschaftsordnung gerühmt werden,
sind im allgemeinen genau dieselben, die Morgan an den ursprünglichen Ge¬
meinwesen aufweist, die bei den Völkern des europäischen Kulturkreises der
schriftlich überlieferten Geschichte vorausgingen. Die Chinesen blieben überhaupt
mit ihrer Kultur fast völlig in der Gentilorgcmisation stecken. Merkwürdig, daß
dies bisher fast gänzlich unbeachtet geblieben ist. Man fasse nur die Haupt¬
kennzeichen dieser gesellschaftlichen Einrichtung ins Auge. Sie beruht ans dem
Familien- und Stammesleben. Wo eine größere Anzahl Personen desselben
Familiennamens beisammen wohnt, wird ein Geschlecht, eine „Gens" gebildet,
das angesehenste Mitglied zum Oberhaupt gewählt. Auf ihn geht ein großer
Teil der väterlichen Gewalt über. Um der bei früh geschlossenen Eheu leicht
eintretenden Entartung der Geschlechter vorzubeugen, ergeht das Verbot, daß
niemand sich aus der eignen Gens eine Frau nehmen darf; Mann und Weib
müssen verschiednen Geschlechtern angehören. Die Verheiratung löst alle bis¬
herigen Verwandtschaftsbande der Frau; sie gehört fortan zur Familie des
Mannes und schuldet diesem unbedingten Gehorsam. Von Zeit zu Zeit werden
Versammlungen der Mitglieder eines Geschlechts abgehalten, in denen die
gemeinsamen Angelegenheiten zur Sprache kommen. Der Rat der Familien hat
die Macht, Mitglieder, die sich gegen die Gens vergingen, zu bestrafe». Alle
Mitglieder sind verpflichtet, sich gegenseitig zu unterstützen, und wo eine höhere
Organisation, ein „Bund" besteht, kann die ganze Gens für das Verbrechen
eines seiner Angehörigen verantwortlich gemacht werden. , , '

So beschaffen war die Gesellschaftsordnung der Jndianervvlker, gerade so
die der ältern Griechen und Römer, und genan so ist es noch heute die der
Chinesen. Im Lande der „Hundert Familien" gibt es im Innern ganze Ort¬
schaften, ja Landschaften, wo alle Bewohner ein und denselben Zunamen tragen.
Die Zahl der verschiednen Geschlechter beträgt heute etwa vierhundert. Als
eine Art Gedächtniskunst für die Naturkräfte, die in der Gentilorganisativn
wirksam sind, ist nun die Konfntsesche Morallehre anzusehen. Das zeigt besonders


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/10>, abgerufen am 06.02.2025.