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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Denifle, Pater Weiß und das evangelische Christentum

gesehen. Bei der Erwähnung dieses Umstcindes erfahren wir etwas Interessantes,
leider nur andeutungsweise, "Zum Teil öffnete mir erst nach seinem Tode die
Durchsicht seines Nachlasses die Augen, Welche Belege birgt die Fülle seiner
Briefschaften! Welche Mitteilungen, welche Äußerungen, welche Angriffe aus
der Feder von Männern, denen man Besseres zugetraut Hütte!" Wahrscheinlich
haben ihm angesehene Zentrumsführer geschrieben, daß die von ihm ein-
geschlagne Bahn heute nicht mehr gangbar sei, daß man sich mit den Prote¬
stanten vertragen, den ultramontanen Unfug aus Deutschland verbannen und
den fanatischen Papalisten das Handwerk legen müsse. Sollte meine Ver¬
mutung richtig sein, so würde ich darin ein erfreuliches Zeichen der Zeit sehen.
Das dritte, was Denifle reizte und erbitterte, war die Eigentümlichkeit der
protestantischen Polemik, Die Charakteristik dieser Polemik bei Weiß läuft der
Hauptsache nach auf das hinaus, was ich bei verschiednen Anlässen mit einem
geringern Aufwande von Gelehrsamkeit gesagt habe. Wenn von den prote¬
stantischen Theologen, deren Mehrzahl in den Fußstapfen David Straußens
wandelt, den Katholiken vorgeworfen wird, daß sie Christuni nicht genug ehrten,
den Katholiken, die alle Stuben, Plätze und Wege mit Kruzifixen -- ver¬
unzieren, wie es der moderne Mensch nennt -- und die ganze lange Fastenzeit
hindurch den leidenden Christus zum Mittelpunkt ihres Fühlens und Deiikens
machen; wenn der Protestantismus, dessen geistige Elite sich zum Atheismus
bekennt und den Begriff der Sünde abgetan hat, der römischen Kirche ein
Verbrechen daraus konstruiert, daß sie sich mit der attritio des Sünders be¬
gnügt und nicht die oontritio zur Bedingung der Lossprechung macht, die
oontritio, d. h, die Reue aus reiner und vollkommner Liebe zu Gott; wenn
der Protestantismus, dessen Wissenschaft keine andern als natürliche Kräfte zu¬
läßt, die katholische Kirche der Ketzerei des Semipelagianismus beschuldigt,
weil sie lehre, daß der Mensch, um der libernatürlichen Gnade teilhaft zu
werden, auch seine natürlichen Kräfte anstrengen müsse -- so muß das alles
auf einen Katholiken von Geschmack wie Brechpulver wirken nud einen
cholerischen toll machen. Die Protestanten werden nun freilich entgegnen:
Die Männer, die solche Vorwürfe erheben, und die Vertreter der negativen
Bibelkritik sowie die der atheistischen Wissenschaft gehören ja zwei ganz ver¬
schiednen Lagern an. Das ist richtig, aber eben darum ist der heutige Sprach¬
gebrauch, der Protestantismus und evangelisches Christentum durcheinander¬
wirft, falsch, und das heutige Parteiwesen, das beider Identität voraussetzt,
verwerflich. Wenn man unter Protestantismus die Religion Luthers und
Calvins und die evangelischen Kirchen versteht, dann gehören die Leute, die
den persönlichen Gott, die Gottheit Christi und das Leben nach dem Tode
leugnen, nicht hinein; zwischen sich und ihnen muß er eine reinliche Scheidelinie
ziehn. Versteht man dagegen unter Protestantismus alles, was nicht katholisch
ist, von Hengstenberg bis Haeckel und Hartmann, einschließlich der Dampf¬
maschine und aller andern Errungenschaften unsrer materiellen Kultur, von


Denifle, Pater Weiß und das evangelische Christentum

gesehen. Bei der Erwähnung dieses Umstcindes erfahren wir etwas Interessantes,
leider nur andeutungsweise, „Zum Teil öffnete mir erst nach seinem Tode die
Durchsicht seines Nachlasses die Augen, Welche Belege birgt die Fülle seiner
Briefschaften! Welche Mitteilungen, welche Äußerungen, welche Angriffe aus
der Feder von Männern, denen man Besseres zugetraut Hütte!" Wahrscheinlich
haben ihm angesehene Zentrumsführer geschrieben, daß die von ihm ein-
geschlagne Bahn heute nicht mehr gangbar sei, daß man sich mit den Prote¬
stanten vertragen, den ultramontanen Unfug aus Deutschland verbannen und
den fanatischen Papalisten das Handwerk legen müsse. Sollte meine Ver¬
mutung richtig sein, so würde ich darin ein erfreuliches Zeichen der Zeit sehen.
Das dritte, was Denifle reizte und erbitterte, war die Eigentümlichkeit der
protestantischen Polemik, Die Charakteristik dieser Polemik bei Weiß läuft der
Hauptsache nach auf das hinaus, was ich bei verschiednen Anlässen mit einem
geringern Aufwande von Gelehrsamkeit gesagt habe. Wenn von den prote¬
stantischen Theologen, deren Mehrzahl in den Fußstapfen David Straußens
wandelt, den Katholiken vorgeworfen wird, daß sie Christuni nicht genug ehrten,
den Katholiken, die alle Stuben, Plätze und Wege mit Kruzifixen — ver¬
unzieren, wie es der moderne Mensch nennt — und die ganze lange Fastenzeit
hindurch den leidenden Christus zum Mittelpunkt ihres Fühlens und Deiikens
machen; wenn der Protestantismus, dessen geistige Elite sich zum Atheismus
bekennt und den Begriff der Sünde abgetan hat, der römischen Kirche ein
Verbrechen daraus konstruiert, daß sie sich mit der attritio des Sünders be¬
gnügt und nicht die oontritio zur Bedingung der Lossprechung macht, die
oontritio, d. h, die Reue aus reiner und vollkommner Liebe zu Gott; wenn
der Protestantismus, dessen Wissenschaft keine andern als natürliche Kräfte zu¬
läßt, die katholische Kirche der Ketzerei des Semipelagianismus beschuldigt,
weil sie lehre, daß der Mensch, um der libernatürlichen Gnade teilhaft zu
werden, auch seine natürlichen Kräfte anstrengen müsse — so muß das alles
auf einen Katholiken von Geschmack wie Brechpulver wirken nud einen
cholerischen toll machen. Die Protestanten werden nun freilich entgegnen:
Die Männer, die solche Vorwürfe erheben, und die Vertreter der negativen
Bibelkritik sowie die der atheistischen Wissenschaft gehören ja zwei ganz ver¬
schiednen Lagern an. Das ist richtig, aber eben darum ist der heutige Sprach¬
gebrauch, der Protestantismus und evangelisches Christentum durcheinander¬
wirft, falsch, und das heutige Parteiwesen, das beider Identität voraussetzt,
verwerflich. Wenn man unter Protestantismus die Religion Luthers und
Calvins und die evangelischen Kirchen versteht, dann gehören die Leute, die
den persönlichen Gott, die Gottheit Christi und das Leben nach dem Tode
leugnen, nicht hinein; zwischen sich und ihnen muß er eine reinliche Scheidelinie
ziehn. Versteht man dagegen unter Protestantismus alles, was nicht katholisch
ist, von Hengstenberg bis Haeckel und Hartmann, einschließlich der Dampf¬
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[0098] Denifle, Pater Weiß und das evangelische Christentum gesehen. Bei der Erwähnung dieses Umstcindes erfahren wir etwas Interessantes, leider nur andeutungsweise, „Zum Teil öffnete mir erst nach seinem Tode die Durchsicht seines Nachlasses die Augen, Welche Belege birgt die Fülle seiner Briefschaften! Welche Mitteilungen, welche Äußerungen, welche Angriffe aus der Feder von Männern, denen man Besseres zugetraut Hütte!" Wahrscheinlich haben ihm angesehene Zentrumsführer geschrieben, daß die von ihm ein- geschlagne Bahn heute nicht mehr gangbar sei, daß man sich mit den Prote¬ stanten vertragen, den ultramontanen Unfug aus Deutschland verbannen und den fanatischen Papalisten das Handwerk legen müsse. Sollte meine Ver¬ mutung richtig sein, so würde ich darin ein erfreuliches Zeichen der Zeit sehen. Das dritte, was Denifle reizte und erbitterte, war die Eigentümlichkeit der protestantischen Polemik, Die Charakteristik dieser Polemik bei Weiß läuft der Hauptsache nach auf das hinaus, was ich bei verschiednen Anlässen mit einem geringern Aufwande von Gelehrsamkeit gesagt habe. Wenn von den prote¬ stantischen Theologen, deren Mehrzahl in den Fußstapfen David Straußens wandelt, den Katholiken vorgeworfen wird, daß sie Christuni nicht genug ehrten, den Katholiken, die alle Stuben, Plätze und Wege mit Kruzifixen — ver¬ unzieren, wie es der moderne Mensch nennt — und die ganze lange Fastenzeit hindurch den leidenden Christus zum Mittelpunkt ihres Fühlens und Deiikens machen; wenn der Protestantismus, dessen geistige Elite sich zum Atheismus bekennt und den Begriff der Sünde abgetan hat, der römischen Kirche ein Verbrechen daraus konstruiert, daß sie sich mit der attritio des Sünders be¬ gnügt und nicht die oontritio zur Bedingung der Lossprechung macht, die oontritio, d. h, die Reue aus reiner und vollkommner Liebe zu Gott; wenn der Protestantismus, dessen Wissenschaft keine andern als natürliche Kräfte zu¬ läßt, die katholische Kirche der Ketzerei des Semipelagianismus beschuldigt, weil sie lehre, daß der Mensch, um der libernatürlichen Gnade teilhaft zu werden, auch seine natürlichen Kräfte anstrengen müsse — so muß das alles auf einen Katholiken von Geschmack wie Brechpulver wirken nud einen cholerischen toll machen. Die Protestanten werden nun freilich entgegnen: Die Männer, die solche Vorwürfe erheben, und die Vertreter der negativen Bibelkritik sowie die der atheistischen Wissenschaft gehören ja zwei ganz ver¬ schiednen Lagern an. Das ist richtig, aber eben darum ist der heutige Sprach¬ gebrauch, der Protestantismus und evangelisches Christentum durcheinander¬ wirft, falsch, und das heutige Parteiwesen, das beider Identität voraussetzt, verwerflich. Wenn man unter Protestantismus die Religion Luthers und Calvins und die evangelischen Kirchen versteht, dann gehören die Leute, die den persönlichen Gott, die Gottheit Christi und das Leben nach dem Tode leugnen, nicht hinein; zwischen sich und ihnen muß er eine reinliche Scheidelinie ziehn. Versteht man dagegen unter Protestantismus alles, was nicht katholisch ist, von Hengstenberg bis Haeckel und Hartmann, einschließlich der Dampf¬ maschine und aller andern Errungenschaften unsrer materiellen Kultur, von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/98>, abgerufen am 24.07.2024.