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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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keineswegs. Aber wie steht es denn damit in den katholischen Ländern Öster¬
reich, Frankreich und Italien? Von Spanien, das beinahe außerhalb der euro¬
päischen Kulturentwicklung liegt, wollen wir nicht reden. Wenn wir die erklärten
Atheisten abrechnen, ferner die Wähler, die antiklerikale Abgeordnete in die
Parlamente schicken, ferner alle solche Heiden wie die neapolitanischen, die bei
großen Kalamitäten, bei einem Vesuvausbruch, unter der Führung ihrer Priester
heulend und Litaneien plärrend mit ihren Götzenbildern herumziehen, die
Rettungs- und Aufräumuugsarbeiten aber den dazu kommandierten Soldaten
überlassen -- wenn wir diese alle abrechnen, wieviel gläubige Katholiken bleiben
denn da in den katholischen Ländern? Französische Schriftsteller Pflegen die
Klarheit und Entschiedenheit der Romanen zu rühmen, die direkt vom christlichen
Aberglauben zum Positivismus und Atheismus fortgeschritten seien, während
die Germanen den Umweg über das evangelische Christentum eingeschlagen
hätten, auf dem sie sich ungebührlich lange aufhielten. Kein Zweifel: der religiöse
Nihilismus herrscht in den katholischen Ländern weit mehr als in den pro¬
testantischen. Und wie steht es denn mit den sittlichen Früchten des Glaubens?
Will man das Ergebnis eines Vergleichs in der für die Katholiken schonendsten
Weise ausdrücken, so muß man ihnen sagen: wir schreiben den negativen Über¬
schuß, den die Rechnung ergibt, nicht eurer Religion, sondern eurer romanischen
oder slawischen Nationalität aufs Konto. Rasse und Kulturhöhe bestimmen
Form und Grad der Sittlichkeit, die Religion oder Konfession übt auf die
Dauer gar keinen Einfluß. (Was meiner eignen Ansicht nicht völlig entspricht;
für eine erschöpfende Behandlung des Themas ist hier kein Raum.) Daraus
folgt dann, daß die Wirkung der Sakramente und Sakramentalien reine Ein¬
bildung und der Anspruch, den die römische Kirche erhebt, Verwalterin und
Ausspenderiu der helfenden und der heiligmachenden Gnade zu sein, eine un¬
erträgliche Anmaßung ist.*)

Weiß gibt zu, daß die Reformation auch Gutes gewirkt, namentlich die
katholische Kirche gezwungen hat, sich selbst einigermaßen zu reformieren. Aber,
meint er, dadurch sei Luther nicht entschuldigt. Der Zweck heilige nun einmal
nicht das Mittel. Sonst müßte man um der guten Wirkungen der Sünde
willen auch die Brüder Josephs und die Jakobiner der französischen Revolution
von aller Sündenschuld lossprechen. Ja, hat denn Luther etwas ähnliches
verbrochen, wie Jsaaks Söhne, die ihren Bruder verkauften, oder wie die blut¬
dürstigen Wüteriche der Terreur? Was hat er denn getan? Er ist dagegen
aufgetreten, daß ein liederlicher Erzbischof und ein pruukliebender Papst im
Bunde mit den Herren Fugger die abergläubische Einfalt des sächsischen Volkes



Wenn in einzelnen Fällen der Sakrmncntenempflmg bessert oder vor Verschlechterung
bewahrt, so geschieht das nicht opsrs oxsriüo, wie die römische Kirche behauptet, sondern
auf natürlichem psychologischem Wege durch die heilsamen Vorstellungen, die eine verständige
Seelsorge bei Gelegenheit der Andachtsübungen zu erwecken weiß. Die Kindertaufe, bei der
davon keine Rede sein kann, ist absolut unwirksam, wie täglich Millionen Fälle beweisen.

keineswegs. Aber wie steht es denn damit in den katholischen Ländern Öster¬
reich, Frankreich und Italien? Von Spanien, das beinahe außerhalb der euro¬
päischen Kulturentwicklung liegt, wollen wir nicht reden. Wenn wir die erklärten
Atheisten abrechnen, ferner die Wähler, die antiklerikale Abgeordnete in die
Parlamente schicken, ferner alle solche Heiden wie die neapolitanischen, die bei
großen Kalamitäten, bei einem Vesuvausbruch, unter der Führung ihrer Priester
heulend und Litaneien plärrend mit ihren Götzenbildern herumziehen, die
Rettungs- und Aufräumuugsarbeiten aber den dazu kommandierten Soldaten
überlassen — wenn wir diese alle abrechnen, wieviel gläubige Katholiken bleiben
denn da in den katholischen Ländern? Französische Schriftsteller Pflegen die
Klarheit und Entschiedenheit der Romanen zu rühmen, die direkt vom christlichen
Aberglauben zum Positivismus und Atheismus fortgeschritten seien, während
die Germanen den Umweg über das evangelische Christentum eingeschlagen
hätten, auf dem sie sich ungebührlich lange aufhielten. Kein Zweifel: der religiöse
Nihilismus herrscht in den katholischen Ländern weit mehr als in den pro¬
testantischen. Und wie steht es denn mit den sittlichen Früchten des Glaubens?
Will man das Ergebnis eines Vergleichs in der für die Katholiken schonendsten
Weise ausdrücken, so muß man ihnen sagen: wir schreiben den negativen Über¬
schuß, den die Rechnung ergibt, nicht eurer Religion, sondern eurer romanischen
oder slawischen Nationalität aufs Konto. Rasse und Kulturhöhe bestimmen
Form und Grad der Sittlichkeit, die Religion oder Konfession übt auf die
Dauer gar keinen Einfluß. (Was meiner eignen Ansicht nicht völlig entspricht;
für eine erschöpfende Behandlung des Themas ist hier kein Raum.) Daraus
folgt dann, daß die Wirkung der Sakramente und Sakramentalien reine Ein¬
bildung und der Anspruch, den die römische Kirche erhebt, Verwalterin und
Ausspenderiu der helfenden und der heiligmachenden Gnade zu sein, eine un¬
erträgliche Anmaßung ist.*)

Weiß gibt zu, daß die Reformation auch Gutes gewirkt, namentlich die
katholische Kirche gezwungen hat, sich selbst einigermaßen zu reformieren. Aber,
meint er, dadurch sei Luther nicht entschuldigt. Der Zweck heilige nun einmal
nicht das Mittel. Sonst müßte man um der guten Wirkungen der Sünde
willen auch die Brüder Josephs und die Jakobiner der französischen Revolution
von aller Sündenschuld lossprechen. Ja, hat denn Luther etwas ähnliches
verbrochen, wie Jsaaks Söhne, die ihren Bruder verkauften, oder wie die blut¬
dürstigen Wüteriche der Terreur? Was hat er denn getan? Er ist dagegen
aufgetreten, daß ein liederlicher Erzbischof und ein pruukliebender Papst im
Bunde mit den Herren Fugger die abergläubische Einfalt des sächsischen Volkes



Wenn in einzelnen Fällen der Sakrmncntenempflmg bessert oder vor Verschlechterung
bewahrt, so geschieht das nicht opsrs oxsriüo, wie die römische Kirche behauptet, sondern
auf natürlichem psychologischem Wege durch die heilsamen Vorstellungen, die eine verständige
Seelsorge bei Gelegenheit der Andachtsübungen zu erwecken weiß. Die Kindertaufe, bei der
davon keine Rede sein kann, ist absolut unwirksam, wie täglich Millionen Fälle beweisen.
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[0096] keineswegs. Aber wie steht es denn damit in den katholischen Ländern Öster¬ reich, Frankreich und Italien? Von Spanien, das beinahe außerhalb der euro¬ päischen Kulturentwicklung liegt, wollen wir nicht reden. Wenn wir die erklärten Atheisten abrechnen, ferner die Wähler, die antiklerikale Abgeordnete in die Parlamente schicken, ferner alle solche Heiden wie die neapolitanischen, die bei großen Kalamitäten, bei einem Vesuvausbruch, unter der Führung ihrer Priester heulend und Litaneien plärrend mit ihren Götzenbildern herumziehen, die Rettungs- und Aufräumuugsarbeiten aber den dazu kommandierten Soldaten überlassen — wenn wir diese alle abrechnen, wieviel gläubige Katholiken bleiben denn da in den katholischen Ländern? Französische Schriftsteller Pflegen die Klarheit und Entschiedenheit der Romanen zu rühmen, die direkt vom christlichen Aberglauben zum Positivismus und Atheismus fortgeschritten seien, während die Germanen den Umweg über das evangelische Christentum eingeschlagen hätten, auf dem sie sich ungebührlich lange aufhielten. Kein Zweifel: der religiöse Nihilismus herrscht in den katholischen Ländern weit mehr als in den pro¬ testantischen. Und wie steht es denn mit den sittlichen Früchten des Glaubens? Will man das Ergebnis eines Vergleichs in der für die Katholiken schonendsten Weise ausdrücken, so muß man ihnen sagen: wir schreiben den negativen Über¬ schuß, den die Rechnung ergibt, nicht eurer Religion, sondern eurer romanischen oder slawischen Nationalität aufs Konto. Rasse und Kulturhöhe bestimmen Form und Grad der Sittlichkeit, die Religion oder Konfession übt auf die Dauer gar keinen Einfluß. (Was meiner eignen Ansicht nicht völlig entspricht; für eine erschöpfende Behandlung des Themas ist hier kein Raum.) Daraus folgt dann, daß die Wirkung der Sakramente und Sakramentalien reine Ein¬ bildung und der Anspruch, den die römische Kirche erhebt, Verwalterin und Ausspenderiu der helfenden und der heiligmachenden Gnade zu sein, eine un¬ erträgliche Anmaßung ist.*) Weiß gibt zu, daß die Reformation auch Gutes gewirkt, namentlich die katholische Kirche gezwungen hat, sich selbst einigermaßen zu reformieren. Aber, meint er, dadurch sei Luther nicht entschuldigt. Der Zweck heilige nun einmal nicht das Mittel. Sonst müßte man um der guten Wirkungen der Sünde willen auch die Brüder Josephs und die Jakobiner der französischen Revolution von aller Sündenschuld lossprechen. Ja, hat denn Luther etwas ähnliches verbrochen, wie Jsaaks Söhne, die ihren Bruder verkauften, oder wie die blut¬ dürstigen Wüteriche der Terreur? Was hat er denn getan? Er ist dagegen aufgetreten, daß ein liederlicher Erzbischof und ein pruukliebender Papst im Bunde mit den Herren Fugger die abergläubische Einfalt des sächsischen Volkes Wenn in einzelnen Fällen der Sakrmncntenempflmg bessert oder vor Verschlechterung bewahrt, so geschieht das nicht opsrs oxsriüo, wie die römische Kirche behauptet, sondern auf natürlichem psychologischem Wege durch die heilsamen Vorstellungen, die eine verständige Seelsorge bei Gelegenheit der Andachtsübungen zu erwecken weiß. Die Kindertaufe, bei der davon keine Rede sein kann, ist absolut unwirksam, wie täglich Millionen Fälle beweisen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/96>, abgerufen am 24.07.2024.