Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches den Übermenschen, wollen nicht "Verächter des Leibes" sein und betätigen ihr Über¬ Maßgebliches und Unmaßgebliches den Übermenschen, wollen nicht „Verächter des Leibes" sein und betätigen ihr Über¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0072" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/301326"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_277" prev="#ID_276"> den Übermenschen, wollen nicht „Verächter des Leibes" sein und betätigen ihr Über¬<lb/> menschentum in einem faulen Genußleben. Auch ältere Leute lernen ihre Genialität<lb/> kennen und machen die herrschende Sklavenmoral dafür verantwortlich, daß sie nicht<lb/> durchgedrungen sind. Das Überweib will den Übermenschen gebären und freut sich,<lb/> wenn sie ihr Überkind hat, über dessen Entwicklung. „Es zeigt mit unverkennbarer<lb/> Energie den Willen zur Macht, die Bejahung des Lebens; es ist ein Herrenmensch,<lb/> eine Herrennatur, die gesündeste blonde Bestie, ein süßer kleiner Raubmensch, frei<lb/> von allen Herdeninstinkten und aller Sklavenmoral." Die Nietzschelektüre hat Zer¬<lb/> würfnisse zwischen Gatten zur Folge (ein Mann beruft sich zur Rechtfertigung der<lb/> körperlichen Mißhandlung seiner Frau auf Nietzsche), die zur Scheidung führen. Am<lb/> gefährlichsten ist Nietzsches Theorie des Verbrechens (die wir neulich in der Dar¬<lb/> stellung Seillieres den Lesern vorgeführt haben). Von einer der Schilderungen des<lb/> Verbrechers, die bei Nietzsche vorkommen, schreibt der Verfasser: „Die Stelle ist<lb/> charakteristisch für den ganzen Nietzsche. Ein Phantasiegebilde, das innerlich durchaus<lb/> unwahr ist, wird aufgestellt und verallgemeinert; daraus wird ein oberflächlicher<lb/> Schluß gezogen und mit dem Pathos des Propheten und Weisheitslehrers ver¬<lb/> kündet." In Notizen, in Tagebüchern oder sonstigen Papieren von Verbrechern,<lb/> wird dann weiter bemerkt, fänden sich nicht selten Betrachtungen, die mit der „Ethik"<lb/> Nietzsches auffallend übereinstimmen. Wenn ein Dieb auf den Umschlag eines Bündels<lb/> gestohlner Wertpapiere geschrieben habe: „Das Gewissen ist ein Wort, das erfunden<lb/> ist, Dumme zu erschrecken", so lese sich das wie ein Aphorismus Nietzsches; welche<lb/> völlige Verwirrung aller Grundbegriffe eines rechtlichen und anständigen Handelns<lb/> müßten solche Lehren in ungebildeten und halbgebildeter Lesern anrichten! Alles<lb/> das ist unanfechtbar und verdient die ernsteste Beachtung. Dagegen ist Referent<lb/> nicht einverstanden mit dem, was gegen Nietzsches Ansicht von der Unentbehrlichkeit<lb/> der Sklaverei (die ja nicht notwendigerweise Sklaverei nach dem römischen Recht<lb/> sein muß) gesagt wird. Die regelmäßigen Grenzbotenleser werden sich erinnern, daß<lb/> ich darin mit Nietzsche übereinstimme und in dem unlösbaren Widerspruch zwischen<lb/> der gesetzlichen Aufhebung und der tatsächlichen Aufrechterhaltung der praktisch nicht<lb/><note type="byline"> L. I- '</note> zu beseitigenden Abhängigkeitsverhältnisse den Kern der Arbeiterfrage sehe. </p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0072]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
den Übermenschen, wollen nicht „Verächter des Leibes" sein und betätigen ihr Über¬
menschentum in einem faulen Genußleben. Auch ältere Leute lernen ihre Genialität
kennen und machen die herrschende Sklavenmoral dafür verantwortlich, daß sie nicht
durchgedrungen sind. Das Überweib will den Übermenschen gebären und freut sich,
wenn sie ihr Überkind hat, über dessen Entwicklung. „Es zeigt mit unverkennbarer
Energie den Willen zur Macht, die Bejahung des Lebens; es ist ein Herrenmensch,
eine Herrennatur, die gesündeste blonde Bestie, ein süßer kleiner Raubmensch, frei
von allen Herdeninstinkten und aller Sklavenmoral." Die Nietzschelektüre hat Zer¬
würfnisse zwischen Gatten zur Folge (ein Mann beruft sich zur Rechtfertigung der
körperlichen Mißhandlung seiner Frau auf Nietzsche), die zur Scheidung führen. Am
gefährlichsten ist Nietzsches Theorie des Verbrechens (die wir neulich in der Dar¬
stellung Seillieres den Lesern vorgeführt haben). Von einer der Schilderungen des
Verbrechers, die bei Nietzsche vorkommen, schreibt der Verfasser: „Die Stelle ist
charakteristisch für den ganzen Nietzsche. Ein Phantasiegebilde, das innerlich durchaus
unwahr ist, wird aufgestellt und verallgemeinert; daraus wird ein oberflächlicher
Schluß gezogen und mit dem Pathos des Propheten und Weisheitslehrers ver¬
kündet." In Notizen, in Tagebüchern oder sonstigen Papieren von Verbrechern,
wird dann weiter bemerkt, fänden sich nicht selten Betrachtungen, die mit der „Ethik"
Nietzsches auffallend übereinstimmen. Wenn ein Dieb auf den Umschlag eines Bündels
gestohlner Wertpapiere geschrieben habe: „Das Gewissen ist ein Wort, das erfunden
ist, Dumme zu erschrecken", so lese sich das wie ein Aphorismus Nietzsches; welche
völlige Verwirrung aller Grundbegriffe eines rechtlichen und anständigen Handelns
müßten solche Lehren in ungebildeten und halbgebildeter Lesern anrichten! Alles
das ist unanfechtbar und verdient die ernsteste Beachtung. Dagegen ist Referent
nicht einverstanden mit dem, was gegen Nietzsches Ansicht von der Unentbehrlichkeit
der Sklaverei (die ja nicht notwendigerweise Sklaverei nach dem römischen Recht
sein muß) gesagt wird. Die regelmäßigen Grenzbotenleser werden sich erinnern, daß
ich darin mit Nietzsche übereinstimme und in dem unlösbaren Widerspruch zwischen
der gesetzlichen Aufhebung und der tatsächlichen Aufrechterhaltung der praktisch nicht
L. I- ' zu beseitigenden Abhängigkeitsverhältnisse den Kern der Arbeiterfrage sehe.
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