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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Aufforderung zum Kampf gegen die unechten Farben

liegt, so brauchen wir sie nur zwischen Daumen und Zeigefinger zu nehmen
und unter leichtem Druck die (trocknen) Finger hin und her zu bewegen. Das
Tierhaar wird dann immer in derselben Richtung wandern und schließlich heraus
fallen, während die Seidenfaser das nicht tut, sondern so ziemlich an einer
Stelle bleibt. Dies kommt daher, daß die Seidenfaser glatt ist wie ein Glasstab,
während die Haare von Mensch und Tier schuppenartig gewachsen sind. Diese
Schuppen verhindern das Haar am Gleiten in der Richtung nach der Wurzel,
deshalb wird es von den Fingern in dieser Richtung fortgeschoben. Diese Probe
muß aber mit einem einzelnen Haar gemacht werden, denn im Faden liegen die
Haare bald so, bald so. Daraus erklärt sich auch das Eingehen und Verfilzen
der Wolle. Die Fasern schrauben sich gewissermaßen aneinander fort, und dadurch
wird der Faden kürzer, besonders wenn das Bestreben der Haare sich zu kräuseln
dazukommt, das in der Hitze des Wahns- und Fürbebades besonders lebhaft wird.

Aus der Länge der einzelnen Fasern, die wir aus einem Faden Heraus¬
ziehen, können wir einen Schluß auf die Güte und Haltbarkeit einer Ware
ziehen, denn je länger die Fasern sind, desto stärker und dauerhafter wird im
allgemeinen auch der Stoff sein.

Die Widerstandskraft des Fadens können wir beurteilen, wenn wir ihn
mit kurzem Ruck zerreißen und die Bruchstellen betrachten. Sind diese scharf,
wie mit der Schere geschnitten, so haben wir ein brüchiges Material vor uns,
das entweder sehr kurzfaserig ist oder in der Behandlung gelitten hat. Unter
normalen Bedingungen sollen die Bruchstellen den Fadenenden ähnlich sein,
die wir vorhin durch Aufdrehen und Ziehen erhalten haben: die Fasern um¬
stehen in verschiedner Länge strahlenartig die Bruchstelle. Die Stärke des
Widerstandes, den der Faden unserm Versuch, ihn zu zerreißen, entgegensetzt,
ist auch an sich ein Maßstab für seine Güte.

Den Faden selbst können wir daraufhin prüfen, ob er einfach, doppelt
oder mehrfach ist. Ein einfacher Faden fällt von selbst auseinander, wenn wir
ihn anstreben und leicht ziehen, der doppelte wird sich beim Aufdrehen in zwei
Fäden teilen lassen. Es liegt auf der Hand, daß ein doppelter Faden mehr
aushält und ein festeres Stück gibt als ein einfacher.

Das Stück, an dessen Prüfung wir nun gehen, besteht aus Kette und
Schuß. Unter Kette versteht man die Gesamtheit der nach der Länge des Stoffs,
also in der Richtung der Kante, laufenden Fäden, während die querlaufender,
senkrecht auf der Kante stehenden Fäden den Schuß (Einschuß, Einschlag) bilden.
Man kann also schon an einem kleinen Müsterchen sehen, was Schuß und was
Kette ist, wenn die Kante mit vorhanden ist. Im allgemeinen wird für die
Kette ein stärkerer Faden benutzt als für deu Schuß, weil die Kette beim
Weben mehr Stoß und Reibung aushalten muß als der Schußfaden, der aus
dem Weberschiffchen herauskommt. Bei gemischten Geweben wird darum auch
meist die stärkere Faser für den Kettenfaden, die empfindlichere für den Schu߬
faden genommen.


Aufforderung zum Kampf gegen die unechten Farben

liegt, so brauchen wir sie nur zwischen Daumen und Zeigefinger zu nehmen
und unter leichtem Druck die (trocknen) Finger hin und her zu bewegen. Das
Tierhaar wird dann immer in derselben Richtung wandern und schließlich heraus
fallen, während die Seidenfaser das nicht tut, sondern so ziemlich an einer
Stelle bleibt. Dies kommt daher, daß die Seidenfaser glatt ist wie ein Glasstab,
während die Haare von Mensch und Tier schuppenartig gewachsen sind. Diese
Schuppen verhindern das Haar am Gleiten in der Richtung nach der Wurzel,
deshalb wird es von den Fingern in dieser Richtung fortgeschoben. Diese Probe
muß aber mit einem einzelnen Haar gemacht werden, denn im Faden liegen die
Haare bald so, bald so. Daraus erklärt sich auch das Eingehen und Verfilzen
der Wolle. Die Fasern schrauben sich gewissermaßen aneinander fort, und dadurch
wird der Faden kürzer, besonders wenn das Bestreben der Haare sich zu kräuseln
dazukommt, das in der Hitze des Wahns- und Fürbebades besonders lebhaft wird.

Aus der Länge der einzelnen Fasern, die wir aus einem Faden Heraus¬
ziehen, können wir einen Schluß auf die Güte und Haltbarkeit einer Ware
ziehen, denn je länger die Fasern sind, desto stärker und dauerhafter wird im
allgemeinen auch der Stoff sein.

Die Widerstandskraft des Fadens können wir beurteilen, wenn wir ihn
mit kurzem Ruck zerreißen und die Bruchstellen betrachten. Sind diese scharf,
wie mit der Schere geschnitten, so haben wir ein brüchiges Material vor uns,
das entweder sehr kurzfaserig ist oder in der Behandlung gelitten hat. Unter
normalen Bedingungen sollen die Bruchstellen den Fadenenden ähnlich sein,
die wir vorhin durch Aufdrehen und Ziehen erhalten haben: die Fasern um¬
stehen in verschiedner Länge strahlenartig die Bruchstelle. Die Stärke des
Widerstandes, den der Faden unserm Versuch, ihn zu zerreißen, entgegensetzt,
ist auch an sich ein Maßstab für seine Güte.

Den Faden selbst können wir daraufhin prüfen, ob er einfach, doppelt
oder mehrfach ist. Ein einfacher Faden fällt von selbst auseinander, wenn wir
ihn anstreben und leicht ziehen, der doppelte wird sich beim Aufdrehen in zwei
Fäden teilen lassen. Es liegt auf der Hand, daß ein doppelter Faden mehr
aushält und ein festeres Stück gibt als ein einfacher.

Das Stück, an dessen Prüfung wir nun gehen, besteht aus Kette und
Schuß. Unter Kette versteht man die Gesamtheit der nach der Länge des Stoffs,
also in der Richtung der Kante, laufenden Fäden, während die querlaufender,
senkrecht auf der Kante stehenden Fäden den Schuß (Einschuß, Einschlag) bilden.
Man kann also schon an einem kleinen Müsterchen sehen, was Schuß und was
Kette ist, wenn die Kante mit vorhanden ist. Im allgemeinen wird für die
Kette ein stärkerer Faden benutzt als für deu Schuß, weil die Kette beim
Weben mehr Stoß und Reibung aushalten muß als der Schußfaden, der aus
dem Weberschiffchen herauskommt. Bei gemischten Geweben wird darum auch
meist die stärkere Faser für den Kettenfaden, die empfindlichere für den Schu߬
faden genommen.


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[0575] Aufforderung zum Kampf gegen die unechten Farben liegt, so brauchen wir sie nur zwischen Daumen und Zeigefinger zu nehmen und unter leichtem Druck die (trocknen) Finger hin und her zu bewegen. Das Tierhaar wird dann immer in derselben Richtung wandern und schließlich heraus fallen, während die Seidenfaser das nicht tut, sondern so ziemlich an einer Stelle bleibt. Dies kommt daher, daß die Seidenfaser glatt ist wie ein Glasstab, während die Haare von Mensch und Tier schuppenartig gewachsen sind. Diese Schuppen verhindern das Haar am Gleiten in der Richtung nach der Wurzel, deshalb wird es von den Fingern in dieser Richtung fortgeschoben. Diese Probe muß aber mit einem einzelnen Haar gemacht werden, denn im Faden liegen die Haare bald so, bald so. Daraus erklärt sich auch das Eingehen und Verfilzen der Wolle. Die Fasern schrauben sich gewissermaßen aneinander fort, und dadurch wird der Faden kürzer, besonders wenn das Bestreben der Haare sich zu kräuseln dazukommt, das in der Hitze des Wahns- und Fürbebades besonders lebhaft wird. Aus der Länge der einzelnen Fasern, die wir aus einem Faden Heraus¬ ziehen, können wir einen Schluß auf die Güte und Haltbarkeit einer Ware ziehen, denn je länger die Fasern sind, desto stärker und dauerhafter wird im allgemeinen auch der Stoff sein. Die Widerstandskraft des Fadens können wir beurteilen, wenn wir ihn mit kurzem Ruck zerreißen und die Bruchstellen betrachten. Sind diese scharf, wie mit der Schere geschnitten, so haben wir ein brüchiges Material vor uns, das entweder sehr kurzfaserig ist oder in der Behandlung gelitten hat. Unter normalen Bedingungen sollen die Bruchstellen den Fadenenden ähnlich sein, die wir vorhin durch Aufdrehen und Ziehen erhalten haben: die Fasern um¬ stehen in verschiedner Länge strahlenartig die Bruchstelle. Die Stärke des Widerstandes, den der Faden unserm Versuch, ihn zu zerreißen, entgegensetzt, ist auch an sich ein Maßstab für seine Güte. Den Faden selbst können wir daraufhin prüfen, ob er einfach, doppelt oder mehrfach ist. Ein einfacher Faden fällt von selbst auseinander, wenn wir ihn anstreben und leicht ziehen, der doppelte wird sich beim Aufdrehen in zwei Fäden teilen lassen. Es liegt auf der Hand, daß ein doppelter Faden mehr aushält und ein festeres Stück gibt als ein einfacher. Das Stück, an dessen Prüfung wir nun gehen, besteht aus Kette und Schuß. Unter Kette versteht man die Gesamtheit der nach der Länge des Stoffs, also in der Richtung der Kante, laufenden Fäden, während die querlaufender, senkrecht auf der Kante stehenden Fäden den Schuß (Einschuß, Einschlag) bilden. Man kann also schon an einem kleinen Müsterchen sehen, was Schuß und was Kette ist, wenn die Kante mit vorhanden ist. Im allgemeinen wird für die Kette ein stärkerer Faden benutzt als für deu Schuß, weil die Kette beim Weben mehr Stoß und Reibung aushalten muß als der Schußfaden, der aus dem Weberschiffchen herauskommt. Bei gemischten Geweben wird darum auch meist die stärkere Faser für den Kettenfaden, die empfindlichere für den Schu߬ faden genommen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/575>, abgerufen am 24.07.2024.