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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Russische Briefe

Provinzialverwaltung, ohne durch die Konkurrenz der freisinnigen Juden be¬
hindert zu sein.

Die Angelegenheit ist schon früher erwogen worden und sollte derart ent¬
schieden werden, daß das Gouvernement mit titanischer Bevölkerung: Ssuwalki,
ferner Teile von Lomsha, Sjedletz und Ljublin vom Zartum abgetrennt und
gemeinsam mit benachbarten russischen Gouvernements in neue Verwaltungs¬
einheiten umgewandelt werden sollten. Der Rest des Zartums sollte unter Gleich¬
stellung aller seiner Bewohner, also auch der Juden, eigne Selbstverwaltungs¬
körper erhalten. Dann mußte die Frage vor der Flut der Ereignisse ruhen.
Erst Ende 1906 hat sich die Negierung in Se. Petersburg wieder mit den
Polen beschäftigt, nämlich nachdem diese ihre in der ersten Duma vorgetragnen
Forderungen nach einer Autonomie Polens fallen gelassen hatten. In der Tat
sehen die Forderungen der Polen heute recht bescheiden ans, sind es aber tat¬
sächlich nicht, weil sie darauf hinzielen, den Einfluß des Adels und der Geist¬
lichkeit in dem Umfange wiederherzustellen, wie er vor 1864 bestand. Die
Negierung hat die Frage bis zur nächsten Duma vertagt, läßt aber die polnische
Gesellschaft im Zartum selbst nach freiem Ermessen wirken. In Warschau
und Lodz und wohl auch an andern Orten des Zartums verhält sich die Re¬
gierung vollständig passiv. Sie greift immer nur als Rächer ein. Gewiß wird
die Sicherheit auf den Straßen durch Militär aufrecht erhalten, wird auch das
Eigentum des Besitzenden geschützt. Aber was die revolutionären Gruppen
treiben, ob sie einander Schlachten schlagen, ob sie konspirieren, scheint die Be¬
hörden nichts anzugehn. Ebenso ist es mit der Literatur. In Warschau ist
ein in Petersburg verbotnes Buch über die Revolution in allen Buchläden
ausgestellt -- womit ich nicht etwa der Zensur das Wort reden, sondern sagen
will, daß keine Einheitlichkeit im Vorgehn gegen die Revolution vorhanden ist.
Ich bin überzeugt, daß bei den der Negierung zur Verfügung stehenden Mitteln
der Anarchie in Polen in zwei Wochen ein Ende gesetzt werden könnte, wenn
sich die Negierung nicht auf die Verteidigung beschränken wollte. Ich gehe
sogar noch weiter: wollte sich die Regierung nur offen auf die Seite der Arbeits¬
willigen stellen, dann würde sie mit geringerm Blutvergießen augenblicklich die
Ordnung wiederherstellen, als wie es gegenwärtig geschieht. Welche Gründe
den Generalgouvemeur veranlassen, den Zuschauer zu spielen statt die Arbeits¬
willigen zu schützen, ist mir unbekannt geblieben. Will er einen Zusammenbruch
der Sozialisten verhindern, um die Organisation später gegen den polnischen
Nationalismus ausnutzen zu können? Er ginge alsdann wahrlich von falschen
Voraussetzungen aus, denn die Ziele der Nationalisten und der polnischen Sozial¬
demokraten sind, wie gezeigt wurde, noch lange Zeit die gleichen: autonomes
Sprachgebiet, Selbstverwaltung, polnischer Staat.

Während die allgemeine Frage bis zum Zusammentritt der Duma ruht,
trachten die Nationaldemokraten mit Hilfe der Geistlichkeit die einzelnen Schichten
der Gesellschaft mit polnischer Bildung zu durchtränken und sie wirtschaftlich
zu organisieren. Diese Tätigkeit macht nun aber nicht Halt an den Grenzen


Russische Briefe

Provinzialverwaltung, ohne durch die Konkurrenz der freisinnigen Juden be¬
hindert zu sein.

Die Angelegenheit ist schon früher erwogen worden und sollte derart ent¬
schieden werden, daß das Gouvernement mit titanischer Bevölkerung: Ssuwalki,
ferner Teile von Lomsha, Sjedletz und Ljublin vom Zartum abgetrennt und
gemeinsam mit benachbarten russischen Gouvernements in neue Verwaltungs¬
einheiten umgewandelt werden sollten. Der Rest des Zartums sollte unter Gleich¬
stellung aller seiner Bewohner, also auch der Juden, eigne Selbstverwaltungs¬
körper erhalten. Dann mußte die Frage vor der Flut der Ereignisse ruhen.
Erst Ende 1906 hat sich die Negierung in Se. Petersburg wieder mit den
Polen beschäftigt, nämlich nachdem diese ihre in der ersten Duma vorgetragnen
Forderungen nach einer Autonomie Polens fallen gelassen hatten. In der Tat
sehen die Forderungen der Polen heute recht bescheiden ans, sind es aber tat¬
sächlich nicht, weil sie darauf hinzielen, den Einfluß des Adels und der Geist¬
lichkeit in dem Umfange wiederherzustellen, wie er vor 1864 bestand. Die
Negierung hat die Frage bis zur nächsten Duma vertagt, läßt aber die polnische
Gesellschaft im Zartum selbst nach freiem Ermessen wirken. In Warschau
und Lodz und wohl auch an andern Orten des Zartums verhält sich die Re¬
gierung vollständig passiv. Sie greift immer nur als Rächer ein. Gewiß wird
die Sicherheit auf den Straßen durch Militär aufrecht erhalten, wird auch das
Eigentum des Besitzenden geschützt. Aber was die revolutionären Gruppen
treiben, ob sie einander Schlachten schlagen, ob sie konspirieren, scheint die Be¬
hörden nichts anzugehn. Ebenso ist es mit der Literatur. In Warschau ist
ein in Petersburg verbotnes Buch über die Revolution in allen Buchläden
ausgestellt — womit ich nicht etwa der Zensur das Wort reden, sondern sagen
will, daß keine Einheitlichkeit im Vorgehn gegen die Revolution vorhanden ist.
Ich bin überzeugt, daß bei den der Negierung zur Verfügung stehenden Mitteln
der Anarchie in Polen in zwei Wochen ein Ende gesetzt werden könnte, wenn
sich die Negierung nicht auf die Verteidigung beschränken wollte. Ich gehe
sogar noch weiter: wollte sich die Regierung nur offen auf die Seite der Arbeits¬
willigen stellen, dann würde sie mit geringerm Blutvergießen augenblicklich die
Ordnung wiederherstellen, als wie es gegenwärtig geschieht. Welche Gründe
den Generalgouvemeur veranlassen, den Zuschauer zu spielen statt die Arbeits¬
willigen zu schützen, ist mir unbekannt geblieben. Will er einen Zusammenbruch
der Sozialisten verhindern, um die Organisation später gegen den polnischen
Nationalismus ausnutzen zu können? Er ginge alsdann wahrlich von falschen
Voraussetzungen aus, denn die Ziele der Nationalisten und der polnischen Sozial¬
demokraten sind, wie gezeigt wurde, noch lange Zeit die gleichen: autonomes
Sprachgebiet, Selbstverwaltung, polnischer Staat.

Während die allgemeine Frage bis zum Zusammentritt der Duma ruht,
trachten die Nationaldemokraten mit Hilfe der Geistlichkeit die einzelnen Schichten
der Gesellschaft mit polnischer Bildung zu durchtränken und sie wirtschaftlich
zu organisieren. Diese Tätigkeit macht nun aber nicht Halt an den Grenzen


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[0559] Russische Briefe Provinzialverwaltung, ohne durch die Konkurrenz der freisinnigen Juden be¬ hindert zu sein. Die Angelegenheit ist schon früher erwogen worden und sollte derart ent¬ schieden werden, daß das Gouvernement mit titanischer Bevölkerung: Ssuwalki, ferner Teile von Lomsha, Sjedletz und Ljublin vom Zartum abgetrennt und gemeinsam mit benachbarten russischen Gouvernements in neue Verwaltungs¬ einheiten umgewandelt werden sollten. Der Rest des Zartums sollte unter Gleich¬ stellung aller seiner Bewohner, also auch der Juden, eigne Selbstverwaltungs¬ körper erhalten. Dann mußte die Frage vor der Flut der Ereignisse ruhen. Erst Ende 1906 hat sich die Negierung in Se. Petersburg wieder mit den Polen beschäftigt, nämlich nachdem diese ihre in der ersten Duma vorgetragnen Forderungen nach einer Autonomie Polens fallen gelassen hatten. In der Tat sehen die Forderungen der Polen heute recht bescheiden ans, sind es aber tat¬ sächlich nicht, weil sie darauf hinzielen, den Einfluß des Adels und der Geist¬ lichkeit in dem Umfange wiederherzustellen, wie er vor 1864 bestand. Die Negierung hat die Frage bis zur nächsten Duma vertagt, läßt aber die polnische Gesellschaft im Zartum selbst nach freiem Ermessen wirken. In Warschau und Lodz und wohl auch an andern Orten des Zartums verhält sich die Re¬ gierung vollständig passiv. Sie greift immer nur als Rächer ein. Gewiß wird die Sicherheit auf den Straßen durch Militär aufrecht erhalten, wird auch das Eigentum des Besitzenden geschützt. Aber was die revolutionären Gruppen treiben, ob sie einander Schlachten schlagen, ob sie konspirieren, scheint die Be¬ hörden nichts anzugehn. Ebenso ist es mit der Literatur. In Warschau ist ein in Petersburg verbotnes Buch über die Revolution in allen Buchläden ausgestellt — womit ich nicht etwa der Zensur das Wort reden, sondern sagen will, daß keine Einheitlichkeit im Vorgehn gegen die Revolution vorhanden ist. Ich bin überzeugt, daß bei den der Negierung zur Verfügung stehenden Mitteln der Anarchie in Polen in zwei Wochen ein Ende gesetzt werden könnte, wenn sich die Negierung nicht auf die Verteidigung beschränken wollte. Ich gehe sogar noch weiter: wollte sich die Regierung nur offen auf die Seite der Arbeits¬ willigen stellen, dann würde sie mit geringerm Blutvergießen augenblicklich die Ordnung wiederherstellen, als wie es gegenwärtig geschieht. Welche Gründe den Generalgouvemeur veranlassen, den Zuschauer zu spielen statt die Arbeits¬ willigen zu schützen, ist mir unbekannt geblieben. Will er einen Zusammenbruch der Sozialisten verhindern, um die Organisation später gegen den polnischen Nationalismus ausnutzen zu können? Er ginge alsdann wahrlich von falschen Voraussetzungen aus, denn die Ziele der Nationalisten und der polnischen Sozial¬ demokraten sind, wie gezeigt wurde, noch lange Zeit die gleichen: autonomes Sprachgebiet, Selbstverwaltung, polnischer Staat. Während die allgemeine Frage bis zum Zusammentritt der Duma ruht, trachten die Nationaldemokraten mit Hilfe der Geistlichkeit die einzelnen Schichten der Gesellschaft mit polnischer Bildung zu durchtränken und sie wirtschaftlich zu organisieren. Diese Tätigkeit macht nun aber nicht Halt an den Grenzen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/559>, abgerufen am 24.07.2024.