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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Das "neue Ästerreich"

Möglichkeit bieten würde, die Deutschen formell zu erdrosseln, aber da die
deutschen Fraktionen in diesem Punkte durchaus nicht vollständig übereinstimmen,
würde der Versuch, im neuen Hause eine neue, gegen die Möglichkeit der Ob¬
struktion gerichtete Geschäftsordnung zu beschließen, die Kluft nur noch ver¬
tiefen, die sich im deutscheu Lager schon wieder zu öffnen beginnt.

Die Beseitigung der Schranken, die das Kurier- oder Klassenwahlsystem
bisher der Sozialdemokratie entgegengesetzt hat, hätte den deutschen Parteien
und ihren Führern vernünftigerweise den Gedanken nahelegen müssen, alle
deutsch-bürgerliche": Parteien zu einer taktischen Einheit zusammenzufassen, was
bei der außerordentlichen Vermehrung der slawischen Abgeordnetenmandate durch
die Wahlreform auch vom deutschnationalen Standpunkt aus betrachtet außer¬
ordentlich wünschenswert wäre. Auf tschechischer Seite wird der Gedanke der
nationalen Einigung von den tschechischen Ministern auch auf das wärmste ver¬
treten, auf deutscher Seite arbeitet man jedoch mit einem einer bessern Sache
würdigen Eifer an der Wiederaufreißung der Kluft, die durch drei Jahrzehnte
lang die Deutschen Österreichs in zwei feindliche Lager gespalten und sich erst
in den letzten Jahren bis zu einem gewissen Grade geschlossen hatte. Die
Dinge liegen in dieser Beziehung heute in Österreich ähnlich wie im Deutschen
Reiche. Die demokratische Flutwelle, die sich vom Osten her über Europa
ergossen hat, hat bei den Deutschen in Österreich das nationale Empfinden
wesentlich geschwächt, und so mußte der demokratische Zug der Wahlreform bei
Freisinnigen und Klerikalen den Wunsch nach einer Parteiherrschaft verstärken.
In dem gegenwärtigen österreichischen Kabinett sitzen drei deutsche Partei¬
minister, von denen der eine der Fortschrittspartei, die beiden andern der
nationalliberalen deutschen Volkspartei angehören. Schon vor Monaten tauchte
nun in der liberalen Presse der Plan ans, sämtliche liberalen deutschen Fraktionen
zu einem "deutschfreiheitlicheu Block" zusammenzufassen. Da nun die deutsche
Volkspartei bei den bevorstehende" Wahlen bedeutende Verluste erleiden wird,
von der Fortschrittspartei ganz zu schweigen, beide Parteien also nach den
Wahlen nicht mehr imstande wären, drei Minister zu tragen, ist es menschlich
ganz erklärlich, daß bei den gegenwärtigen deutschen Parteiministern der Ge¬
danke, einen "deutschfreiheitlichen Block" z" schaffen, auf fruchtbaren Boden siel,
da eine Vereinigung der deutschen Volkspartei, der Reste der Fortschrittler, der
freialldeutschen und der liberalen Agrarier ihnen die Möglichkeit bieten könnte,
auch nach den Neuwahlen als Vertrauensmänner einer großen parlamentarischen
Gruppe im Amte zu bleiben. Ebenso kurzsichtig und das allgemeine nationale
Interesse ganz außer acht lassend, rechnet man aber auch auf der Gegenseite.

Dort hatte die christlichsoziale Partei die Wahlreform aufs eifrigste ge¬
fördert, und zwar zielte die von dieser Seite aus befolgte Politik von vornherein
auf die Bildung einer starken Zentrumspartei. Der Herkunft und dem Pro¬
gramm der Partei entsprach diese Politik allerdings nicht. Bis auf die christ¬
lichen Arbeiterorganisationen widerstrebte sowohl die gesamte christlichsoziale


Grenzboten I 1907 6i>
Das „neue Ästerreich"

Möglichkeit bieten würde, die Deutschen formell zu erdrosseln, aber da die
deutschen Fraktionen in diesem Punkte durchaus nicht vollständig übereinstimmen,
würde der Versuch, im neuen Hause eine neue, gegen die Möglichkeit der Ob¬
struktion gerichtete Geschäftsordnung zu beschließen, die Kluft nur noch ver¬
tiefen, die sich im deutscheu Lager schon wieder zu öffnen beginnt.

Die Beseitigung der Schranken, die das Kurier- oder Klassenwahlsystem
bisher der Sozialdemokratie entgegengesetzt hat, hätte den deutschen Parteien
und ihren Führern vernünftigerweise den Gedanken nahelegen müssen, alle
deutsch-bürgerliche«: Parteien zu einer taktischen Einheit zusammenzufassen, was
bei der außerordentlichen Vermehrung der slawischen Abgeordnetenmandate durch
die Wahlreform auch vom deutschnationalen Standpunkt aus betrachtet außer¬
ordentlich wünschenswert wäre. Auf tschechischer Seite wird der Gedanke der
nationalen Einigung von den tschechischen Ministern auch auf das wärmste ver¬
treten, auf deutscher Seite arbeitet man jedoch mit einem einer bessern Sache
würdigen Eifer an der Wiederaufreißung der Kluft, die durch drei Jahrzehnte
lang die Deutschen Österreichs in zwei feindliche Lager gespalten und sich erst
in den letzten Jahren bis zu einem gewissen Grade geschlossen hatte. Die
Dinge liegen in dieser Beziehung heute in Österreich ähnlich wie im Deutschen
Reiche. Die demokratische Flutwelle, die sich vom Osten her über Europa
ergossen hat, hat bei den Deutschen in Österreich das nationale Empfinden
wesentlich geschwächt, und so mußte der demokratische Zug der Wahlreform bei
Freisinnigen und Klerikalen den Wunsch nach einer Parteiherrschaft verstärken.
In dem gegenwärtigen österreichischen Kabinett sitzen drei deutsche Partei¬
minister, von denen der eine der Fortschrittspartei, die beiden andern der
nationalliberalen deutschen Volkspartei angehören. Schon vor Monaten tauchte
nun in der liberalen Presse der Plan ans, sämtliche liberalen deutschen Fraktionen
zu einem „deutschfreiheitlicheu Block" zusammenzufassen. Da nun die deutsche
Volkspartei bei den bevorstehende» Wahlen bedeutende Verluste erleiden wird,
von der Fortschrittspartei ganz zu schweigen, beide Parteien also nach den
Wahlen nicht mehr imstande wären, drei Minister zu tragen, ist es menschlich
ganz erklärlich, daß bei den gegenwärtigen deutschen Parteiministern der Ge¬
danke, einen „deutschfreiheitlichen Block" z» schaffen, auf fruchtbaren Boden siel,
da eine Vereinigung der deutschen Volkspartei, der Reste der Fortschrittler, der
freialldeutschen und der liberalen Agrarier ihnen die Möglichkeit bieten könnte,
auch nach den Neuwahlen als Vertrauensmänner einer großen parlamentarischen
Gruppe im Amte zu bleiben. Ebenso kurzsichtig und das allgemeine nationale
Interesse ganz außer acht lassend, rechnet man aber auch auf der Gegenseite.

Dort hatte die christlichsoziale Partei die Wahlreform aufs eifrigste ge¬
fördert, und zwar zielte die von dieser Seite aus befolgte Politik von vornherein
auf die Bildung einer starken Zentrumspartei. Der Herkunft und dem Pro¬
gramm der Partei entsprach diese Politik allerdings nicht. Bis auf die christ¬
lichen Arbeiterorganisationen widerstrebte sowohl die gesamte christlichsoziale


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[0513] Das „neue Ästerreich" Möglichkeit bieten würde, die Deutschen formell zu erdrosseln, aber da die deutschen Fraktionen in diesem Punkte durchaus nicht vollständig übereinstimmen, würde der Versuch, im neuen Hause eine neue, gegen die Möglichkeit der Ob¬ struktion gerichtete Geschäftsordnung zu beschließen, die Kluft nur noch ver¬ tiefen, die sich im deutscheu Lager schon wieder zu öffnen beginnt. Die Beseitigung der Schranken, die das Kurier- oder Klassenwahlsystem bisher der Sozialdemokratie entgegengesetzt hat, hätte den deutschen Parteien und ihren Führern vernünftigerweise den Gedanken nahelegen müssen, alle deutsch-bürgerliche«: Parteien zu einer taktischen Einheit zusammenzufassen, was bei der außerordentlichen Vermehrung der slawischen Abgeordnetenmandate durch die Wahlreform auch vom deutschnationalen Standpunkt aus betrachtet außer¬ ordentlich wünschenswert wäre. Auf tschechischer Seite wird der Gedanke der nationalen Einigung von den tschechischen Ministern auch auf das wärmste ver¬ treten, auf deutscher Seite arbeitet man jedoch mit einem einer bessern Sache würdigen Eifer an der Wiederaufreißung der Kluft, die durch drei Jahrzehnte lang die Deutschen Österreichs in zwei feindliche Lager gespalten und sich erst in den letzten Jahren bis zu einem gewissen Grade geschlossen hatte. Die Dinge liegen in dieser Beziehung heute in Österreich ähnlich wie im Deutschen Reiche. Die demokratische Flutwelle, die sich vom Osten her über Europa ergossen hat, hat bei den Deutschen in Österreich das nationale Empfinden wesentlich geschwächt, und so mußte der demokratische Zug der Wahlreform bei Freisinnigen und Klerikalen den Wunsch nach einer Parteiherrschaft verstärken. In dem gegenwärtigen österreichischen Kabinett sitzen drei deutsche Partei¬ minister, von denen der eine der Fortschrittspartei, die beiden andern der nationalliberalen deutschen Volkspartei angehören. Schon vor Monaten tauchte nun in der liberalen Presse der Plan ans, sämtliche liberalen deutschen Fraktionen zu einem „deutschfreiheitlicheu Block" zusammenzufassen. Da nun die deutsche Volkspartei bei den bevorstehende» Wahlen bedeutende Verluste erleiden wird, von der Fortschrittspartei ganz zu schweigen, beide Parteien also nach den Wahlen nicht mehr imstande wären, drei Minister zu tragen, ist es menschlich ganz erklärlich, daß bei den gegenwärtigen deutschen Parteiministern der Ge¬ danke, einen „deutschfreiheitlichen Block" z» schaffen, auf fruchtbaren Boden siel, da eine Vereinigung der deutschen Volkspartei, der Reste der Fortschrittler, der freialldeutschen und der liberalen Agrarier ihnen die Möglichkeit bieten könnte, auch nach den Neuwahlen als Vertrauensmänner einer großen parlamentarischen Gruppe im Amte zu bleiben. Ebenso kurzsichtig und das allgemeine nationale Interesse ganz außer acht lassend, rechnet man aber auch auf der Gegenseite. Dort hatte die christlichsoziale Partei die Wahlreform aufs eifrigste ge¬ fördert, und zwar zielte die von dieser Seite aus befolgte Politik von vornherein auf die Bildung einer starken Zentrumspartei. Der Herkunft und dem Pro¬ gramm der Partei entsprach diese Politik allerdings nicht. Bis auf die christ¬ lichen Arbeiterorganisationen widerstrebte sowohl die gesamte christlichsoziale Grenzboten I 1907 6i>

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/513>, abgerufen am 24.07.2024.