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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Luftreisen

mehr und mehr heraus, sodaß Hülle und Korb dampfen. Wir steigen langsam,
aber gleichmäßig höher. Der Blick schweift weit vorwärts in der Richtung nach
Prag über ein wohlangebautes, kurzwelliges, waldarmes Hügelland mit flachen,
aber scharf eingeschnittnen Tälern, vielen Straßen- und Haufendörfern, auch
einigen größern Orten, jedoch ohne irgendwelche besondern Eigentümlichkeiten.
Nur eine vereinzelte Waldparzelle fällt uns durch ihre seltsame Form auf: eine
schwimmende Frauengestalt mit vorgestreckten Armen und einem Fischleib, eine
Melusine.

Wie wir so Ausschau halten, erspähen wir zu unsrer nicht geringen Freude
etwa 15 Kilometer vor uns einen Ballon, also richtig ein Wiedersehen in den
Lüften! Unsre Vermutung, daß es wieder der "Helios" sei, bestätigte sich später.
Der südwestlichste Punkt, den er erreichte, war Neu-Bidschow in Böhmen. Nun
wiederholte sich, was wir während der Nacht im Gebirgskessel erlebt hatten, wir
bewegten uns mehrere Stunden langsam im Kreise um einen Punkt. Diesmal
aber aus einem andern Grunde: wir hatten uns dem Nordrande eines Luftdruck-
maximums genähert und wurden vor ihm wie vor einer Mauer aufgehalten.
Erst in 3000 Meter.Höhe erfaßte uns wieder eine Luftströmung, doch trug sie
uns, vom Hochdruckgebiet einem Tief zustrebend, beinahe genau nach derselben
Richtung, aus der wir gekommen waren, nach Nordosten wieder zurück.

Der Himmel über uns ist völlig frei, dagegen ziehen sich 2000 Meter unter
uns Wolkenmassen zusammen, das "böhmisch-schlesische Wolkenmeer", von dem
der Luftschiffer so oft zu berichten hat, über dem auch ich schon einmal drei
Stunden zugebracht habe. Zwar ist es dicht geschlossen und erstreckt sich bald
nach allen Seiten bis an den Horizont, sodaß uns jede andre Aussicht benommen
wird, aber es ist nicht eintönig, sondern zeigt die mannigfachsten Formen: Tal-
eiuschnitte, größere unregelmäßige Vertiefungen, die in ihrer Gestalt an die
märkischen Seen erinnern, darüber sich anstürmende Gebirge, riesige Gletscher¬
tische mit abgeplatteter Oberfläche, aus bizarren Wolkenlagerungen ragen turm¬
artige Gebilde hervor, nach einer andern Seite reiht sich Welle an Welle, wie
zu einer Eismasse erstarrt.

Während ich meine Aufzeichnungen hierüber mache, fühle ich mich plötzlich
gehalten, ich war im Stehen eingeschlafen und meinem Reisegeführten in die
Arme gesunken, der diese Wirkung der sauerstosfärmern Luft auf seinen Hoch¬
fahrten an sich und andern oft wahrgenommen hatte. Auf 4000 Meter sind
wir gestiegen, und das Aspirationspsychrometer zeigt 1 Grad Celsius unter Null
an, doch lassen die glühenden Sonnenstrahlen uns dies nicht empfinden, nur an
die Füße ist es kalt, da fehlt infolge unsrer Ballastnot der Verpackungsplan, der
sonst den Boden des Korbes bedeckt. Gleichwohl verspüren wir nach den An¬
strengungen der durchwachten Nacht das Bedürfnis, eine Weile zu ruhen. So
lösen wir das Barometer von den Korbleinen, nehmen es in die Hand und
beobachten am Boden sitzend, jede andre Sitzgelegenheit hatten wir ja über Bord
werfen müssen. Ein Schlummer von wenig Minuten, dem wir uns abwechselnd


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mehr und mehr heraus, sodaß Hülle und Korb dampfen. Wir steigen langsam,
aber gleichmäßig höher. Der Blick schweift weit vorwärts in der Richtung nach
Prag über ein wohlangebautes, kurzwelliges, waldarmes Hügelland mit flachen,
aber scharf eingeschnittnen Tälern, vielen Straßen- und Haufendörfern, auch
einigen größern Orten, jedoch ohne irgendwelche besondern Eigentümlichkeiten.
Nur eine vereinzelte Waldparzelle fällt uns durch ihre seltsame Form auf: eine
schwimmende Frauengestalt mit vorgestreckten Armen und einem Fischleib, eine
Melusine.

Wie wir so Ausschau halten, erspähen wir zu unsrer nicht geringen Freude
etwa 15 Kilometer vor uns einen Ballon, also richtig ein Wiedersehen in den
Lüften! Unsre Vermutung, daß es wieder der „Helios" sei, bestätigte sich später.
Der südwestlichste Punkt, den er erreichte, war Neu-Bidschow in Böhmen. Nun
wiederholte sich, was wir während der Nacht im Gebirgskessel erlebt hatten, wir
bewegten uns mehrere Stunden langsam im Kreise um einen Punkt. Diesmal
aber aus einem andern Grunde: wir hatten uns dem Nordrande eines Luftdruck-
maximums genähert und wurden vor ihm wie vor einer Mauer aufgehalten.
Erst in 3000 Meter.Höhe erfaßte uns wieder eine Luftströmung, doch trug sie
uns, vom Hochdruckgebiet einem Tief zustrebend, beinahe genau nach derselben
Richtung, aus der wir gekommen waren, nach Nordosten wieder zurück.

Der Himmel über uns ist völlig frei, dagegen ziehen sich 2000 Meter unter
uns Wolkenmassen zusammen, das „böhmisch-schlesische Wolkenmeer", von dem
der Luftschiffer so oft zu berichten hat, über dem auch ich schon einmal drei
Stunden zugebracht habe. Zwar ist es dicht geschlossen und erstreckt sich bald
nach allen Seiten bis an den Horizont, sodaß uns jede andre Aussicht benommen
wird, aber es ist nicht eintönig, sondern zeigt die mannigfachsten Formen: Tal-
eiuschnitte, größere unregelmäßige Vertiefungen, die in ihrer Gestalt an die
märkischen Seen erinnern, darüber sich anstürmende Gebirge, riesige Gletscher¬
tische mit abgeplatteter Oberfläche, aus bizarren Wolkenlagerungen ragen turm¬
artige Gebilde hervor, nach einer andern Seite reiht sich Welle an Welle, wie
zu einer Eismasse erstarrt.

Während ich meine Aufzeichnungen hierüber mache, fühle ich mich plötzlich
gehalten, ich war im Stehen eingeschlafen und meinem Reisegeführten in die
Arme gesunken, der diese Wirkung der sauerstosfärmern Luft auf seinen Hoch¬
fahrten an sich und andern oft wahrgenommen hatte. Auf 4000 Meter sind
wir gestiegen, und das Aspirationspsychrometer zeigt 1 Grad Celsius unter Null
an, doch lassen die glühenden Sonnenstrahlen uns dies nicht empfinden, nur an
die Füße ist es kalt, da fehlt infolge unsrer Ballastnot der Verpackungsplan, der
sonst den Boden des Korbes bedeckt. Gleichwohl verspüren wir nach den An¬
strengungen der durchwachten Nacht das Bedürfnis, eine Weile zu ruhen. So
lösen wir das Barometer von den Korbleinen, nehmen es in die Hand und
beobachten am Boden sitzend, jede andre Sitzgelegenheit hatten wir ja über Bord
werfen müssen. Ein Schlummer von wenig Minuten, dem wir uns abwechselnd


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/48>, abgerufen am 04.07.2024.