Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.volkstiunlichkelt der Gesetze und vertrauen zur Rechtspflege von Rechtsfällen, deren einer fast niemals dem andern völlig gleicht, eine be¬ Unverstand und Leidenschaft, Eigennutz und Bosheit arbeiten zusammen, Bei aller Juristentätigkeit handelt es sich, wie ein berühmter Rechtslehrer volkstiunlichkelt der Gesetze und vertrauen zur Rechtspflege von Rechtsfällen, deren einer fast niemals dem andern völlig gleicht, eine be¬ Unverstand und Leidenschaft, Eigennutz und Bosheit arbeiten zusammen, Bei aller Juristentätigkeit handelt es sich, wie ein berühmter Rechtslehrer <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0092" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/300591"/> <fw type="header" place="top"> volkstiunlichkelt der Gesetze und vertrauen zur Rechtspflege</fw><lb/> <p xml:id="ID_284" prev="#ID_283"> von Rechtsfällen, deren einer fast niemals dem andern völlig gleicht, eine be¬<lb/> sondre Regel im Gesetzbuchs stehn. Denn es gibt auf jedem einzelnen Rechts¬<lb/> gebiete unzählige Besonderheiten der vorkommenden Verhältnisse. Kaum je<lb/> wird ein Rechtsverhältnis nur eine einzige Rechtsfrage enthalten; es steckt<lb/> meist auch in scheinbar ganz einfachen Fällen eine große Anzahl von juristischen<lb/> Fragen. Denken wir zum Beispiel an einen Mietvertrag. Da ist nicht nur<lb/> zu prüfen, welche Räume, zu welchem Preise und für welche Zeit sie ver¬<lb/> mietet werden, nein, auch die Frage nach der Form des Vertrags, der Geschäfts¬<lb/> fähigkeit der Beteiligten, nach der Mithaftung der Ehefrau oder des Vaters,<lb/> nach dem Gerichtsstande für etwaige Prozesse zu erörtern, die Stempel-<lb/> pflichtigkeit des Vertrags zu berücksichtigen, nach der Einquartiernngslast, dem<lb/> Wasserzins usw. usw. zu fragen. Das alles kann natürlich nicht in einem Para¬<lb/> graphen stehn!</p><lb/> <p xml:id="ID_285"> Unverstand und Leidenschaft, Eigennutz und Bosheit arbeiten zusammen,<lb/> um die Absichten des Gesetzgebers zu durchkreuzen, den staatlichen Vorschriften<lb/> Gewalt anzutun und allerorten den Hütern des Gesetzes Hemmnisse zu be¬<lb/> reiten. Um die Herstellung und Durchführung der Rechtsordnung zu sichern,<lb/> um das vom Gesetzgeber in die Wege geleitete Rechtsordnungswerk fortzu¬<lb/> führen und zu vollenden, dazu ist das Richteramt berufen und vom Staate<lb/> zu Nutz und Frommen jedes Untertanen bereit gehalten.</p><lb/> <p xml:id="ID_286" next="#ID_287"> Bei aller Juristentätigkeit handelt es sich, wie ein berühmter Rechtslehrer<lb/> einmal gesagt hat, um „eine auf Wissenschaft gestützte Anwendung einer Kunst".<lb/> Es ist nun ohne weiteres zuzugeben, daß nicht alle Richter solche „Künstler"<lb/> in diesem Sinne sind, daß manche Richter ihre Aufgabe und Stellung falsch<lb/> auffassen, sich für etwas besseres und höheres halten als den Laien, nicht<lb/> hinreichendes Interesse für naturwissenschaftliche oder technische Dinge, für<lb/> landwirtschaftliche oder industrielle Verhältnisse an den Tag legen, sich von<lb/> den sozialen Arbeiten der Gegenwart zu Unrecht fernhalten und ohne ge¬<lb/> nügende Kenntnis des realen Lebens auf der sslls, ourulis sitzen. Gewiß! der<lb/> Richter darf nicht bloßer juristischer Automat sein. Gerade heute, wo nicht<lb/> mehr für jeden Einzelfall eine besondre Rechtsregel gegeben ist, sondern dem<lb/> Richter größere Freiheit in Anwendung der gesetzlich festgelegten Haupt-<lb/> grundsütze auf den zu entscheidenden Fall gegeben ist, sodaß er gewissermaßen<lb/> selbst Gesetzgeber ist, indem er aus dem Grundprinzip die Rechtsregeln für<lb/> den Einzelfall bildet, gerade heute muß der Richter eine äußerst umfassende<lb/> Bildung haben? er muß die zahllosen wirtschaftlichen Machtverschiedenheiten<lb/> berücksichtigen, er muß neben einer festen juristischen auch eine sozialökonomische<lb/> Bildung haben als Kern der politischen Bildung, die für die Gegenwart<lb/> unerläßlich ist. Der Richter soll über den Parteien stehn — in dem Sinne,<lb/> daß er keinen Beeinflussungen von einer oder der andern Partei zugänglich<lb/> ist und sich ein kühles objektives Urteil über alle tatsächlichen und rechtlichen<lb/> Verhältnisse bewahrt, die dem leidenschaftgetrübten Blick der Beteiligten selbst</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0092]
volkstiunlichkelt der Gesetze und vertrauen zur Rechtspflege
von Rechtsfällen, deren einer fast niemals dem andern völlig gleicht, eine be¬
sondre Regel im Gesetzbuchs stehn. Denn es gibt auf jedem einzelnen Rechts¬
gebiete unzählige Besonderheiten der vorkommenden Verhältnisse. Kaum je
wird ein Rechtsverhältnis nur eine einzige Rechtsfrage enthalten; es steckt
meist auch in scheinbar ganz einfachen Fällen eine große Anzahl von juristischen
Fragen. Denken wir zum Beispiel an einen Mietvertrag. Da ist nicht nur
zu prüfen, welche Räume, zu welchem Preise und für welche Zeit sie ver¬
mietet werden, nein, auch die Frage nach der Form des Vertrags, der Geschäfts¬
fähigkeit der Beteiligten, nach der Mithaftung der Ehefrau oder des Vaters,
nach dem Gerichtsstande für etwaige Prozesse zu erörtern, die Stempel-
pflichtigkeit des Vertrags zu berücksichtigen, nach der Einquartiernngslast, dem
Wasserzins usw. usw. zu fragen. Das alles kann natürlich nicht in einem Para¬
graphen stehn!
Unverstand und Leidenschaft, Eigennutz und Bosheit arbeiten zusammen,
um die Absichten des Gesetzgebers zu durchkreuzen, den staatlichen Vorschriften
Gewalt anzutun und allerorten den Hütern des Gesetzes Hemmnisse zu be¬
reiten. Um die Herstellung und Durchführung der Rechtsordnung zu sichern,
um das vom Gesetzgeber in die Wege geleitete Rechtsordnungswerk fortzu¬
führen und zu vollenden, dazu ist das Richteramt berufen und vom Staate
zu Nutz und Frommen jedes Untertanen bereit gehalten.
Bei aller Juristentätigkeit handelt es sich, wie ein berühmter Rechtslehrer
einmal gesagt hat, um „eine auf Wissenschaft gestützte Anwendung einer Kunst".
Es ist nun ohne weiteres zuzugeben, daß nicht alle Richter solche „Künstler"
in diesem Sinne sind, daß manche Richter ihre Aufgabe und Stellung falsch
auffassen, sich für etwas besseres und höheres halten als den Laien, nicht
hinreichendes Interesse für naturwissenschaftliche oder technische Dinge, für
landwirtschaftliche oder industrielle Verhältnisse an den Tag legen, sich von
den sozialen Arbeiten der Gegenwart zu Unrecht fernhalten und ohne ge¬
nügende Kenntnis des realen Lebens auf der sslls, ourulis sitzen. Gewiß! der
Richter darf nicht bloßer juristischer Automat sein. Gerade heute, wo nicht
mehr für jeden Einzelfall eine besondre Rechtsregel gegeben ist, sondern dem
Richter größere Freiheit in Anwendung der gesetzlich festgelegten Haupt-
grundsütze auf den zu entscheidenden Fall gegeben ist, sodaß er gewissermaßen
selbst Gesetzgeber ist, indem er aus dem Grundprinzip die Rechtsregeln für
den Einzelfall bildet, gerade heute muß der Richter eine äußerst umfassende
Bildung haben? er muß die zahllosen wirtschaftlichen Machtverschiedenheiten
berücksichtigen, er muß neben einer festen juristischen auch eine sozialökonomische
Bildung haben als Kern der politischen Bildung, die für die Gegenwart
unerläßlich ist. Der Richter soll über den Parteien stehn — in dem Sinne,
daß er keinen Beeinflussungen von einer oder der andern Partei zugänglich
ist und sich ein kühles objektives Urteil über alle tatsächlichen und rechtlichen
Verhältnisse bewahrt, die dem leidenschaftgetrübten Blick der Beteiligten selbst
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