Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches über dieser oft schon erhobnen Streitfrage wird wiederum daran zu erinnern sein, So wie die Dinge nun einmal liegen, kann von einer Beseitigung der offen¬ Maßgebliches und Unmaßgebliches über dieser oft schon erhobnen Streitfrage wird wiederum daran zu erinnern sein, So wie die Dinge nun einmal liegen, kann von einer Beseitigung der offen¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0744" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/301243"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_3156" prev="#ID_3155"> über dieser oft schon erhobnen Streitfrage wird wiederum daran zu erinnern sein,<lb/> daß man jetzt bestrebt sein muß, sich nicht auf unfruchtbare Erörterungen festzu¬<lb/> legen, sondern möglichst mit der praktischen Wirkung zu rechnen. Wir haben schon<lb/> einmal an dieser Stelle deutlich zu machen versuchte daß die eigentümliche ausschlag¬<lb/> gebende Stellung des Zentrums unmöglich wäre, wenn nicht ein Fünftel des bis¬<lb/> herigen Reichstags aus Sozialdemokraten bestanden hätte, also aus Angehörigen<lb/> einer Partei, die für die positive Mitwirkung an einer brauchbaren Gesetzgebungs¬<lb/> arbeit einfach ausfällt. Die eigentümliche Stellung der Sozialdemokratie ist die<lb/> Voraussetzung für die besondre Macht des Zentrums. Auch wenn das Zentrum<lb/> eine Reihe von Sitzen im Reichstag verlieren sollte, wird es doch immer eine ähnliche<lb/> Rolle wie früher spielen, wenn die Sozialdemokratie in gleicher oder verstärkter Zahl<lb/> im Reichstag wiedererscheint. Viele machen sich wohl diesen ungewollten, auf keiner<lb/> Vereinbarung beruhenden, sondern durch die Verhältnisse ganz von selbst gegebnen<lb/> Zusammenhang zwischen Zentrum und Sozialdemokratie nicht klar. Er ist aber un¬<lb/> bestreitbar vorhanden, und man wird daraus die Folgerung ziehen müssen, daß die<lb/> Erörterung, welche von beiden Parteien gefährlicher ist, gegenwärtig besser unterbleibt.<lb/> Übrigens zeigt die Erinnerung an die letzten Landtagswahlen in Bayern, daß die innere<lb/> Interessengemeinschaft zwischen den beiden zu bekämpfenden Parteien sehr leicht auch<lb/> ihren äußern Ausdruck findet. Wenigstens in Bayern wird auch bei den Reichstags-<lb/> wahleu wohl wieder das schwarz-rote Kartell auf der Bildfläche erscheinen.</p><lb/> <p xml:id="ID_3157"> So wie die Dinge nun einmal liegen, kann von einer Beseitigung der offen¬<lb/> baren Mißstände in unserm parlamentarischen Leben nur die Rede sein, wenn sich<lb/> zur Bekämpfung von Zentrum und Sozialdemokratie alle übrigen Parteien möglichst<lb/> zu einer festen Phalanx zusammenschließen. Dieses Ideal wird sich nicht überall<lb/> erreichen lassen; die Gefahr droht ja auch nicht an allen Orten in gleichem Maße.<lb/> Aber es sollte doch von allen Seiten Sorge getragen werden, daß andre Streit¬<lb/> punkte unes Möglichkeit zurückgestellt werden. Das kann um so leichter geschehn,<lb/> als die Zurückdrängung der beiden Parteien, gegen die sich jetzt der Wahlkampf<lb/> richtet, jeder Anschauung, die ans dem Boden der gegenwärtigen Staatsordnung<lb/> steht und ein bestimmtes politisches Prinzip vertritt, freiere Bahn schaffen muß.<lb/> Weder Konservativen noch Liberalen wird der ehrliche Wettkampf für die Zukunft<lb/> dadurch eingeschränkt. Wenn aber Konservative und Liberale jetzt vor den allge¬<lb/> meinen Wahlen den Augenblick für gegeben erachten, sich gegenseitig mit kleinlichen<lb/> Angriffen zu verfolgen, wenn die einen eine törichte Furcht vor Erfolgen des<lb/> Liberalismus bekunden, die andern in gänzlichem Mißverständnis der Zeichen der<lb/> Zeit über dem Gedanken einer drohenden Reaktion die näher liegenden Pflichten<lb/> übersehen, dann sind sie alle beide die Verlierenden. Die konservativen Parteien<lb/> bleiben ja nur ihrem Programm getreu, wenn sie in einer solchen Krisis den Weg<lb/> der entschiednen, zuverlässigen Unterstützung der Regierung betreten. Es verdient<lb/> bemerkt zu werden, daß auch für deu fortschrittliche» Liberalismus und die Demokratie<lb/> ein Augenblick der Selbstbesinnung eingetreten zu sein scheint. Der Wahlaufruf der<lb/> vereinigten drei Gruppen des linksstehenden Liberalismus atmet diesmal zum ersten¬<lb/> male einen Geist, den der deutsche Liberalismus dieser Färbung bisher immer ver¬<lb/> missen ließ, deu Geist eines stärker entwickelten Staatsgefühls. Man mag das als<lb/> ein gutes Vorzeichen nehmen. Trotz allen Schwierigkeiten braucht die Hoffnung<lb/> nicht aufgegeben zu werden, daß der gegenwärtige Wahlkampf die Bedeutung eines<lb/> Reinigungsbades für deu politischen Geist des deutschen Volks gewinnen wird.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0744]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
über dieser oft schon erhobnen Streitfrage wird wiederum daran zu erinnern sein,
daß man jetzt bestrebt sein muß, sich nicht auf unfruchtbare Erörterungen festzu¬
legen, sondern möglichst mit der praktischen Wirkung zu rechnen. Wir haben schon
einmal an dieser Stelle deutlich zu machen versuchte daß die eigentümliche ausschlag¬
gebende Stellung des Zentrums unmöglich wäre, wenn nicht ein Fünftel des bis¬
herigen Reichstags aus Sozialdemokraten bestanden hätte, also aus Angehörigen
einer Partei, die für die positive Mitwirkung an einer brauchbaren Gesetzgebungs¬
arbeit einfach ausfällt. Die eigentümliche Stellung der Sozialdemokratie ist die
Voraussetzung für die besondre Macht des Zentrums. Auch wenn das Zentrum
eine Reihe von Sitzen im Reichstag verlieren sollte, wird es doch immer eine ähnliche
Rolle wie früher spielen, wenn die Sozialdemokratie in gleicher oder verstärkter Zahl
im Reichstag wiedererscheint. Viele machen sich wohl diesen ungewollten, auf keiner
Vereinbarung beruhenden, sondern durch die Verhältnisse ganz von selbst gegebnen
Zusammenhang zwischen Zentrum und Sozialdemokratie nicht klar. Er ist aber un¬
bestreitbar vorhanden, und man wird daraus die Folgerung ziehen müssen, daß die
Erörterung, welche von beiden Parteien gefährlicher ist, gegenwärtig besser unterbleibt.
Übrigens zeigt die Erinnerung an die letzten Landtagswahlen in Bayern, daß die innere
Interessengemeinschaft zwischen den beiden zu bekämpfenden Parteien sehr leicht auch
ihren äußern Ausdruck findet. Wenigstens in Bayern wird auch bei den Reichstags-
wahleu wohl wieder das schwarz-rote Kartell auf der Bildfläche erscheinen.
So wie die Dinge nun einmal liegen, kann von einer Beseitigung der offen¬
baren Mißstände in unserm parlamentarischen Leben nur die Rede sein, wenn sich
zur Bekämpfung von Zentrum und Sozialdemokratie alle übrigen Parteien möglichst
zu einer festen Phalanx zusammenschließen. Dieses Ideal wird sich nicht überall
erreichen lassen; die Gefahr droht ja auch nicht an allen Orten in gleichem Maße.
Aber es sollte doch von allen Seiten Sorge getragen werden, daß andre Streit¬
punkte unes Möglichkeit zurückgestellt werden. Das kann um so leichter geschehn,
als die Zurückdrängung der beiden Parteien, gegen die sich jetzt der Wahlkampf
richtet, jeder Anschauung, die ans dem Boden der gegenwärtigen Staatsordnung
steht und ein bestimmtes politisches Prinzip vertritt, freiere Bahn schaffen muß.
Weder Konservativen noch Liberalen wird der ehrliche Wettkampf für die Zukunft
dadurch eingeschränkt. Wenn aber Konservative und Liberale jetzt vor den allge¬
meinen Wahlen den Augenblick für gegeben erachten, sich gegenseitig mit kleinlichen
Angriffen zu verfolgen, wenn die einen eine törichte Furcht vor Erfolgen des
Liberalismus bekunden, die andern in gänzlichem Mißverständnis der Zeichen der
Zeit über dem Gedanken einer drohenden Reaktion die näher liegenden Pflichten
übersehen, dann sind sie alle beide die Verlierenden. Die konservativen Parteien
bleiben ja nur ihrem Programm getreu, wenn sie in einer solchen Krisis den Weg
der entschiednen, zuverlässigen Unterstützung der Regierung betreten. Es verdient
bemerkt zu werden, daß auch für deu fortschrittliche» Liberalismus und die Demokratie
ein Augenblick der Selbstbesinnung eingetreten zu sein scheint. Der Wahlaufruf der
vereinigten drei Gruppen des linksstehenden Liberalismus atmet diesmal zum ersten¬
male einen Geist, den der deutsche Liberalismus dieser Färbung bisher immer ver¬
missen ließ, deu Geist eines stärker entwickelten Staatsgefühls. Man mag das als
ein gutes Vorzeichen nehmen. Trotz allen Schwierigkeiten braucht die Hoffnung
nicht aufgegeben zu werden, daß der gegenwärtige Wahlkampf die Bedeutung eines
Reinigungsbades für deu politischen Geist des deutschen Volks gewinnen wird.
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