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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Die Sperlinge auf dein Naschmarkt

ihren Ständen und kümmerten sich nicht im geringsten um das, was draußen vor¬
ging. Angesichts der drohenden Gefahr kniete die Alte vor dem geheimnisvollen
Kasten nieder, öffnete ihn und suchte unter den darin aufbewahrten Schätzen, bis sie
eine Flasche fand, deren Etikette die folgende Aufschrift trug:


M. 13. liiquor act eonvorwnäum bominsm in bsstiam,

Dieser kostbare Jia.nor ist aus siebenerlei raren Kräutern destilliert, deren
Ovidius, ein römischer Poet, in seinem Buche Uötamoi'xbosos Erwähnung tut. So
man mit etlichen Tropfen einen Menschen, er sei manu- oder weiblichen Geschlechts,
alt oder jung, ansprenget, so wird er sich eitissims in das Tier verwandeln, das
ihm nach Natur, Charakter und Temperament am meisten gemäß ist. Will man
aber die Verzauberung wieder lösen, also daß der Verwandelte seine menschliche
Gestalt wieder erlanget, so braucht man ihm nur etliche Tropfen desselben ki^nous
in Wasser oder auf einem Stückletn Brotes, Zuckers oder dergleichen einzugeben,
wie denn auch Herr Samuel Hnhnemcmn das Wesen und deu Geist aller Heilkunst
in die Worte zusammengefasset hat: similis. similibus euranwr.

Als der Lärm der Angreifer in immer bedenklicherer Nähe erscholl, erhob sich
die Alte, öffnete behutsam die Tür ihrer Bude und legte sich, die entkorkte Flasche
in der zitternden Hand, in den Hinterhalt. Sie brauchte nicht lange zu warten,
denn aus einer Seitengasse rückte die dichtgedrängte Schar pfeifend und johlend
gegen die Bude vor. Da sich drinnen niemand zeigte, wuchs den Jungen der Mut;
die kecksten schwangen sich auf das Auslagcbrett und warfen, was sie an Süßig¬
keiten erreichen konnten, den Kameraden zu, unter denen um jede Pfeffernuß, um
jede Matrone eine wilde Balgerei entstand. Ans diesen Augenblick hatte das Weiblein
gewartet. Mit einer Schnelligkeit, die dem gebrechlichen Wesen kein Mensch zugetraut
haben würde, schoß sie aus ihrem Versteck hervor und schwang die Flasche so lange
über deu Köpfen ihrer Peiniger, bis der letzte Tropfen verspritzt war. Dann zog
sie sich mit einem heisern Lachen in ihre Bude zurück.

Draußen aber, auf der kotigeu Gasse, hüpften und flatterten statt der bösen
Buben an die hundert Sperlinge, piepten und Schnyder und machten einander die
Makronenkrümel streitig, die die Alte aus ein paar leeren Kisten zusammengelesen
hatte und ihnen mit freigebiger Hand spendete. Dann flogen sie ans das junge
Lindenbäumchen zwischen der Börsentreppe und dem Rathausdurchgaug, stritten sich
um jeden Sitzplatz auf den schon halb entlaubten Zweiglein und setzten ihr Geschimpf
fort, bis ihnen die schnell anbrechende Herbstnacht Schweigen gebot.

Von dieser Zeit an hatte die Alte Ruhe. Aber jeden Abend, um die Stunde,
wo es zu diimmeru begann, stellten sich die Sperlinge vor der Pfefferkuchenbude
ein und lärmten so lange, bis das verhutzelte Weiblein aus seiner Träumerei er¬
wachte und deu gefiederten Kostgängern den Kehricht von ihrer Auslage und die
Krümel aus Kasten und Kisten hinauswarf. Dann erwachte auch der schwarze
Kater aus seinem Schlafe, setzte sich aufrecht und starrte mit lüsternen Blicken auf
die zu seinen Füßen umherhüpfenden Vögel, während die Spitze seines buschigen
Schwanzes kleine Kreise beschrieb und deutlich genug verriet, was bei diesem ver¬
lockenden Anblick in seiner Seele vorging. Freilich, mit dem Anblick mußte er sich
begnügen, denn seine Herrin hatte ein wachsames Auge auf ihn und duldete nicht,
daß er dem Zuge jeines Herzens folgte. So ists brav, mein guter Kasimir, pflegte sie
dann zu sagen, laß die Spatzen hübsch ungeschoren! Man darf sich nicht von seinen
Gefühlen hinreißen lassen. Das solltest du doch wissen. Siehst du. ich würde dir ja
gern wieder zu deinem Schnüreurvck, deinen Lackstiefeln und deiner edeln Polenseele ver¬
helfen, aber der ganze Zauberlikör ist bei der Verwandlung der ungezognen Bürschchen
daraufgegangen. Nun müssen wir alle beide warten, bis Zinngräber wiederkommt.

Und die arme Alte wartete redlich, wartete mit übermenschlicher Geduld. Herbst¬
messen und Ostermessen folgte" sich in ewigem Wechsel, Jahre reihten sich zu
Jahrzehnten, und immer noch hing an der einzigen Pfefferkuchenbude auf dem Rasch-


Die Sperlinge auf dein Naschmarkt

ihren Ständen und kümmerten sich nicht im geringsten um das, was draußen vor¬
ging. Angesichts der drohenden Gefahr kniete die Alte vor dem geheimnisvollen
Kasten nieder, öffnete ihn und suchte unter den darin aufbewahrten Schätzen, bis sie
eine Flasche fand, deren Etikette die folgende Aufschrift trug:


M. 13. liiquor act eonvorwnäum bominsm in bsstiam,

Dieser kostbare Jia.nor ist aus siebenerlei raren Kräutern destilliert, deren
Ovidius, ein römischer Poet, in seinem Buche Uötamoi'xbosos Erwähnung tut. So
man mit etlichen Tropfen einen Menschen, er sei manu- oder weiblichen Geschlechts,
alt oder jung, ansprenget, so wird er sich eitissims in das Tier verwandeln, das
ihm nach Natur, Charakter und Temperament am meisten gemäß ist. Will man
aber die Verzauberung wieder lösen, also daß der Verwandelte seine menschliche
Gestalt wieder erlanget, so braucht man ihm nur etliche Tropfen desselben ki^nous
in Wasser oder auf einem Stückletn Brotes, Zuckers oder dergleichen einzugeben,
wie denn auch Herr Samuel Hnhnemcmn das Wesen und deu Geist aller Heilkunst
in die Worte zusammengefasset hat: similis. similibus euranwr.

Als der Lärm der Angreifer in immer bedenklicherer Nähe erscholl, erhob sich
die Alte, öffnete behutsam die Tür ihrer Bude und legte sich, die entkorkte Flasche
in der zitternden Hand, in den Hinterhalt. Sie brauchte nicht lange zu warten,
denn aus einer Seitengasse rückte die dichtgedrängte Schar pfeifend und johlend
gegen die Bude vor. Da sich drinnen niemand zeigte, wuchs den Jungen der Mut;
die kecksten schwangen sich auf das Auslagcbrett und warfen, was sie an Süßig¬
keiten erreichen konnten, den Kameraden zu, unter denen um jede Pfeffernuß, um
jede Matrone eine wilde Balgerei entstand. Ans diesen Augenblick hatte das Weiblein
gewartet. Mit einer Schnelligkeit, die dem gebrechlichen Wesen kein Mensch zugetraut
haben würde, schoß sie aus ihrem Versteck hervor und schwang die Flasche so lange
über deu Köpfen ihrer Peiniger, bis der letzte Tropfen verspritzt war. Dann zog
sie sich mit einem heisern Lachen in ihre Bude zurück.

Draußen aber, auf der kotigeu Gasse, hüpften und flatterten statt der bösen
Buben an die hundert Sperlinge, piepten und Schnyder und machten einander die
Makronenkrümel streitig, die die Alte aus ein paar leeren Kisten zusammengelesen
hatte und ihnen mit freigebiger Hand spendete. Dann flogen sie ans das junge
Lindenbäumchen zwischen der Börsentreppe und dem Rathausdurchgaug, stritten sich
um jeden Sitzplatz auf den schon halb entlaubten Zweiglein und setzten ihr Geschimpf
fort, bis ihnen die schnell anbrechende Herbstnacht Schweigen gebot.

Von dieser Zeit an hatte die Alte Ruhe. Aber jeden Abend, um die Stunde,
wo es zu diimmeru begann, stellten sich die Sperlinge vor der Pfefferkuchenbude
ein und lärmten so lange, bis das verhutzelte Weiblein aus seiner Träumerei er¬
wachte und deu gefiederten Kostgängern den Kehricht von ihrer Auslage und die
Krümel aus Kasten und Kisten hinauswarf. Dann erwachte auch der schwarze
Kater aus seinem Schlafe, setzte sich aufrecht und starrte mit lüsternen Blicken auf
die zu seinen Füßen umherhüpfenden Vögel, während die Spitze seines buschigen
Schwanzes kleine Kreise beschrieb und deutlich genug verriet, was bei diesem ver¬
lockenden Anblick in seiner Seele vorging. Freilich, mit dem Anblick mußte er sich
begnügen, denn seine Herrin hatte ein wachsames Auge auf ihn und duldete nicht,
daß er dem Zuge jeines Herzens folgte. So ists brav, mein guter Kasimir, pflegte sie
dann zu sagen, laß die Spatzen hübsch ungeschoren! Man darf sich nicht von seinen
Gefühlen hinreißen lassen. Das solltest du doch wissen. Siehst du. ich würde dir ja
gern wieder zu deinem Schnüreurvck, deinen Lackstiefeln und deiner edeln Polenseele ver¬
helfen, aber der ganze Zauberlikör ist bei der Verwandlung der ungezognen Bürschchen
daraufgegangen. Nun müssen wir alle beide warten, bis Zinngräber wiederkommt.

Und die arme Alte wartete redlich, wartete mit übermenschlicher Geduld. Herbst¬
messen und Ostermessen folgte» sich in ewigem Wechsel, Jahre reihten sich zu
Jahrzehnten, und immer noch hing an der einzigen Pfefferkuchenbude auf dem Rasch-


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[0740] Die Sperlinge auf dein Naschmarkt ihren Ständen und kümmerten sich nicht im geringsten um das, was draußen vor¬ ging. Angesichts der drohenden Gefahr kniete die Alte vor dem geheimnisvollen Kasten nieder, öffnete ihn und suchte unter den darin aufbewahrten Schätzen, bis sie eine Flasche fand, deren Etikette die folgende Aufschrift trug: M. 13. liiquor act eonvorwnäum bominsm in bsstiam, Dieser kostbare Jia.nor ist aus siebenerlei raren Kräutern destilliert, deren Ovidius, ein römischer Poet, in seinem Buche Uötamoi'xbosos Erwähnung tut. So man mit etlichen Tropfen einen Menschen, er sei manu- oder weiblichen Geschlechts, alt oder jung, ansprenget, so wird er sich eitissims in das Tier verwandeln, das ihm nach Natur, Charakter und Temperament am meisten gemäß ist. Will man aber die Verzauberung wieder lösen, also daß der Verwandelte seine menschliche Gestalt wieder erlanget, so braucht man ihm nur etliche Tropfen desselben ki^nous in Wasser oder auf einem Stückletn Brotes, Zuckers oder dergleichen einzugeben, wie denn auch Herr Samuel Hnhnemcmn das Wesen und deu Geist aller Heilkunst in die Worte zusammengefasset hat: similis. similibus euranwr. Als der Lärm der Angreifer in immer bedenklicherer Nähe erscholl, erhob sich die Alte, öffnete behutsam die Tür ihrer Bude und legte sich, die entkorkte Flasche in der zitternden Hand, in den Hinterhalt. Sie brauchte nicht lange zu warten, denn aus einer Seitengasse rückte die dichtgedrängte Schar pfeifend und johlend gegen die Bude vor. Da sich drinnen niemand zeigte, wuchs den Jungen der Mut; die kecksten schwangen sich auf das Auslagcbrett und warfen, was sie an Süßig¬ keiten erreichen konnten, den Kameraden zu, unter denen um jede Pfeffernuß, um jede Matrone eine wilde Balgerei entstand. Ans diesen Augenblick hatte das Weiblein gewartet. Mit einer Schnelligkeit, die dem gebrechlichen Wesen kein Mensch zugetraut haben würde, schoß sie aus ihrem Versteck hervor und schwang die Flasche so lange über deu Köpfen ihrer Peiniger, bis der letzte Tropfen verspritzt war. Dann zog sie sich mit einem heisern Lachen in ihre Bude zurück. Draußen aber, auf der kotigeu Gasse, hüpften und flatterten statt der bösen Buben an die hundert Sperlinge, piepten und Schnyder und machten einander die Makronenkrümel streitig, die die Alte aus ein paar leeren Kisten zusammengelesen hatte und ihnen mit freigebiger Hand spendete. Dann flogen sie ans das junge Lindenbäumchen zwischen der Börsentreppe und dem Rathausdurchgaug, stritten sich um jeden Sitzplatz auf den schon halb entlaubten Zweiglein und setzten ihr Geschimpf fort, bis ihnen die schnell anbrechende Herbstnacht Schweigen gebot. Von dieser Zeit an hatte die Alte Ruhe. Aber jeden Abend, um die Stunde, wo es zu diimmeru begann, stellten sich die Sperlinge vor der Pfefferkuchenbude ein und lärmten so lange, bis das verhutzelte Weiblein aus seiner Träumerei er¬ wachte und deu gefiederten Kostgängern den Kehricht von ihrer Auslage und die Krümel aus Kasten und Kisten hinauswarf. Dann erwachte auch der schwarze Kater aus seinem Schlafe, setzte sich aufrecht und starrte mit lüsternen Blicken auf die zu seinen Füßen umherhüpfenden Vögel, während die Spitze seines buschigen Schwanzes kleine Kreise beschrieb und deutlich genug verriet, was bei diesem ver¬ lockenden Anblick in seiner Seele vorging. Freilich, mit dem Anblick mußte er sich begnügen, denn seine Herrin hatte ein wachsames Auge auf ihn und duldete nicht, daß er dem Zuge jeines Herzens folgte. So ists brav, mein guter Kasimir, pflegte sie dann zu sagen, laß die Spatzen hübsch ungeschoren! Man darf sich nicht von seinen Gefühlen hinreißen lassen. Das solltest du doch wissen. Siehst du. ich würde dir ja gern wieder zu deinem Schnüreurvck, deinen Lackstiefeln und deiner edeln Polenseele ver¬ helfen, aber der ganze Zauberlikör ist bei der Verwandlung der ungezognen Bürschchen daraufgegangen. Nun müssen wir alle beide warten, bis Zinngräber wiederkommt. Und die arme Alte wartete redlich, wartete mit übermenschlicher Geduld. Herbst¬ messen und Ostermessen folgte» sich in ewigem Wechsel, Jahre reihten sich zu Jahrzehnten, und immer noch hing an der einzigen Pfefferkuchenbude auf dem Rasch-

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/740>, abgerufen am 25.08.2024.