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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Wundes Geschichte der musischen Aünste

der einen Auffassung zur andern führt, ist leicht getan, und doch ist er ein
ungeheurer: es ist der Schritt von urwüchsiger tragischer Kraft zu einer Re¬
flexionsästhetik, in der sich das Gefühl religiöser Hingabe, von dem jene erfüllt
gewesen, zu einer eudämonistischen Moral ermäßigt hat, die in dem Gleichgewicht
der Affekte das Mittel gegen die Wechselfälle des Schicksals sieht." Auch der
heroische Affekt des Mitleids schwindet "in einer Zeit, die sich übersättigt von
den Gütern des Lebens abwendet, und die dem Untergehenden das Mitleid
versagt, weil sie das Dasein überhaupt für ein Übel und das Scheiden aus
dem Leben für Erlösung hält. Jetzt sind nicht mehr Furcht und Mitleid die
Affekte, die die Tragödie erregen soll, sondern Furcht und Entsetzen behaupten
das Feld. Das Drama des Mitleids wandelt sich in das des Schreckens um.
Das ist der Charakter des Dramas der neronischen Zeit, wie es uns in den
Dichtungen Senecas entgegentritt." In diesen Ausführungen Wundes liegt,
wie man sieht, kein Widerspruch gegen Vvlkelts Kritik der aristotelischen
Definition. Denn dieser findet sie nur zu eng, als daß sie die ganze Fülle
tragischer Literaturerzeugnisse späterer Zeiten zu umfassen vermöchte, Wundt
aber erklärt sie nur für richtig in Beziehung auf die wenigen Tragödien, die
Aristoteles kannte und die er vorzugsweise im Auge hatte. Die Wirkung des
Komischen findet Wundt "in dem durch die Aufhebung von Gegensätzen hervor-
gerufnen Gefühl der Entlastung des Gemüts, das durch seine weitere psychische
Rückwirkung zu einem Gefühl der Befreiung von den Hemmnissen des Daseins
wird". Er zeigt, daß keines der beiden Elemente, weder der Kontrast noch das
Gefühl der Befreiung, für sich allein genügt, sondern daß beide zusammenwirken
müssen, wenn das Komische zustandekommen soll. Das tägliche Leben, das
Gegenstand der Komödie ist, verbirgt die großen Probleme unter der Ober¬
fläche seiner kleinen Kämpfe. Bei den großen Konflikten der Tragödie treten
sie, und zwar ebenfalls in Form von Kontrasten, hervor. "Allein es sind das
nicht die sich hebenden Kontraste der Charaktere und Verwicklungen, die in der
Komödie durch ihre objektive Lösung die Freude am Leben steigern, sondern es
sind jene Probleme, für die es eine objektive Lösung überhaupt nicht gibt, weil
sie den Untergang entweder der Person oder der Werte, die ihr das Leben
lebenswert machen, zum Inhalt haben. So bleibt hier die einzig mögliche Lösung
die subjektive, die gleicherweise im Gemüt des Dichters wie des Zuschauers vor
sich geht, und die ihre Macht dadurch empfängt, daß sie von beiden in die
Seele des tragischen Helden projiziert wird." Wie sich später das Verhältnis
der Religion zur Tragödie gestaltet hat, das erklärt Wundt aus dem Ursprünge
der dramatischen Kunst. "Später als der burleske Mimus, an den sich dann
weiterhin die Komödie anschloß, hat sich die Tragödie aus dem ernsten religiösen
Mimus entwickelt. So sind denn auch viele im übrigen geistig hochstehende Kultur¬
völker in der Ausbildung der dramatischen Kunst nicht über die Komödie hinaus¬
gekommen. Der Grund davon liegt wahrscheinlich in der starken erhaltenden
Kraft, die jenen ernsten Teilen des religiösen Kultus, dem Hymnus und der


Wundes Geschichte der musischen Aünste

der einen Auffassung zur andern führt, ist leicht getan, und doch ist er ein
ungeheurer: es ist der Schritt von urwüchsiger tragischer Kraft zu einer Re¬
flexionsästhetik, in der sich das Gefühl religiöser Hingabe, von dem jene erfüllt
gewesen, zu einer eudämonistischen Moral ermäßigt hat, die in dem Gleichgewicht
der Affekte das Mittel gegen die Wechselfälle des Schicksals sieht." Auch der
heroische Affekt des Mitleids schwindet „in einer Zeit, die sich übersättigt von
den Gütern des Lebens abwendet, und die dem Untergehenden das Mitleid
versagt, weil sie das Dasein überhaupt für ein Übel und das Scheiden aus
dem Leben für Erlösung hält. Jetzt sind nicht mehr Furcht und Mitleid die
Affekte, die die Tragödie erregen soll, sondern Furcht und Entsetzen behaupten
das Feld. Das Drama des Mitleids wandelt sich in das des Schreckens um.
Das ist der Charakter des Dramas der neronischen Zeit, wie es uns in den
Dichtungen Senecas entgegentritt." In diesen Ausführungen Wundes liegt,
wie man sieht, kein Widerspruch gegen Vvlkelts Kritik der aristotelischen
Definition. Denn dieser findet sie nur zu eng, als daß sie die ganze Fülle
tragischer Literaturerzeugnisse späterer Zeiten zu umfassen vermöchte, Wundt
aber erklärt sie nur für richtig in Beziehung auf die wenigen Tragödien, die
Aristoteles kannte und die er vorzugsweise im Auge hatte. Die Wirkung des
Komischen findet Wundt „in dem durch die Aufhebung von Gegensätzen hervor-
gerufnen Gefühl der Entlastung des Gemüts, das durch seine weitere psychische
Rückwirkung zu einem Gefühl der Befreiung von den Hemmnissen des Daseins
wird". Er zeigt, daß keines der beiden Elemente, weder der Kontrast noch das
Gefühl der Befreiung, für sich allein genügt, sondern daß beide zusammenwirken
müssen, wenn das Komische zustandekommen soll. Das tägliche Leben, das
Gegenstand der Komödie ist, verbirgt die großen Probleme unter der Ober¬
fläche seiner kleinen Kämpfe. Bei den großen Konflikten der Tragödie treten
sie, und zwar ebenfalls in Form von Kontrasten, hervor. „Allein es sind das
nicht die sich hebenden Kontraste der Charaktere und Verwicklungen, die in der
Komödie durch ihre objektive Lösung die Freude am Leben steigern, sondern es
sind jene Probleme, für die es eine objektive Lösung überhaupt nicht gibt, weil
sie den Untergang entweder der Person oder der Werte, die ihr das Leben
lebenswert machen, zum Inhalt haben. So bleibt hier die einzig mögliche Lösung
die subjektive, die gleicherweise im Gemüt des Dichters wie des Zuschauers vor
sich geht, und die ihre Macht dadurch empfängt, daß sie von beiden in die
Seele des tragischen Helden projiziert wird." Wie sich später das Verhältnis
der Religion zur Tragödie gestaltet hat, das erklärt Wundt aus dem Ursprünge
der dramatischen Kunst. „Später als der burleske Mimus, an den sich dann
weiterhin die Komödie anschloß, hat sich die Tragödie aus dem ernsten religiösen
Mimus entwickelt. So sind denn auch viele im übrigen geistig hochstehende Kultur¬
völker in der Ausbildung der dramatischen Kunst nicht über die Komödie hinaus¬
gekommen. Der Grund davon liegt wahrscheinlich in der starken erhaltenden
Kraft, die jenen ernsten Teilen des religiösen Kultus, dem Hymnus und der


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[0712] Wundes Geschichte der musischen Aünste der einen Auffassung zur andern führt, ist leicht getan, und doch ist er ein ungeheurer: es ist der Schritt von urwüchsiger tragischer Kraft zu einer Re¬ flexionsästhetik, in der sich das Gefühl religiöser Hingabe, von dem jene erfüllt gewesen, zu einer eudämonistischen Moral ermäßigt hat, die in dem Gleichgewicht der Affekte das Mittel gegen die Wechselfälle des Schicksals sieht." Auch der heroische Affekt des Mitleids schwindet „in einer Zeit, die sich übersättigt von den Gütern des Lebens abwendet, und die dem Untergehenden das Mitleid versagt, weil sie das Dasein überhaupt für ein Übel und das Scheiden aus dem Leben für Erlösung hält. Jetzt sind nicht mehr Furcht und Mitleid die Affekte, die die Tragödie erregen soll, sondern Furcht und Entsetzen behaupten das Feld. Das Drama des Mitleids wandelt sich in das des Schreckens um. Das ist der Charakter des Dramas der neronischen Zeit, wie es uns in den Dichtungen Senecas entgegentritt." In diesen Ausführungen Wundes liegt, wie man sieht, kein Widerspruch gegen Vvlkelts Kritik der aristotelischen Definition. Denn dieser findet sie nur zu eng, als daß sie die ganze Fülle tragischer Literaturerzeugnisse späterer Zeiten zu umfassen vermöchte, Wundt aber erklärt sie nur für richtig in Beziehung auf die wenigen Tragödien, die Aristoteles kannte und die er vorzugsweise im Auge hatte. Die Wirkung des Komischen findet Wundt „in dem durch die Aufhebung von Gegensätzen hervor- gerufnen Gefühl der Entlastung des Gemüts, das durch seine weitere psychische Rückwirkung zu einem Gefühl der Befreiung von den Hemmnissen des Daseins wird". Er zeigt, daß keines der beiden Elemente, weder der Kontrast noch das Gefühl der Befreiung, für sich allein genügt, sondern daß beide zusammenwirken müssen, wenn das Komische zustandekommen soll. Das tägliche Leben, das Gegenstand der Komödie ist, verbirgt die großen Probleme unter der Ober¬ fläche seiner kleinen Kämpfe. Bei den großen Konflikten der Tragödie treten sie, und zwar ebenfalls in Form von Kontrasten, hervor. „Allein es sind das nicht die sich hebenden Kontraste der Charaktere und Verwicklungen, die in der Komödie durch ihre objektive Lösung die Freude am Leben steigern, sondern es sind jene Probleme, für die es eine objektive Lösung überhaupt nicht gibt, weil sie den Untergang entweder der Person oder der Werte, die ihr das Leben lebenswert machen, zum Inhalt haben. So bleibt hier die einzig mögliche Lösung die subjektive, die gleicherweise im Gemüt des Dichters wie des Zuschauers vor sich geht, und die ihre Macht dadurch empfängt, daß sie von beiden in die Seele des tragischen Helden projiziert wird." Wie sich später das Verhältnis der Religion zur Tragödie gestaltet hat, das erklärt Wundt aus dem Ursprünge der dramatischen Kunst. „Später als der burleske Mimus, an den sich dann weiterhin die Komödie anschloß, hat sich die Tragödie aus dem ernsten religiösen Mimus entwickelt. So sind denn auch viele im übrigen geistig hochstehende Kultur¬ völker in der Ausbildung der dramatischen Kunst nicht über die Komödie hinaus¬ gekommen. Der Grund davon liegt wahrscheinlich in der starken erhaltenden Kraft, die jenen ernsten Teilen des religiösen Kultus, dem Hymnus und der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/712>, abgerufen am 23.07.2024.