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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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lvundts Geschichte der musischen Künste

das Kindliche umwandelt. Eben dieser kindliche Charakter des Märchens, der
in seinem Namen liegt, und der in seiner dauerndsten Form, dem Kindermärchen,
besonders deutlich sich ausprägt, ist es ja. der die heute noch weit verbreitete
Theorie entsteh" ließ, das Märchen sei auch seiner wirklichen Entstehung nach
nichts andres als eine im Laufe der Zeit eingetretne absteigende Veränderung
von Mythus und Sage, eine dem kindlichen Verständnis des Volkes oder des
wirklichen Kindes angepaßte spielende Wiederholung uralter Göttermythen."
Grimm hat diese Hypothese aufgestellt, Wundt widerlegt sie. ebenso wie die
Wanderhypothese Benfeys. Die Märchenstoffe sind überall ziemlich gleichartig
aus der Volksphantasie hervorgegangen. wenn auch natürlich besonders an¬
sprechende Formungen des Stoffes, die bei dem einen oder dem andern Volke
geglückt sind, von andern Völkern gern übernommen werden. Dem Märchen
liegt keine Geschichte, keine Sage zugrunde. Sein Stoff ist. was me und
nirgends erlebt wird. Seine einzige Kausalität ist der Zauber, jede seiner Be¬
gebenheiten ein Wunder. In der Sage greifen wohl Dämonen mit Wunder¬
wirkungen in den natürlichen Lauf der Dinge ein, das Märchen aber kennt gar
keine andre als Wunderwirkungen. Das Wunder ist ihm das Natürliche und
Selbstverständliche, "und neben diesem schrankenlosen Walten der Phantasie bleibt
für den regelmäßigen Verlauf der Dinge ebenso wie für die wirklichen Motive
menschlichen Handelns nur ein spärlicher Raum. Darum sind die Helden des
Mürchms charakterlos. Dem Zauber, der ihnen Glück oder Unheil bringt,
willenlos preisgegeben, fehlt ihnen die Möglichkeit, irgendwelche persönliche
Eigenschaften zu Wütigen. Wohl mangelt es in der Märchendichtung der Kultur¬
völker nicht an dem Gegensatz von gut und böse. Aber in der Regel sind es
nicht die Helden des Märchens, sondern die Zauberwesen, die guten Geister und
gütigen Feen, denen jene ihr Glück verdanken, oder die Unholde, die Kobolde
und Hexen, die sie bedrohen, denen das Märchen solche moralische Qualitäten
Zuweist. In alledem trügt dieses noch heute unverkennbar die Züge einer
primitiven Kultur, so sehr auch an den einzelnen Gestalten die Spuren einer
spätern Zeit und der Gegenwart, in die das Märchen hinabreicht. nicht fehlen.
Denn unter solch modernem Gewand bleiben jene beiden Merkmale die unbe¬
grenzte Herrschaft des Zaubers und die moralische Indifferenz der Hände luden
Menschen, immer erkennbar. Das sind aber die nämlichen Züge, die uns überall
"und als die wesentlichen Charaktereigenschaften des Naturmenschen begegnen
Mehr als irgendeine andre Form der Dichtung oder selbst der bildenden Kunst
h°t das Märchen, trotz der Wandelbarkeit der mündlichen Überlieferung, der
^ bis in späte Zeiten anvertraut blieb, diesen Erdgeruch natürlicher Ursprung-
Uchkeit treu bewahrt." Nicht übergegangen ins moderne Märchen sind zwei
andre Eigentümlichkeiten der Naturvölker. Diese ziehen Sonne Mond. Sterne.
?°item in ihre Mürchendichtung hinein, ebenso Tiere und eblose Gegen stände,
die sie beleben Den Tieren hat die spätere Entwicklung zwei besondre Dichtungs¬
gattungen, die Fabel und das Tierepos, eingeräumt; die Himmelskörper aber


Grenzboten IV 1906
lvundts Geschichte der musischen Künste

das Kindliche umwandelt. Eben dieser kindliche Charakter des Märchens, der
in seinem Namen liegt, und der in seiner dauerndsten Form, dem Kindermärchen,
besonders deutlich sich ausprägt, ist es ja. der die heute noch weit verbreitete
Theorie entsteh« ließ, das Märchen sei auch seiner wirklichen Entstehung nach
nichts andres als eine im Laufe der Zeit eingetretne absteigende Veränderung
von Mythus und Sage, eine dem kindlichen Verständnis des Volkes oder des
wirklichen Kindes angepaßte spielende Wiederholung uralter Göttermythen."
Grimm hat diese Hypothese aufgestellt, Wundt widerlegt sie. ebenso wie die
Wanderhypothese Benfeys. Die Märchenstoffe sind überall ziemlich gleichartig
aus der Volksphantasie hervorgegangen. wenn auch natürlich besonders an¬
sprechende Formungen des Stoffes, die bei dem einen oder dem andern Volke
geglückt sind, von andern Völkern gern übernommen werden. Dem Märchen
liegt keine Geschichte, keine Sage zugrunde. Sein Stoff ist. was me und
nirgends erlebt wird. Seine einzige Kausalität ist der Zauber, jede seiner Be¬
gebenheiten ein Wunder. In der Sage greifen wohl Dämonen mit Wunder¬
wirkungen in den natürlichen Lauf der Dinge ein, das Märchen aber kennt gar
keine andre als Wunderwirkungen. Das Wunder ist ihm das Natürliche und
Selbstverständliche, „und neben diesem schrankenlosen Walten der Phantasie bleibt
für den regelmäßigen Verlauf der Dinge ebenso wie für die wirklichen Motive
menschlichen Handelns nur ein spärlicher Raum. Darum sind die Helden des
Mürchms charakterlos. Dem Zauber, der ihnen Glück oder Unheil bringt,
willenlos preisgegeben, fehlt ihnen die Möglichkeit, irgendwelche persönliche
Eigenschaften zu Wütigen. Wohl mangelt es in der Märchendichtung der Kultur¬
völker nicht an dem Gegensatz von gut und böse. Aber in der Regel sind es
nicht die Helden des Märchens, sondern die Zauberwesen, die guten Geister und
gütigen Feen, denen jene ihr Glück verdanken, oder die Unholde, die Kobolde
und Hexen, die sie bedrohen, denen das Märchen solche moralische Qualitäten
Zuweist. In alledem trügt dieses noch heute unverkennbar die Züge einer
primitiven Kultur, so sehr auch an den einzelnen Gestalten die Spuren einer
spätern Zeit und der Gegenwart, in die das Märchen hinabreicht. nicht fehlen.
Denn unter solch modernem Gewand bleiben jene beiden Merkmale die unbe¬
grenzte Herrschaft des Zaubers und die moralische Indifferenz der Hände luden
Menschen, immer erkennbar. Das sind aber die nämlichen Züge, die uns überall
«und als die wesentlichen Charaktereigenschaften des Naturmenschen begegnen
Mehr als irgendeine andre Form der Dichtung oder selbst der bildenden Kunst
h°t das Märchen, trotz der Wandelbarkeit der mündlichen Überlieferung, der
^ bis in späte Zeiten anvertraut blieb, diesen Erdgeruch natürlicher Ursprung-
Uchkeit treu bewahrt." Nicht übergegangen ins moderne Märchen sind zwei
andre Eigentümlichkeiten der Naturvölker. Diese ziehen Sonne Mond. Sterne.
?°item in ihre Mürchendichtung hinein, ebenso Tiere und eblose Gegen stände,
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[0705] lvundts Geschichte der musischen Künste das Kindliche umwandelt. Eben dieser kindliche Charakter des Märchens, der in seinem Namen liegt, und der in seiner dauerndsten Form, dem Kindermärchen, besonders deutlich sich ausprägt, ist es ja. der die heute noch weit verbreitete Theorie entsteh« ließ, das Märchen sei auch seiner wirklichen Entstehung nach nichts andres als eine im Laufe der Zeit eingetretne absteigende Veränderung von Mythus und Sage, eine dem kindlichen Verständnis des Volkes oder des wirklichen Kindes angepaßte spielende Wiederholung uralter Göttermythen." Grimm hat diese Hypothese aufgestellt, Wundt widerlegt sie. ebenso wie die Wanderhypothese Benfeys. Die Märchenstoffe sind überall ziemlich gleichartig aus der Volksphantasie hervorgegangen. wenn auch natürlich besonders an¬ sprechende Formungen des Stoffes, die bei dem einen oder dem andern Volke geglückt sind, von andern Völkern gern übernommen werden. Dem Märchen liegt keine Geschichte, keine Sage zugrunde. Sein Stoff ist. was me und nirgends erlebt wird. Seine einzige Kausalität ist der Zauber, jede seiner Be¬ gebenheiten ein Wunder. In der Sage greifen wohl Dämonen mit Wunder¬ wirkungen in den natürlichen Lauf der Dinge ein, das Märchen aber kennt gar keine andre als Wunderwirkungen. Das Wunder ist ihm das Natürliche und Selbstverständliche, „und neben diesem schrankenlosen Walten der Phantasie bleibt für den regelmäßigen Verlauf der Dinge ebenso wie für die wirklichen Motive menschlichen Handelns nur ein spärlicher Raum. Darum sind die Helden des Mürchms charakterlos. Dem Zauber, der ihnen Glück oder Unheil bringt, willenlos preisgegeben, fehlt ihnen die Möglichkeit, irgendwelche persönliche Eigenschaften zu Wütigen. Wohl mangelt es in der Märchendichtung der Kultur¬ völker nicht an dem Gegensatz von gut und böse. Aber in der Regel sind es nicht die Helden des Märchens, sondern die Zauberwesen, die guten Geister und gütigen Feen, denen jene ihr Glück verdanken, oder die Unholde, die Kobolde und Hexen, die sie bedrohen, denen das Märchen solche moralische Qualitäten Zuweist. In alledem trügt dieses noch heute unverkennbar die Züge einer primitiven Kultur, so sehr auch an den einzelnen Gestalten die Spuren einer spätern Zeit und der Gegenwart, in die das Märchen hinabreicht. nicht fehlen. Denn unter solch modernem Gewand bleiben jene beiden Merkmale die unbe¬ grenzte Herrschaft des Zaubers und die moralische Indifferenz der Hände luden Menschen, immer erkennbar. Das sind aber die nämlichen Züge, die uns überall «und als die wesentlichen Charaktereigenschaften des Naturmenschen begegnen Mehr als irgendeine andre Form der Dichtung oder selbst der bildenden Kunst h°t das Märchen, trotz der Wandelbarkeit der mündlichen Überlieferung, der ^ bis in späte Zeiten anvertraut blieb, diesen Erdgeruch natürlicher Ursprung- Uchkeit treu bewahrt." Nicht übergegangen ins moderne Märchen sind zwei andre Eigentümlichkeiten der Naturvölker. Diese ziehen Sonne Mond. Sterne. ?°item in ihre Mürchendichtung hinein, ebenso Tiere und eblose Gegen stände, die sie beleben Den Tieren hat die spätere Entwicklung zwei besondre Dichtungs¬ gattungen, die Fabel und das Tierepos, eingeräumt; die Himmelskörper aber Grenzboten IV 1906

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/705>, abgerufen am 23.07.2024.