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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Das Bild in der Dichtung

Ein Kind, das schon Vögel im Fluge beobachtet hat, wird, wenn es zum ersten¬
mal einen Schmetterling flattern sieht, sofort ausrufen: Das ist auch ein Vogel!
Sehr gekünstelt wird die Funktion der Apperzeption von Avenarius auf ein
angebliches Prinzip des kleinsten Kraftmaßes zurückgeführt. (Vgl. Philosophie
als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes S. 2 f.)

Aus der Apperzeption, der Grundfunktion des menschlichen Denkens, geht
die Metaphernbildung unmittelbar hervor. Je nach dem Anschauungs- und
Jdeenfonds des Individuums, der Nation gestaltet sich das poetische Bild. Wenn
der Inder im Donner den Hufschlag der göttlichen Rosse oder das Brüllen
der heiligen Kühe, der Russe das Brummen des Himmelsdrachen, der Lette das
Keifen des "Alten", der Grönländer den Streit verwünschter Weiber hört, so
geben uns solche Deutungen interessanten Einblick in das Seelenleben der ge¬
nannten Völker. Namentlich die religiösen Vorstellungen spielen hier eine
wichtige Rolle; die Mythologie ist Natur- und Lebenssymbolik. Sehr fein er¬
klärt zum Beispiel Max Müller das Epitheton des Sonnengotts Savitar "Gold¬
sand" in den Veden aus Naturanschauung: "Es war für Leute, welche die
goldnen Sonnenstrahlen beobachteten, wie sie sozusagen mit dem Laub der
Bäume spielen, ein sehr natürlicher Gedanke, von diesen sich hinstreckenden Strahlen
wie von Händen und Armen zu reden." Erst als man die ursprüngliche Ent¬
stehung des Beiworts nicht mehr verstanden habe, sei man zu der abgeschmackten
Sage gekommen, der Sonnengott habe beim Opfer die eine Hand abgeschnitten,
und diese sei durch eine künstliche ersetzt worden. Ähnlich ging es ja mit vielen
Sagen. Keineswegs aber darf man, wovor Max Müller selbst warnt, die
religiösen Funktionen in die ästhetischen ganz auflösen, wie es neuere (Emil
Stern, Biese) versuchen. Die Religion ist UrWeisheit, nicht Dichtung. "Die
Mythologie", sagt Max Müller in den Vorlesungen über die Sprache (S. 337),
"hat in das Gebiet der alten Religionen übergegriffen, sie hat ihr zuzeiten fast
das Lebenslicht ausgeblasen, und dennoch können wir durch das üppige und
giftige Unkraut der mythischen Phraseologie hindurch immer noch einen Blick
auf jenen Stamm gewinnen, um welchen dasselbe wuchert, und an dem es sich
hinaufwindet, und wir sehen ein, daß es ohne diesen Stamm nicht einmal das
Schmarotzerleben fristen könnte, welches man fälschlich für eine freie und unab¬
hängige Lebenskraft gehalten hat."

Von der Metapher im weitern Sinne muß die künstlerische Metapher ab¬
geschieden werden. Die erstere, die alle übertragnen Ausdrücke, auch die
ganz verblaßten, "inkarnierten", wie sie Gottschall nennt (Poetik S. 179), um¬
schließt und in die weitesten Beziehungen des menschlichen Denkens, in Religion,
Technik, Alltagssprache, ihre Ausläufer sendet, hat nur für die Sprachphilosophie
Bedeutung; einzig die künstlerische, namentlich die originelle Metapher wird als
solche empfunden und bietet ästhetischen Genuß. Aristoteles vermengt sie sprach¬
lich noch mit der Metonymie und Synekdoche, wenn er sie auch als Unterab¬
teilung des Tropus, als "Übertragung nach der Analogie" von der nach der


Das Bild in der Dichtung

Ein Kind, das schon Vögel im Fluge beobachtet hat, wird, wenn es zum ersten¬
mal einen Schmetterling flattern sieht, sofort ausrufen: Das ist auch ein Vogel!
Sehr gekünstelt wird die Funktion der Apperzeption von Avenarius auf ein
angebliches Prinzip des kleinsten Kraftmaßes zurückgeführt. (Vgl. Philosophie
als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes S. 2 f.)

Aus der Apperzeption, der Grundfunktion des menschlichen Denkens, geht
die Metaphernbildung unmittelbar hervor. Je nach dem Anschauungs- und
Jdeenfonds des Individuums, der Nation gestaltet sich das poetische Bild. Wenn
der Inder im Donner den Hufschlag der göttlichen Rosse oder das Brüllen
der heiligen Kühe, der Russe das Brummen des Himmelsdrachen, der Lette das
Keifen des „Alten", der Grönländer den Streit verwünschter Weiber hört, so
geben uns solche Deutungen interessanten Einblick in das Seelenleben der ge¬
nannten Völker. Namentlich die religiösen Vorstellungen spielen hier eine
wichtige Rolle; die Mythologie ist Natur- und Lebenssymbolik. Sehr fein er¬
klärt zum Beispiel Max Müller das Epitheton des Sonnengotts Savitar „Gold¬
sand" in den Veden aus Naturanschauung: „Es war für Leute, welche die
goldnen Sonnenstrahlen beobachteten, wie sie sozusagen mit dem Laub der
Bäume spielen, ein sehr natürlicher Gedanke, von diesen sich hinstreckenden Strahlen
wie von Händen und Armen zu reden." Erst als man die ursprüngliche Ent¬
stehung des Beiworts nicht mehr verstanden habe, sei man zu der abgeschmackten
Sage gekommen, der Sonnengott habe beim Opfer die eine Hand abgeschnitten,
und diese sei durch eine künstliche ersetzt worden. Ähnlich ging es ja mit vielen
Sagen. Keineswegs aber darf man, wovor Max Müller selbst warnt, die
religiösen Funktionen in die ästhetischen ganz auflösen, wie es neuere (Emil
Stern, Biese) versuchen. Die Religion ist UrWeisheit, nicht Dichtung. „Die
Mythologie", sagt Max Müller in den Vorlesungen über die Sprache (S. 337),
„hat in das Gebiet der alten Religionen übergegriffen, sie hat ihr zuzeiten fast
das Lebenslicht ausgeblasen, und dennoch können wir durch das üppige und
giftige Unkraut der mythischen Phraseologie hindurch immer noch einen Blick
auf jenen Stamm gewinnen, um welchen dasselbe wuchert, und an dem es sich
hinaufwindet, und wir sehen ein, daß es ohne diesen Stamm nicht einmal das
Schmarotzerleben fristen könnte, welches man fälschlich für eine freie und unab¬
hängige Lebenskraft gehalten hat."

Von der Metapher im weitern Sinne muß die künstlerische Metapher ab¬
geschieden werden. Die erstere, die alle übertragnen Ausdrücke, auch die
ganz verblaßten, „inkarnierten", wie sie Gottschall nennt (Poetik S. 179), um¬
schließt und in die weitesten Beziehungen des menschlichen Denkens, in Religion,
Technik, Alltagssprache, ihre Ausläufer sendet, hat nur für die Sprachphilosophie
Bedeutung; einzig die künstlerische, namentlich die originelle Metapher wird als
solche empfunden und bietet ästhetischen Genuß. Aristoteles vermengt sie sprach¬
lich noch mit der Metonymie und Synekdoche, wenn er sie auch als Unterab¬
teilung des Tropus, als „Übertragung nach der Analogie" von der nach der


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[0660] Das Bild in der Dichtung Ein Kind, das schon Vögel im Fluge beobachtet hat, wird, wenn es zum ersten¬ mal einen Schmetterling flattern sieht, sofort ausrufen: Das ist auch ein Vogel! Sehr gekünstelt wird die Funktion der Apperzeption von Avenarius auf ein angebliches Prinzip des kleinsten Kraftmaßes zurückgeführt. (Vgl. Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes S. 2 f.) Aus der Apperzeption, der Grundfunktion des menschlichen Denkens, geht die Metaphernbildung unmittelbar hervor. Je nach dem Anschauungs- und Jdeenfonds des Individuums, der Nation gestaltet sich das poetische Bild. Wenn der Inder im Donner den Hufschlag der göttlichen Rosse oder das Brüllen der heiligen Kühe, der Russe das Brummen des Himmelsdrachen, der Lette das Keifen des „Alten", der Grönländer den Streit verwünschter Weiber hört, so geben uns solche Deutungen interessanten Einblick in das Seelenleben der ge¬ nannten Völker. Namentlich die religiösen Vorstellungen spielen hier eine wichtige Rolle; die Mythologie ist Natur- und Lebenssymbolik. Sehr fein er¬ klärt zum Beispiel Max Müller das Epitheton des Sonnengotts Savitar „Gold¬ sand" in den Veden aus Naturanschauung: „Es war für Leute, welche die goldnen Sonnenstrahlen beobachteten, wie sie sozusagen mit dem Laub der Bäume spielen, ein sehr natürlicher Gedanke, von diesen sich hinstreckenden Strahlen wie von Händen und Armen zu reden." Erst als man die ursprüngliche Ent¬ stehung des Beiworts nicht mehr verstanden habe, sei man zu der abgeschmackten Sage gekommen, der Sonnengott habe beim Opfer die eine Hand abgeschnitten, und diese sei durch eine künstliche ersetzt worden. Ähnlich ging es ja mit vielen Sagen. Keineswegs aber darf man, wovor Max Müller selbst warnt, die religiösen Funktionen in die ästhetischen ganz auflösen, wie es neuere (Emil Stern, Biese) versuchen. Die Religion ist UrWeisheit, nicht Dichtung. „Die Mythologie", sagt Max Müller in den Vorlesungen über die Sprache (S. 337), „hat in das Gebiet der alten Religionen übergegriffen, sie hat ihr zuzeiten fast das Lebenslicht ausgeblasen, und dennoch können wir durch das üppige und giftige Unkraut der mythischen Phraseologie hindurch immer noch einen Blick auf jenen Stamm gewinnen, um welchen dasselbe wuchert, und an dem es sich hinaufwindet, und wir sehen ein, daß es ohne diesen Stamm nicht einmal das Schmarotzerleben fristen könnte, welches man fälschlich für eine freie und unab¬ hängige Lebenskraft gehalten hat." Von der Metapher im weitern Sinne muß die künstlerische Metapher ab¬ geschieden werden. Die erstere, die alle übertragnen Ausdrücke, auch die ganz verblaßten, „inkarnierten", wie sie Gottschall nennt (Poetik S. 179), um¬ schließt und in die weitesten Beziehungen des menschlichen Denkens, in Religion, Technik, Alltagssprache, ihre Ausläufer sendet, hat nur für die Sprachphilosophie Bedeutung; einzig die künstlerische, namentlich die originelle Metapher wird als solche empfunden und bietet ästhetischen Genuß. Aristoteles vermengt sie sprach¬ lich noch mit der Metonymie und Synekdoche, wenn er sie auch als Unterab¬ teilung des Tropus, als „Übertragung nach der Analogie" von der nach der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/660>, abgerufen am 23.07.2024.