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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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österreichischen Liberalismus der siebziger Jahre zu gedenken, schon weil dazu
der Raum einer Zeitschrift nicht ausreichen würde. Inzwischen ist die Zahl
der lebenden Zeugen jener Tage schon sehr gering geworden, und von ihnen
ist kaum eine Veröffentlichung zu erwarten. Die mit dem Sturz des
Ministeriums Adolf Auersperg zusammenhängenden Borgänge sind aber in ihren
Folgen für die Deutschösterreicher, und vielleicht für das Deutschtum über¬
haupt, nicht ohne geschichtlichen Wert, und wenn sich auch später die Auf¬
einanderfolge der Tatsachen selbst nach Zeitungen und Parlamentsprotokollen
leicht feststellen lassen wird, so würde dabei doch das wesentliche Element der
"Manieren und Terrorisiernugskunststücke" der Führer von damals gänzlich
fehlen, da die Blätter darüber kaum Andeutungen enthielten. Manches wird
sich denn nur noch aus Privatanfzeichnungen von Zeitgenossen ergänzen lassen.
Es wird aber gar nicht nötig sein, alle Einzelheiten festzustellen, sondern
einige charakteristische Fälle werden ausreichen, einen Einblick zu gewähren in
die Art, wie damals das liberale Deutschtum geführt wurde. Diesem Zweck
sollen die nachstehenden Zeilen dienen.

Die Episode, die hier zunächst erzählt werden soll, füllt schon in den
Februar 1876. Das Erstehen des Deutschen Reiches hatte eine Wendung in
der üußeru Politik des Kaiserstaates zuwege gebracht, und daraufhin fiel im
Sommer 1871 das föderalistische Ministerium Hohenwart. Der Hauch der
Zeit führte die durch das Giskrasche "Trinkgeldersystem" schwer kompromittierte
deutschliberale Partei zum drittenmal ans Staatsruder; es sollte ein neuer
Versuch mit dem Liberalismus, diesesmal mit der Einführung direkter Reichs¬
ratswahlen, gemacht werden. Im liberalen Lager verkannte man vollkommen
die wahre Ursache dieser Wendung, man sang zwar noch nicht die "Wacht
am Rhein", aber man fühlte sich doch den siegreichen Stammesgenossen drüben
im Reich ebenbürtig oder eigentlich nach der bis 1866 in Geltung gewesnen
Anschauung überlegen, man war jetzt ohne blutigen Kampf und anscheinend
durch eignes Verdienst wieder oben und wollte die Stammesbrüder draußen
nun an wahrem Deutschtum, worunter man jedoch nur doktrinären Liberalis¬
mus und Antiklerikalismus verstand, noch übertreffen. Preußen und das neue
Deutschland galten den Wiener Fortschrittlern eigentlich für recht "reaktionär".
Die tonangebenden Blätter schwelgten in den höchsten Tönen und taten das
ihrige, die öffentliche Meinung irrezuleiten und eine grobe Verkennung der
wirklichen politischen Verhältnisse herbeizuführen, manchesterliche und Börsen¬
einflüsse setzten sich an die Stelle der deutschen und vergrößerten den Wider¬
willen der Slawen gegen das deutschliberale System. Im Anfang ließ sich
freilich alles herrlich an; der von Deutschlands Milliarden ausgegangne wirt¬
schaftliche Aufschwung trieb in Wien die üppigsten Blüten, und die Wiener
Weltausstellung, die zur Feier des fünfundzwanzigjährigen Regierungsjnbiläums
des Kaisers Franz Joseph 1873 stattfand, sollte die großartigen Errungen¬
schaften der neuen liberalen Ära krönen. Es kam aber leider anders.


österreichischen Liberalismus der siebziger Jahre zu gedenken, schon weil dazu
der Raum einer Zeitschrift nicht ausreichen würde. Inzwischen ist die Zahl
der lebenden Zeugen jener Tage schon sehr gering geworden, und von ihnen
ist kaum eine Veröffentlichung zu erwarten. Die mit dem Sturz des
Ministeriums Adolf Auersperg zusammenhängenden Borgänge sind aber in ihren
Folgen für die Deutschösterreicher, und vielleicht für das Deutschtum über¬
haupt, nicht ohne geschichtlichen Wert, und wenn sich auch später die Auf¬
einanderfolge der Tatsachen selbst nach Zeitungen und Parlamentsprotokollen
leicht feststellen lassen wird, so würde dabei doch das wesentliche Element der
„Manieren und Terrorisiernugskunststücke" der Führer von damals gänzlich
fehlen, da die Blätter darüber kaum Andeutungen enthielten. Manches wird
sich denn nur noch aus Privatanfzeichnungen von Zeitgenossen ergänzen lassen.
Es wird aber gar nicht nötig sein, alle Einzelheiten festzustellen, sondern
einige charakteristische Fälle werden ausreichen, einen Einblick zu gewähren in
die Art, wie damals das liberale Deutschtum geführt wurde. Diesem Zweck
sollen die nachstehenden Zeilen dienen.

Die Episode, die hier zunächst erzählt werden soll, füllt schon in den
Februar 1876. Das Erstehen des Deutschen Reiches hatte eine Wendung in
der üußeru Politik des Kaiserstaates zuwege gebracht, und daraufhin fiel im
Sommer 1871 das föderalistische Ministerium Hohenwart. Der Hauch der
Zeit führte die durch das Giskrasche „Trinkgeldersystem" schwer kompromittierte
deutschliberale Partei zum drittenmal ans Staatsruder; es sollte ein neuer
Versuch mit dem Liberalismus, diesesmal mit der Einführung direkter Reichs¬
ratswahlen, gemacht werden. Im liberalen Lager verkannte man vollkommen
die wahre Ursache dieser Wendung, man sang zwar noch nicht die „Wacht
am Rhein", aber man fühlte sich doch den siegreichen Stammesgenossen drüben
im Reich ebenbürtig oder eigentlich nach der bis 1866 in Geltung gewesnen
Anschauung überlegen, man war jetzt ohne blutigen Kampf und anscheinend
durch eignes Verdienst wieder oben und wollte die Stammesbrüder draußen
nun an wahrem Deutschtum, worunter man jedoch nur doktrinären Liberalis¬
mus und Antiklerikalismus verstand, noch übertreffen. Preußen und das neue
Deutschland galten den Wiener Fortschrittlern eigentlich für recht „reaktionär".
Die tonangebenden Blätter schwelgten in den höchsten Tönen und taten das
ihrige, die öffentliche Meinung irrezuleiten und eine grobe Verkennung der
wirklichen politischen Verhältnisse herbeizuführen, manchesterliche und Börsen¬
einflüsse setzten sich an die Stelle der deutschen und vergrößerten den Wider¬
willen der Slawen gegen das deutschliberale System. Im Anfang ließ sich
freilich alles herrlich an; der von Deutschlands Milliarden ausgegangne wirt¬
schaftliche Aufschwung trieb in Wien die üppigsten Blüten, und die Wiener
Weltausstellung, die zur Feier des fünfundzwanzigjährigen Regierungsjnbiläums
des Kaisers Franz Joseph 1873 stattfand, sollte die großartigen Errungen¬
schaften der neuen liberalen Ära krönen. Es kam aber leider anders.


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[0578] österreichischen Liberalismus der siebziger Jahre zu gedenken, schon weil dazu der Raum einer Zeitschrift nicht ausreichen würde. Inzwischen ist die Zahl der lebenden Zeugen jener Tage schon sehr gering geworden, und von ihnen ist kaum eine Veröffentlichung zu erwarten. Die mit dem Sturz des Ministeriums Adolf Auersperg zusammenhängenden Borgänge sind aber in ihren Folgen für die Deutschösterreicher, und vielleicht für das Deutschtum über¬ haupt, nicht ohne geschichtlichen Wert, und wenn sich auch später die Auf¬ einanderfolge der Tatsachen selbst nach Zeitungen und Parlamentsprotokollen leicht feststellen lassen wird, so würde dabei doch das wesentliche Element der „Manieren und Terrorisiernugskunststücke" der Führer von damals gänzlich fehlen, da die Blätter darüber kaum Andeutungen enthielten. Manches wird sich denn nur noch aus Privatanfzeichnungen von Zeitgenossen ergänzen lassen. Es wird aber gar nicht nötig sein, alle Einzelheiten festzustellen, sondern einige charakteristische Fälle werden ausreichen, einen Einblick zu gewähren in die Art, wie damals das liberale Deutschtum geführt wurde. Diesem Zweck sollen die nachstehenden Zeilen dienen. Die Episode, die hier zunächst erzählt werden soll, füllt schon in den Februar 1876. Das Erstehen des Deutschen Reiches hatte eine Wendung in der üußeru Politik des Kaiserstaates zuwege gebracht, und daraufhin fiel im Sommer 1871 das föderalistische Ministerium Hohenwart. Der Hauch der Zeit führte die durch das Giskrasche „Trinkgeldersystem" schwer kompromittierte deutschliberale Partei zum drittenmal ans Staatsruder; es sollte ein neuer Versuch mit dem Liberalismus, diesesmal mit der Einführung direkter Reichs¬ ratswahlen, gemacht werden. Im liberalen Lager verkannte man vollkommen die wahre Ursache dieser Wendung, man sang zwar noch nicht die „Wacht am Rhein", aber man fühlte sich doch den siegreichen Stammesgenossen drüben im Reich ebenbürtig oder eigentlich nach der bis 1866 in Geltung gewesnen Anschauung überlegen, man war jetzt ohne blutigen Kampf und anscheinend durch eignes Verdienst wieder oben und wollte die Stammesbrüder draußen nun an wahrem Deutschtum, worunter man jedoch nur doktrinären Liberalis¬ mus und Antiklerikalismus verstand, noch übertreffen. Preußen und das neue Deutschland galten den Wiener Fortschrittlern eigentlich für recht „reaktionär". Die tonangebenden Blätter schwelgten in den höchsten Tönen und taten das ihrige, die öffentliche Meinung irrezuleiten und eine grobe Verkennung der wirklichen politischen Verhältnisse herbeizuführen, manchesterliche und Börsen¬ einflüsse setzten sich an die Stelle der deutschen und vergrößerten den Wider¬ willen der Slawen gegen das deutschliberale System. Im Anfang ließ sich freilich alles herrlich an; der von Deutschlands Milliarden ausgegangne wirt¬ schaftliche Aufschwung trieb in Wien die üppigsten Blüten, und die Wiener Weltausstellung, die zur Feier des fünfundzwanzigjährigen Regierungsjnbiläums des Kaisers Franz Joseph 1873 stattfand, sollte die großartigen Errungen¬ schaften der neuen liberalen Ära krönen. Es kam aber leider anders.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/578>, abgerufen am 23.07.2024.