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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Luftreisen

Nach links und rechts schweift der Blick in Talgründe und auf Matten, die
sich zwischen dunkle Wälder drangen. Reges Leben ist überall in der Natur
erwacht. Hoch- und Rehwild kehrt von den Äsungsplätzen zurück, vielstimmiger
Vogelgesang und Kuckucksruf erklingt. Höher steigt die Sonne, höher der Berg¬
rücken vor uns. die Gipfel von Wolken umhüllt, sodaß sie wie schneebedeckt
erscheinen, höher müssen auch wir steigen, um wieder in stottern Wind zu kommen,
denn der Kamm des Thüringer Waldes hemmt seine Wirkung. Wir rollen das
Schlepptau ab. streifen damit leicht die obersten Baumwipfel und schweben um
fünf Uhr in 1150 Meter Höhe über den Quellen der Apfelstedt und dem
Nennsteig. Auf dem südwestlichen Abhang folgt, immer tiefer hinabsteigend,
eine Ortschaft der andern bis nach Schmalkalden und ins Werratal. Hier
wiederholt sich dieselbe Erscheinung wie nördlich vom Kamme: ein dichtes Nebel¬
meer füllt die Täter, aus dem einzelne höhere Pnnkte wie Schloß Wilhelms¬
burg inselartig hervorlugen. Die schrägstehende Sonne wirft lange tiefe
Schatten.

Bei Wasungen überfliegen wir die Werra, deren breite, aber scharf ein-
geschnittne Talsenkung wir aufwärts weit nach Meiningen zu überschauen können.
Bon allen Kirchen tönt das Sechsuhrlüuten zu uns herauf. Wieder erhebt
sich ein Gebirge vor uns. ein basaltisches Plateau mit aufgesetzten vereinzelten
Kuppen und spärlichem Wald, dagegen vielen Bergwiesen, Kartoffel- und Flachs¬
feldern, auch Hochmooren, die Hohe Rhön, deren Längsrichtung so ziemlich
unsrer noch immer südwestlichen Fahrtlinie entspricht. Über Fladungen und
eine Anzahl strahlenförmig oder spinnenartig angelegter Dörfer trügt uns der
Ballon zwischen den beiden höchsten Erhebungen des Gebirges, der Wasserkuppe
und dem Kreuzberg, dessen Kloster sichtbar wird, mitten hindurch. Ihre Höhe
freilich macht uns wenig Eindruck, da die immer wärmer strahlende Sonne uns
selbst schon auf 2000 Meter emporgezogen hat. Dafür eröffnet sich uns aber
ein weiter Ausblick nach Osten und nach Süden in die Täter der Fränkischen
Saale und aller ihrer Zuflüsse, der Sinn und des durch seine Breite und seine
charakteristischen Windungen unverkennbaren Mains zwischen Lohr und Gemunden
und eine Strecke weiter aufwärts nach WÜrzbnrg zu. fast alle durch Eisenbahnen
belebt, auf denen sich die Züge über Viadukte und durch Tunnel nach den be¬
kannten Badeorten Kissingen und Brückenau bewegen. Kurz, es geht uns wieder
einmal wie so oft bei Ballonfahrten: das Auge weiß nicht, wohin es sich
wenden soll, um sich so wenig als möglich entgehn zu lassen. Da zwingt uns
ein Punkt südlich über dem Saaltale nachdrücklich, ihm unsre Aufmerksamkeit
zuzuwenden: lebhaftes Geschützfeuer dröhnt von dorther, die Batterien einer
ganzen Artillerieabteilung sind beim Scharfschießen, es ist der bayrische Truppen¬
übungsplatz Hammelburg. ", .

Auf einige Zeit wird der Main unsern Blicken wieder entzogen, wahrend
wir uns der Hochflüche des Spessart nähern. Keine einzige größere Ortschaft
auf dem weiten Gebiete, dagegen ausgedehnte Eichen- und Tannenwälder, an


Luftreisen

Nach links und rechts schweift der Blick in Talgründe und auf Matten, die
sich zwischen dunkle Wälder drangen. Reges Leben ist überall in der Natur
erwacht. Hoch- und Rehwild kehrt von den Äsungsplätzen zurück, vielstimmiger
Vogelgesang und Kuckucksruf erklingt. Höher steigt die Sonne, höher der Berg¬
rücken vor uns. die Gipfel von Wolken umhüllt, sodaß sie wie schneebedeckt
erscheinen, höher müssen auch wir steigen, um wieder in stottern Wind zu kommen,
denn der Kamm des Thüringer Waldes hemmt seine Wirkung. Wir rollen das
Schlepptau ab. streifen damit leicht die obersten Baumwipfel und schweben um
fünf Uhr in 1150 Meter Höhe über den Quellen der Apfelstedt und dem
Nennsteig. Auf dem südwestlichen Abhang folgt, immer tiefer hinabsteigend,
eine Ortschaft der andern bis nach Schmalkalden und ins Werratal. Hier
wiederholt sich dieselbe Erscheinung wie nördlich vom Kamme: ein dichtes Nebel¬
meer füllt die Täter, aus dem einzelne höhere Pnnkte wie Schloß Wilhelms¬
burg inselartig hervorlugen. Die schrägstehende Sonne wirft lange tiefe
Schatten.

Bei Wasungen überfliegen wir die Werra, deren breite, aber scharf ein-
geschnittne Talsenkung wir aufwärts weit nach Meiningen zu überschauen können.
Bon allen Kirchen tönt das Sechsuhrlüuten zu uns herauf. Wieder erhebt
sich ein Gebirge vor uns. ein basaltisches Plateau mit aufgesetzten vereinzelten
Kuppen und spärlichem Wald, dagegen vielen Bergwiesen, Kartoffel- und Flachs¬
feldern, auch Hochmooren, die Hohe Rhön, deren Längsrichtung so ziemlich
unsrer noch immer südwestlichen Fahrtlinie entspricht. Über Fladungen und
eine Anzahl strahlenförmig oder spinnenartig angelegter Dörfer trügt uns der
Ballon zwischen den beiden höchsten Erhebungen des Gebirges, der Wasserkuppe
und dem Kreuzberg, dessen Kloster sichtbar wird, mitten hindurch. Ihre Höhe
freilich macht uns wenig Eindruck, da die immer wärmer strahlende Sonne uns
selbst schon auf 2000 Meter emporgezogen hat. Dafür eröffnet sich uns aber
ein weiter Ausblick nach Osten und nach Süden in die Täter der Fränkischen
Saale und aller ihrer Zuflüsse, der Sinn und des durch seine Breite und seine
charakteristischen Windungen unverkennbaren Mains zwischen Lohr und Gemunden
und eine Strecke weiter aufwärts nach WÜrzbnrg zu. fast alle durch Eisenbahnen
belebt, auf denen sich die Züge über Viadukte und durch Tunnel nach den be¬
kannten Badeorten Kissingen und Brückenau bewegen. Kurz, es geht uns wieder
einmal wie so oft bei Ballonfahrten: das Auge weiß nicht, wohin es sich
wenden soll, um sich so wenig als möglich entgehn zu lassen. Da zwingt uns
ein Punkt südlich über dem Saaltale nachdrücklich, ihm unsre Aufmerksamkeit
zuzuwenden: lebhaftes Geschützfeuer dröhnt von dorther, die Batterien einer
ganzen Artillerieabteilung sind beim Scharfschießen, es ist der bayrische Truppen¬
übungsplatz Hammelburg. „, .

Auf einige Zeit wird der Main unsern Blicken wieder entzogen, wahrend
wir uns der Hochflüche des Spessart nähern. Keine einzige größere Ortschaft
auf dem weiten Gebiete, dagegen ausgedehnte Eichen- und Tannenwälder, an


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[0053] Luftreisen Nach links und rechts schweift der Blick in Talgründe und auf Matten, die sich zwischen dunkle Wälder drangen. Reges Leben ist überall in der Natur erwacht. Hoch- und Rehwild kehrt von den Äsungsplätzen zurück, vielstimmiger Vogelgesang und Kuckucksruf erklingt. Höher steigt die Sonne, höher der Berg¬ rücken vor uns. die Gipfel von Wolken umhüllt, sodaß sie wie schneebedeckt erscheinen, höher müssen auch wir steigen, um wieder in stottern Wind zu kommen, denn der Kamm des Thüringer Waldes hemmt seine Wirkung. Wir rollen das Schlepptau ab. streifen damit leicht die obersten Baumwipfel und schweben um fünf Uhr in 1150 Meter Höhe über den Quellen der Apfelstedt und dem Nennsteig. Auf dem südwestlichen Abhang folgt, immer tiefer hinabsteigend, eine Ortschaft der andern bis nach Schmalkalden und ins Werratal. Hier wiederholt sich dieselbe Erscheinung wie nördlich vom Kamme: ein dichtes Nebel¬ meer füllt die Täter, aus dem einzelne höhere Pnnkte wie Schloß Wilhelms¬ burg inselartig hervorlugen. Die schrägstehende Sonne wirft lange tiefe Schatten. Bei Wasungen überfliegen wir die Werra, deren breite, aber scharf ein- geschnittne Talsenkung wir aufwärts weit nach Meiningen zu überschauen können. Bon allen Kirchen tönt das Sechsuhrlüuten zu uns herauf. Wieder erhebt sich ein Gebirge vor uns. ein basaltisches Plateau mit aufgesetzten vereinzelten Kuppen und spärlichem Wald, dagegen vielen Bergwiesen, Kartoffel- und Flachs¬ feldern, auch Hochmooren, die Hohe Rhön, deren Längsrichtung so ziemlich unsrer noch immer südwestlichen Fahrtlinie entspricht. Über Fladungen und eine Anzahl strahlenförmig oder spinnenartig angelegter Dörfer trügt uns der Ballon zwischen den beiden höchsten Erhebungen des Gebirges, der Wasserkuppe und dem Kreuzberg, dessen Kloster sichtbar wird, mitten hindurch. Ihre Höhe freilich macht uns wenig Eindruck, da die immer wärmer strahlende Sonne uns selbst schon auf 2000 Meter emporgezogen hat. Dafür eröffnet sich uns aber ein weiter Ausblick nach Osten und nach Süden in die Täter der Fränkischen Saale und aller ihrer Zuflüsse, der Sinn und des durch seine Breite und seine charakteristischen Windungen unverkennbaren Mains zwischen Lohr und Gemunden und eine Strecke weiter aufwärts nach WÜrzbnrg zu. fast alle durch Eisenbahnen belebt, auf denen sich die Züge über Viadukte und durch Tunnel nach den be¬ kannten Badeorten Kissingen und Brückenau bewegen. Kurz, es geht uns wieder einmal wie so oft bei Ballonfahrten: das Auge weiß nicht, wohin es sich wenden soll, um sich so wenig als möglich entgehn zu lassen. Da zwingt uns ein Punkt südlich über dem Saaltale nachdrücklich, ihm unsre Aufmerksamkeit zuzuwenden: lebhaftes Geschützfeuer dröhnt von dorther, die Batterien einer ganzen Artillerieabteilung sind beim Scharfschießen, es ist der bayrische Truppen¬ übungsplatz Hammelburg. „, . Auf einige Zeit wird der Main unsern Blicken wieder entzogen, wahrend wir uns der Hochflüche des Spessart nähern. Keine einzige größere Ortschaft auf dem weiten Gebiete, dagegen ausgedehnte Eichen- und Tannenwälder, an

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/53>, abgerufen am 23.07.2024.