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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Gin neuer Erzähler

..Michael Hely" (Berlin, G. Grote) ist in der Tat ein besondres Buch, das
sich sogar unter den vielen heutigen Entwicklungsromanen durch seine scharfe
Profilierung abhebt. Michael Hely ist in einem Dorfe des Odenwaldes ge¬
boren als Sproß eines verlumpenden Sargtischlers, der von einem durch den
Alkohol herabgewirtschafteten Geschlechte stammt. Die Mutter ist die Tochter
fahrender Siebmacherleute. So tritt Michael schon mißachtet, unter schmutzigem
Dach ins Leben. Und wie sich auch in seiner reinen und mit echter Resonanz
für heilige Klänge begabten Seele die Sehnsucht zu einem Leben in lichteren
Glänze regt, wie sich in kleinen Zügen -- so in der Neigung zur Kreatur --
ein unschuldiges Herz aus der schmutzigen Umwelt lösen will -- immer stoßen
die kaum bewegten Flügel gegen Schranken. Verkennung, Bosheit, Gedanken¬
losigkeit bannen den Aufstrebenden immer wieder in Niedrigkeit und Druck.
So wird er, der doch auch ein Erbteil zigeunernder und trinkender Vorfahren
trägt, in instinktiver Abwehr der Dorfteufel, der durch Streiche und Possen
sich selbst über vieles hinwegzutäuschen und eine halb unbewußte Rache zu
üben weiß. Auch damit ists auf die Dauer nichts. Und nach einer furcht¬
baren Zeit im Untersuchungsgefängnis wird der Michael Hely ein stiller
Tischlergeselle, macht Wiegen und Schränke, wie der Vater Särge. Mit dessen
Tod und der Mutter Weggang reißt das einzige Band, das Michael mit dem
Heimatsort verbindet, und er verschwindet.

Er geht, für heutige Begriffe, nicht weit. In den fünfziger Jahren aber
lag ein größeres Stück Welt zwischen dem Odenwald und dem südlichen
Schwarzwald. So kann Hely, ungekannt, ein Leben von unten an aufbauen,
dem rohe Brutalität dann die Krone verweigert, eine Brutalität, an der ge¬
messen das ihr vorangehende Verschulden des Helden geringfügig erscheint.
Was nun folgt, ist nur der logische Abschluß dieses Lebens. Ein Mörder
an dem Zerstörer seines Glücks kann Hely zuletzt doch nicht werden. Er ver¬
schließt sich wieder in sich, nimmt Dienste in der algerischen Fremdenlegion
und bringt die letzten Lebensjahre in der Heimat zu, einem alten Turme als
Glöckner geschworen. Ein paar Tage, nachdem er die Liebe seiner Jugend
wieder gesehen, ihren und seinen Sohn, ein Fremder, gegrüßt hat, finden ihn
seine Mitbürger mit zerschmetterten Gliedern am Fuße seines Turmes. Seine
letzten Jahre aber umgibt die scheue Liebe der Dorfkinder, deren eines uns nun
seine Geschichte erzählt.

Karrillon ist einer von den Autoren, die immer wieder rusäig-s in rss
gehn. An keiner Stelle wird der Gang seines Romans schleppend, auch da
nicht, wo langsame Entwicklungen zu schildern sind -- eine Klippe, daran viele
scheitern. Wie dieser Michael Hely, dessen Erzeuger weder theoretische noch
Praktische Pädagogik kennen, in besonderm Sinne als ein Naturprodukt auf¬
wächst, so wächst auch in natürlichem Aufbau seine Lebensgeschichte vor uns
empor. Und ebenso echte Natur ist alles, was ihn umgibt. Alle diese oft
wunderlichen Gestalten, deren Körperlichkeit wie mit dem Anatomenauge des


Gin neuer Erzähler

..Michael Hely" (Berlin, G. Grote) ist in der Tat ein besondres Buch, das
sich sogar unter den vielen heutigen Entwicklungsromanen durch seine scharfe
Profilierung abhebt. Michael Hely ist in einem Dorfe des Odenwaldes ge¬
boren als Sproß eines verlumpenden Sargtischlers, der von einem durch den
Alkohol herabgewirtschafteten Geschlechte stammt. Die Mutter ist die Tochter
fahrender Siebmacherleute. So tritt Michael schon mißachtet, unter schmutzigem
Dach ins Leben. Und wie sich auch in seiner reinen und mit echter Resonanz
für heilige Klänge begabten Seele die Sehnsucht zu einem Leben in lichteren
Glänze regt, wie sich in kleinen Zügen — so in der Neigung zur Kreatur —
ein unschuldiges Herz aus der schmutzigen Umwelt lösen will — immer stoßen
die kaum bewegten Flügel gegen Schranken. Verkennung, Bosheit, Gedanken¬
losigkeit bannen den Aufstrebenden immer wieder in Niedrigkeit und Druck.
So wird er, der doch auch ein Erbteil zigeunernder und trinkender Vorfahren
trägt, in instinktiver Abwehr der Dorfteufel, der durch Streiche und Possen
sich selbst über vieles hinwegzutäuschen und eine halb unbewußte Rache zu
üben weiß. Auch damit ists auf die Dauer nichts. Und nach einer furcht¬
baren Zeit im Untersuchungsgefängnis wird der Michael Hely ein stiller
Tischlergeselle, macht Wiegen und Schränke, wie der Vater Särge. Mit dessen
Tod und der Mutter Weggang reißt das einzige Band, das Michael mit dem
Heimatsort verbindet, und er verschwindet.

Er geht, für heutige Begriffe, nicht weit. In den fünfziger Jahren aber
lag ein größeres Stück Welt zwischen dem Odenwald und dem südlichen
Schwarzwald. So kann Hely, ungekannt, ein Leben von unten an aufbauen,
dem rohe Brutalität dann die Krone verweigert, eine Brutalität, an der ge¬
messen das ihr vorangehende Verschulden des Helden geringfügig erscheint.
Was nun folgt, ist nur der logische Abschluß dieses Lebens. Ein Mörder
an dem Zerstörer seines Glücks kann Hely zuletzt doch nicht werden. Er ver¬
schließt sich wieder in sich, nimmt Dienste in der algerischen Fremdenlegion
und bringt die letzten Lebensjahre in der Heimat zu, einem alten Turme als
Glöckner geschworen. Ein paar Tage, nachdem er die Liebe seiner Jugend
wieder gesehen, ihren und seinen Sohn, ein Fremder, gegrüßt hat, finden ihn
seine Mitbürger mit zerschmetterten Gliedern am Fuße seines Turmes. Seine
letzten Jahre aber umgibt die scheue Liebe der Dorfkinder, deren eines uns nun
seine Geschichte erzählt.

Karrillon ist einer von den Autoren, die immer wieder rusäig-s in rss
gehn. An keiner Stelle wird der Gang seines Romans schleppend, auch da
nicht, wo langsame Entwicklungen zu schildern sind — eine Klippe, daran viele
scheitern. Wie dieser Michael Hely, dessen Erzeuger weder theoretische noch
Praktische Pädagogik kennen, in besonderm Sinne als ein Naturprodukt auf¬
wächst, so wächst auch in natürlichem Aufbau seine Lebensgeschichte vor uns
empor. Und ebenso echte Natur ist alles, was ihn umgibt. Alle diese oft
wunderlichen Gestalten, deren Körperlichkeit wie mit dem Anatomenauge des


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[0047] Gin neuer Erzähler ..Michael Hely" (Berlin, G. Grote) ist in der Tat ein besondres Buch, das sich sogar unter den vielen heutigen Entwicklungsromanen durch seine scharfe Profilierung abhebt. Michael Hely ist in einem Dorfe des Odenwaldes ge¬ boren als Sproß eines verlumpenden Sargtischlers, der von einem durch den Alkohol herabgewirtschafteten Geschlechte stammt. Die Mutter ist die Tochter fahrender Siebmacherleute. So tritt Michael schon mißachtet, unter schmutzigem Dach ins Leben. Und wie sich auch in seiner reinen und mit echter Resonanz für heilige Klänge begabten Seele die Sehnsucht zu einem Leben in lichteren Glänze regt, wie sich in kleinen Zügen — so in der Neigung zur Kreatur — ein unschuldiges Herz aus der schmutzigen Umwelt lösen will — immer stoßen die kaum bewegten Flügel gegen Schranken. Verkennung, Bosheit, Gedanken¬ losigkeit bannen den Aufstrebenden immer wieder in Niedrigkeit und Druck. So wird er, der doch auch ein Erbteil zigeunernder und trinkender Vorfahren trägt, in instinktiver Abwehr der Dorfteufel, der durch Streiche und Possen sich selbst über vieles hinwegzutäuschen und eine halb unbewußte Rache zu üben weiß. Auch damit ists auf die Dauer nichts. Und nach einer furcht¬ baren Zeit im Untersuchungsgefängnis wird der Michael Hely ein stiller Tischlergeselle, macht Wiegen und Schränke, wie der Vater Särge. Mit dessen Tod und der Mutter Weggang reißt das einzige Band, das Michael mit dem Heimatsort verbindet, und er verschwindet. Er geht, für heutige Begriffe, nicht weit. In den fünfziger Jahren aber lag ein größeres Stück Welt zwischen dem Odenwald und dem südlichen Schwarzwald. So kann Hely, ungekannt, ein Leben von unten an aufbauen, dem rohe Brutalität dann die Krone verweigert, eine Brutalität, an der ge¬ messen das ihr vorangehende Verschulden des Helden geringfügig erscheint. Was nun folgt, ist nur der logische Abschluß dieses Lebens. Ein Mörder an dem Zerstörer seines Glücks kann Hely zuletzt doch nicht werden. Er ver¬ schließt sich wieder in sich, nimmt Dienste in der algerischen Fremdenlegion und bringt die letzten Lebensjahre in der Heimat zu, einem alten Turme als Glöckner geschworen. Ein paar Tage, nachdem er die Liebe seiner Jugend wieder gesehen, ihren und seinen Sohn, ein Fremder, gegrüßt hat, finden ihn seine Mitbürger mit zerschmetterten Gliedern am Fuße seines Turmes. Seine letzten Jahre aber umgibt die scheue Liebe der Dorfkinder, deren eines uns nun seine Geschichte erzählt. Karrillon ist einer von den Autoren, die immer wieder rusäig-s in rss gehn. An keiner Stelle wird der Gang seines Romans schleppend, auch da nicht, wo langsame Entwicklungen zu schildern sind — eine Klippe, daran viele scheitern. Wie dieser Michael Hely, dessen Erzeuger weder theoretische noch Praktische Pädagogik kennen, in besonderm Sinne als ein Naturprodukt auf¬ wächst, so wächst auch in natürlichem Aufbau seine Lebensgeschichte vor uns empor. Und ebenso echte Natur ist alles, was ihn umgibt. Alle diese oft wunderlichen Gestalten, deren Körperlichkeit wie mit dem Anatomenauge des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/47>, abgerufen am 25.08.2024.