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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Hartmami über das Leben

"Sie schöpfen aus dem Blute, aber sie nehmen jeden Bestandteil des Blutes
in einem andern Verhältnis auf, als er im Blute enthalten ist, und stellen
so eine Milch her, die alle Stoffe genau in dem Verhältnis enthält, wie sie
der Säugling der betreffenden Tierart braucht. In den Zellen ohne Aus¬
führungsgang, wie in denen der Schilddrüse, haben die Zellen noch unbekannte
Stoffe, wahrscheinlich Fermente, ans den Blutbestandteilen herzustellen und
diese lebenswichtigen und unentbehrlichen Stoffe durch dieselben Gefüßwandungen
in das Blut zurückzubefördern, durch die hindurch sie ihre Bestandteile an sich
gezogen hatten. In demselben Sinne übt jede Zelle eine Auswahl in betreff
der Stoffe und Stoffmengen, die sie in sich aufnimmt, und die sie zurückgibt
und weitergibt. Im einzelligen Organismus dient das Protoplasma mit
dieser Tätigkeit mir dem eignen Jndividualinteressc, im zusammengesetzten
Organismus mit durchgeführter Arbeitsteilung zugleich und vor allem den
Interessen des Gesamtorganismus und der Spezies, der er angehört. In
keinem Organ des Körpers läßt sich ein mechanischer Einfluß des Blutdrucks
auf die Beschaffenheit und Menge der von einer Zelle aufgenommnen und
ausgeschiednen Stoffe nachweisen; überall ist die Zelle selbsttätig in ihren
Reaktionen auf die gegebnen Umstände." Woraus unter anderm deutlich
hervorgeht, daß die Osmose der Zellwände grundverschieden ist von der rein
mechanischen Osmose, bei der irgendein Zug oder Druck Flüssigkeiten durch
poröse Häute oder Wände befördert. Die Zellhäutchen lassen nur durch, was
nach Art und Menge die augenblickliche Aufgabe ihrer Zelle fordert, zu ver-
schiednen Zeiten und in verschiedner Richtung verschiednes, und weisen das
nicht Zweckdienliche zurück. Wenn bei schlechthin unerklärbarer Wundern von
einem Gradunterschiede der Wunderbarkeit die Rede sein könnte, würden wir
es als das Wunderbarste erklären, daß sich die Zellen Arbeitsstoffe bereiten,
die man Katalysatoren und Fermente nennt, daß sie Borstufen solcher,
gewissermaßen Halbfabrikate schaffen, die sie vorrätig halten und in dem
Augenblick fertigmachen, wo sie ihrer bedürfen, wie denn auch die fertigen
je nach Bedarf entweder sich ruhig verhalten oder in Tätigkeit treten, aktiviert
werden. Hartmann stellt die Wirkungsweise dieser Stoffe ausführlich dar. Wir
merken nur an, daß Katalysatoren die Aufgabe haben, eine chemische Um-
wandlung zu verlangsamen oder zu beschleunigen, und daß sie bei ihrer
Wirksamkeit nicht verbraucht werden, also auch nicht in das Endergebnis der
Umwandlung mit eingehen. Dieses eben nun macht nach Hartmann den letzten
innern Unterschied zwischen den chemischen Vorgängen im Protoplasma und
denen im Laboratorium aus, daß jenes alle Spaltungen und Verbindungen
mit Hilfe organischer Stoffe bewirkt, die es sich selbst bereitet, und die dem
Chemiker nicht zu Gebote stehn, weil er sie nicht herstellen kann. Die Zelle
schafft keine neuen chemischen Verwandtschaften, aber sie benutzt die vorhandnen
in eigentümlicher Weise. Das Leben schafft überhaupt keine Energie, "sondern
zehrt von dem Energiestrom, der unmittelbar oder mittelbar von der Sonne


Hartmami über das Leben

„Sie schöpfen aus dem Blute, aber sie nehmen jeden Bestandteil des Blutes
in einem andern Verhältnis auf, als er im Blute enthalten ist, und stellen
so eine Milch her, die alle Stoffe genau in dem Verhältnis enthält, wie sie
der Säugling der betreffenden Tierart braucht. In den Zellen ohne Aus¬
führungsgang, wie in denen der Schilddrüse, haben die Zellen noch unbekannte
Stoffe, wahrscheinlich Fermente, ans den Blutbestandteilen herzustellen und
diese lebenswichtigen und unentbehrlichen Stoffe durch dieselben Gefüßwandungen
in das Blut zurückzubefördern, durch die hindurch sie ihre Bestandteile an sich
gezogen hatten. In demselben Sinne übt jede Zelle eine Auswahl in betreff
der Stoffe und Stoffmengen, die sie in sich aufnimmt, und die sie zurückgibt
und weitergibt. Im einzelligen Organismus dient das Protoplasma mit
dieser Tätigkeit mir dem eignen Jndividualinteressc, im zusammengesetzten
Organismus mit durchgeführter Arbeitsteilung zugleich und vor allem den
Interessen des Gesamtorganismus und der Spezies, der er angehört. In
keinem Organ des Körpers läßt sich ein mechanischer Einfluß des Blutdrucks
auf die Beschaffenheit und Menge der von einer Zelle aufgenommnen und
ausgeschiednen Stoffe nachweisen; überall ist die Zelle selbsttätig in ihren
Reaktionen auf die gegebnen Umstände." Woraus unter anderm deutlich
hervorgeht, daß die Osmose der Zellwände grundverschieden ist von der rein
mechanischen Osmose, bei der irgendein Zug oder Druck Flüssigkeiten durch
poröse Häute oder Wände befördert. Die Zellhäutchen lassen nur durch, was
nach Art und Menge die augenblickliche Aufgabe ihrer Zelle fordert, zu ver-
schiednen Zeiten und in verschiedner Richtung verschiednes, und weisen das
nicht Zweckdienliche zurück. Wenn bei schlechthin unerklärbarer Wundern von
einem Gradunterschiede der Wunderbarkeit die Rede sein könnte, würden wir
es als das Wunderbarste erklären, daß sich die Zellen Arbeitsstoffe bereiten,
die man Katalysatoren und Fermente nennt, daß sie Borstufen solcher,
gewissermaßen Halbfabrikate schaffen, die sie vorrätig halten und in dem
Augenblick fertigmachen, wo sie ihrer bedürfen, wie denn auch die fertigen
je nach Bedarf entweder sich ruhig verhalten oder in Tätigkeit treten, aktiviert
werden. Hartmann stellt die Wirkungsweise dieser Stoffe ausführlich dar. Wir
merken nur an, daß Katalysatoren die Aufgabe haben, eine chemische Um-
wandlung zu verlangsamen oder zu beschleunigen, und daß sie bei ihrer
Wirksamkeit nicht verbraucht werden, also auch nicht in das Endergebnis der
Umwandlung mit eingehen. Dieses eben nun macht nach Hartmann den letzten
innern Unterschied zwischen den chemischen Vorgängen im Protoplasma und
denen im Laboratorium aus, daß jenes alle Spaltungen und Verbindungen
mit Hilfe organischer Stoffe bewirkt, die es sich selbst bereitet, und die dem
Chemiker nicht zu Gebote stehn, weil er sie nicht herstellen kann. Die Zelle
schafft keine neuen chemischen Verwandtschaften, aber sie benutzt die vorhandnen
in eigentümlicher Weise. Das Leben schafft überhaupt keine Energie, „sondern
zehrt von dem Energiestrom, der unmittelbar oder mittelbar von der Sonne


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[0410] Hartmami über das Leben „Sie schöpfen aus dem Blute, aber sie nehmen jeden Bestandteil des Blutes in einem andern Verhältnis auf, als er im Blute enthalten ist, und stellen so eine Milch her, die alle Stoffe genau in dem Verhältnis enthält, wie sie der Säugling der betreffenden Tierart braucht. In den Zellen ohne Aus¬ führungsgang, wie in denen der Schilddrüse, haben die Zellen noch unbekannte Stoffe, wahrscheinlich Fermente, ans den Blutbestandteilen herzustellen und diese lebenswichtigen und unentbehrlichen Stoffe durch dieselben Gefüßwandungen in das Blut zurückzubefördern, durch die hindurch sie ihre Bestandteile an sich gezogen hatten. In demselben Sinne übt jede Zelle eine Auswahl in betreff der Stoffe und Stoffmengen, die sie in sich aufnimmt, und die sie zurückgibt und weitergibt. Im einzelligen Organismus dient das Protoplasma mit dieser Tätigkeit mir dem eignen Jndividualinteressc, im zusammengesetzten Organismus mit durchgeführter Arbeitsteilung zugleich und vor allem den Interessen des Gesamtorganismus und der Spezies, der er angehört. In keinem Organ des Körpers läßt sich ein mechanischer Einfluß des Blutdrucks auf die Beschaffenheit und Menge der von einer Zelle aufgenommnen und ausgeschiednen Stoffe nachweisen; überall ist die Zelle selbsttätig in ihren Reaktionen auf die gegebnen Umstände." Woraus unter anderm deutlich hervorgeht, daß die Osmose der Zellwände grundverschieden ist von der rein mechanischen Osmose, bei der irgendein Zug oder Druck Flüssigkeiten durch poröse Häute oder Wände befördert. Die Zellhäutchen lassen nur durch, was nach Art und Menge die augenblickliche Aufgabe ihrer Zelle fordert, zu ver- schiednen Zeiten und in verschiedner Richtung verschiednes, und weisen das nicht Zweckdienliche zurück. Wenn bei schlechthin unerklärbarer Wundern von einem Gradunterschiede der Wunderbarkeit die Rede sein könnte, würden wir es als das Wunderbarste erklären, daß sich die Zellen Arbeitsstoffe bereiten, die man Katalysatoren und Fermente nennt, daß sie Borstufen solcher, gewissermaßen Halbfabrikate schaffen, die sie vorrätig halten und in dem Augenblick fertigmachen, wo sie ihrer bedürfen, wie denn auch die fertigen je nach Bedarf entweder sich ruhig verhalten oder in Tätigkeit treten, aktiviert werden. Hartmann stellt die Wirkungsweise dieser Stoffe ausführlich dar. Wir merken nur an, daß Katalysatoren die Aufgabe haben, eine chemische Um- wandlung zu verlangsamen oder zu beschleunigen, und daß sie bei ihrer Wirksamkeit nicht verbraucht werden, also auch nicht in das Endergebnis der Umwandlung mit eingehen. Dieses eben nun macht nach Hartmann den letzten innern Unterschied zwischen den chemischen Vorgängen im Protoplasma und denen im Laboratorium aus, daß jenes alle Spaltungen und Verbindungen mit Hilfe organischer Stoffe bewirkt, die es sich selbst bereitet, und die dem Chemiker nicht zu Gebote stehn, weil er sie nicht herstellen kann. Die Zelle schafft keine neuen chemischen Verwandtschaften, aber sie benutzt die vorhandnen in eigentümlicher Weise. Das Leben schafft überhaupt keine Energie, „sondern zehrt von dem Energiestrom, der unmittelbar oder mittelbar von der Sonne

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/410>, abgerufen am 23.07.2024.