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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Apollo und Dionysos

Wenn sich Nietzsche aus diesem Begeisterungstaumel aufrafft, von Wagners
Kunstschwärmerei und Schopenhauers mystischem Pessimismus abwendet, von
seinem Freunde Dr. Me mit den englischen Positivisten bekannt machen läßt
und auch Darwin beachtet (der ihn veranlaßt, aus seinem neuen Geschlecht von
Kraftmenschen "mehr ein Gestüt als eine Menagerie zu machen"), so ist dieses
ja, in seiner Sprache ausgedrückt, wieder Apollinismus. Leider werden alle
rationalistischen Einsichten sehr bald wieder nur als Figuren für einen neuen
dionysischen Taumeltanz benutzt, der unaufhaltsam weiter rast bis in den Ab¬
grund des Wahnsinns hinein. Unter dem apollinischen Vorwande einer Reform
der Moral wird dieser Tanz begonnen und eine Zeit lang fortgeführt. Dabei
nimmt nun das zu überwindende Dionysische eine von der ursprünglichen etwas
verschiedne Bedeutung an. Das Natürliche erscheint im Menschen als un-
gebändigte rohe Kraft und als ungezügelter Trieb oder, wie das unhöflich ge¬
nannt zu werden pflegt, als das tierische. Aber in der Gesellschaft hat der
Naturtrieb, nicht bloß beim Menschen, sondern schon bei den Tieren, früh dazu
geführt, das Verhalten des Einzelnen in Bahnen zu zwingen, die er ohne Ge¬
fahr für sein Wohlbefinden und sein Leben nicht verlassen kann. So entsteht
die soziale Moral, und die Regeln des von einer vernünftigen Selbstliebe
empfohlnen sozialen Verhaltens nennt man das Moralgesetz. Wir wollen hier
nicht untersuchen, ob mit dieser von den heutigen Soziologen und Biologen
beschriebnen Entstehung der Moral diese selbst hinreichend erklärt ist, sondern
nur konstatieren, daß sich gegen jene Beschreibung an sich nichts einwenden läßt.
Es waltet also unbewußte Vernunft im Natürlichen, auch im Tier, wie vorher
schon in der Pflanzenzelle und im Atom. Nun pflegt aber in der Menschen¬
welt, deren Bedürfnisse wechseln, mit der Zeit Vernunft Unsinn, Wohltat
Plage zu werden, die geltenden Moralvorschriften, die religiösen wie die Staats¬
gesetze bedürfen oftmaliger Prüfung und Änderung, und wo diese gar nicht oder
nur unvollkommen gelingt, kann sich der einzelne Denkende genötigt sehen, aus
Moralität die geltenden Moralvorschriften zu verletzen. So tritt der Gewohn-
heits- oder Volksmoral die individuelle Moral gegenüber, die, wie Seilliere aus¬
führt, falls sie sich Geltung verschafft, Vertragsmoral wird, indem größere
soziale Gruppen sie als vernünftig anerkennen und sich ihr durch einen frei¬
willigen Vertrag verpflichten. Diese Reform war es ohne Zweifel, die Nietzsche
gleich allen vernünftigen Reformern von den jüdischen Propheten und den
griechischen Philosophen angefangen ursprünglich im Auge gehabt hat. Also
gar nichts Besondres', sondern etwas für den Menschen einer intellektuell hoch
entwickelten Zeit ganz Selbstverständliches; der christliche Ausdruck dafür lautet
bekanntlich: man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen. Das von
Nietzsche dafür gewählte Wort "Jmmoralismus" drückte freilich die "an sich
sehr lobenswerte Absicht ziemlich schlecht und mit einem Beigeschmack von Reklame
und Charlatanerie aus". Und das in dieser Bezeichnung liegende Omen täuschte
nicht: Übertreibung, Exaltation, zügellose Leidenschaftlichkeit, Originalitätssucht


Apollo und Dionysos

Wenn sich Nietzsche aus diesem Begeisterungstaumel aufrafft, von Wagners
Kunstschwärmerei und Schopenhauers mystischem Pessimismus abwendet, von
seinem Freunde Dr. Me mit den englischen Positivisten bekannt machen läßt
und auch Darwin beachtet (der ihn veranlaßt, aus seinem neuen Geschlecht von
Kraftmenschen „mehr ein Gestüt als eine Menagerie zu machen"), so ist dieses
ja, in seiner Sprache ausgedrückt, wieder Apollinismus. Leider werden alle
rationalistischen Einsichten sehr bald wieder nur als Figuren für einen neuen
dionysischen Taumeltanz benutzt, der unaufhaltsam weiter rast bis in den Ab¬
grund des Wahnsinns hinein. Unter dem apollinischen Vorwande einer Reform
der Moral wird dieser Tanz begonnen und eine Zeit lang fortgeführt. Dabei
nimmt nun das zu überwindende Dionysische eine von der ursprünglichen etwas
verschiedne Bedeutung an. Das Natürliche erscheint im Menschen als un-
gebändigte rohe Kraft und als ungezügelter Trieb oder, wie das unhöflich ge¬
nannt zu werden pflegt, als das tierische. Aber in der Gesellschaft hat der
Naturtrieb, nicht bloß beim Menschen, sondern schon bei den Tieren, früh dazu
geführt, das Verhalten des Einzelnen in Bahnen zu zwingen, die er ohne Ge¬
fahr für sein Wohlbefinden und sein Leben nicht verlassen kann. So entsteht
die soziale Moral, und die Regeln des von einer vernünftigen Selbstliebe
empfohlnen sozialen Verhaltens nennt man das Moralgesetz. Wir wollen hier
nicht untersuchen, ob mit dieser von den heutigen Soziologen und Biologen
beschriebnen Entstehung der Moral diese selbst hinreichend erklärt ist, sondern
nur konstatieren, daß sich gegen jene Beschreibung an sich nichts einwenden läßt.
Es waltet also unbewußte Vernunft im Natürlichen, auch im Tier, wie vorher
schon in der Pflanzenzelle und im Atom. Nun pflegt aber in der Menschen¬
welt, deren Bedürfnisse wechseln, mit der Zeit Vernunft Unsinn, Wohltat
Plage zu werden, die geltenden Moralvorschriften, die religiösen wie die Staats¬
gesetze bedürfen oftmaliger Prüfung und Änderung, und wo diese gar nicht oder
nur unvollkommen gelingt, kann sich der einzelne Denkende genötigt sehen, aus
Moralität die geltenden Moralvorschriften zu verletzen. So tritt der Gewohn-
heits- oder Volksmoral die individuelle Moral gegenüber, die, wie Seilliere aus¬
führt, falls sie sich Geltung verschafft, Vertragsmoral wird, indem größere
soziale Gruppen sie als vernünftig anerkennen und sich ihr durch einen frei¬
willigen Vertrag verpflichten. Diese Reform war es ohne Zweifel, die Nietzsche
gleich allen vernünftigen Reformern von den jüdischen Propheten und den
griechischen Philosophen angefangen ursprünglich im Auge gehabt hat. Also
gar nichts Besondres', sondern etwas für den Menschen einer intellektuell hoch
entwickelten Zeit ganz Selbstverständliches; der christliche Ausdruck dafür lautet
bekanntlich: man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen. Das von
Nietzsche dafür gewählte Wort „Jmmoralismus" drückte freilich die „an sich
sehr lobenswerte Absicht ziemlich schlecht und mit einem Beigeschmack von Reklame
und Charlatanerie aus". Und das in dieser Bezeichnung liegende Omen täuschte
nicht: Übertreibung, Exaltation, zügellose Leidenschaftlichkeit, Originalitätssucht


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[0038] Apollo und Dionysos Wenn sich Nietzsche aus diesem Begeisterungstaumel aufrafft, von Wagners Kunstschwärmerei und Schopenhauers mystischem Pessimismus abwendet, von seinem Freunde Dr. Me mit den englischen Positivisten bekannt machen läßt und auch Darwin beachtet (der ihn veranlaßt, aus seinem neuen Geschlecht von Kraftmenschen „mehr ein Gestüt als eine Menagerie zu machen"), so ist dieses ja, in seiner Sprache ausgedrückt, wieder Apollinismus. Leider werden alle rationalistischen Einsichten sehr bald wieder nur als Figuren für einen neuen dionysischen Taumeltanz benutzt, der unaufhaltsam weiter rast bis in den Ab¬ grund des Wahnsinns hinein. Unter dem apollinischen Vorwande einer Reform der Moral wird dieser Tanz begonnen und eine Zeit lang fortgeführt. Dabei nimmt nun das zu überwindende Dionysische eine von der ursprünglichen etwas verschiedne Bedeutung an. Das Natürliche erscheint im Menschen als un- gebändigte rohe Kraft und als ungezügelter Trieb oder, wie das unhöflich ge¬ nannt zu werden pflegt, als das tierische. Aber in der Gesellschaft hat der Naturtrieb, nicht bloß beim Menschen, sondern schon bei den Tieren, früh dazu geführt, das Verhalten des Einzelnen in Bahnen zu zwingen, die er ohne Ge¬ fahr für sein Wohlbefinden und sein Leben nicht verlassen kann. So entsteht die soziale Moral, und die Regeln des von einer vernünftigen Selbstliebe empfohlnen sozialen Verhaltens nennt man das Moralgesetz. Wir wollen hier nicht untersuchen, ob mit dieser von den heutigen Soziologen und Biologen beschriebnen Entstehung der Moral diese selbst hinreichend erklärt ist, sondern nur konstatieren, daß sich gegen jene Beschreibung an sich nichts einwenden läßt. Es waltet also unbewußte Vernunft im Natürlichen, auch im Tier, wie vorher schon in der Pflanzenzelle und im Atom. Nun pflegt aber in der Menschen¬ welt, deren Bedürfnisse wechseln, mit der Zeit Vernunft Unsinn, Wohltat Plage zu werden, die geltenden Moralvorschriften, die religiösen wie die Staats¬ gesetze bedürfen oftmaliger Prüfung und Änderung, und wo diese gar nicht oder nur unvollkommen gelingt, kann sich der einzelne Denkende genötigt sehen, aus Moralität die geltenden Moralvorschriften zu verletzen. So tritt der Gewohn- heits- oder Volksmoral die individuelle Moral gegenüber, die, wie Seilliere aus¬ führt, falls sie sich Geltung verschafft, Vertragsmoral wird, indem größere soziale Gruppen sie als vernünftig anerkennen und sich ihr durch einen frei¬ willigen Vertrag verpflichten. Diese Reform war es ohne Zweifel, die Nietzsche gleich allen vernünftigen Reformern von den jüdischen Propheten und den griechischen Philosophen angefangen ursprünglich im Auge gehabt hat. Also gar nichts Besondres', sondern etwas für den Menschen einer intellektuell hoch entwickelten Zeit ganz Selbstverständliches; der christliche Ausdruck dafür lautet bekanntlich: man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen. Das von Nietzsche dafür gewählte Wort „Jmmoralismus" drückte freilich die „an sich sehr lobenswerte Absicht ziemlich schlecht und mit einem Beigeschmack von Reklame und Charlatanerie aus". Und das in dieser Bezeichnung liegende Omen täuschte nicht: Übertreibung, Exaltation, zügellose Leidenschaftlichkeit, Originalitätssucht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/38>, abgerufen am 23.07.2024.