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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Zur angeblichen Abrüstung

wurde, alljährlich etwa eine halbe Million der Friedensbewegung zur Verfügung
steht. Mit dem vielen Gelde hat man aber seitdem auch nichts andres als
früher getan, sondern weiter Konferenzen abgehalten, an Festtafeln getoastet und
glühende Friedensflugblntter verbreitet. Es muß eine eigne Anlage dazu ge¬
hören, an diesen Verhandlungen und Veranstaltungen irgendeine Befriedigung
zu finden. Die meisten Anhänger zählen diese Leute ja auch unter denen, die
niemals eine Waffe getragen haben oder aus Instinkt jede Waffe scheuen. Rein¬
lichkeit der Absichten und Redlichkeit der Meinung soll dieser Bewegung, wenn
man es so nennen darf, keineswegs abgesprochen werden, aber man fragt sich
doch immer wieder, welches Bild von Welt und Menschen sich in diesen Köpfen
malt, und ob denn die Führer wirklich glauben, daß sie mit ihrer Tätigkeit auf
dem Wege zur praktischen Verwirklichung ihrer mehr oder weniger utopistischen
Ziele auch nur einen Schritt weiter kommen. Da sie die wirkliche Lage der
Dinge zugunsten ihres Ideals absichtlich oder unabsichtlich verkennen, so bilden
sie für jedes Land, in dem sie großen Anhang gewinnen, eine wirkliche Gefahr,
weil sie den Blick des Volks von den tatsächlich gegebnen Zielen ablenken, seine
Waffenfreudigkeit beirren und damit seine Wasserkraft schwächen. Phrasenreiche
Reden, Annahme von wohltönenden Resolutionen und Sammeln von Unter¬
schriften vermögen am wenigsten die Waffenfreude zu erwecken, die doch ein Volk
in unsern Tagen des hochgespannter Nationalitätsgefühls und des beginnenden
Kampfes um die Teilung des Welthandels am wenigsten missen kann.

Ob sich die ehrlichen Friedensfreunde über diese bedenkliche Wirkung ihrer
Tätigkeit immer klar sind, steht dahin, wahrscheinlich täuschen sie sich in diesem
Punkt ebenso wie über viele andre Gebiete. Hier ein Beispiel. Einer der ein¬
wandfreisten Friedensfreunde war ohne Zweifel der ehemalige französische
Minister und spätere Senator Jules Simon. Er entwickelte im November 1885
seine Ansichten dahin, daß unter Abrüstung nicht die Aufhebung des kriegerischen
Rüstzeugs zu verstehn sei, sondern nur eine Einschränkung auf Grundlagen, die
auf einem Kongresse zu vereinbaren wären. Wenn sich zum Beispiel alle euro¬
päischen Nationen dazu verstünden, ihr Kriegsbudget um fünfzig Prozent herab¬
zusetzen, so bliebe ihre gegenseitige Stellung doch immer dieselbe. Alles käme
eben darauf an, die Einwilligung und die gewissenhafte Pflichterfüllung jedes
Einzelnen zu erlange". Nichts wäre leichter, als eine Kontrolle über die Aus¬
führung der Bedingungen zu üben, wenigstens in den Staaten, wo der Parla¬
mentarismus vorherrscht, und die Einwände, die wegen einer böswilligen Um¬
gehung der übernommnen Pflichten gemacht würden, seien einfach kindlich. Selbst
an dem redlichen Willen des Zaren sei nicht zu zweifeln, der auch für Nußland
ein Kontrollmittel bieten könnte, das die berechtigte Empfindlichkeit des National-
gefühls schonen würde. Dem gegenüber kann man doch bloß sagen: So viele
Gedanken, so viele Irrtümer; der praktische Politiker muß wirklich erstaunen
über die naive Anschauung, die sich im Kopfe eines im übrigen so hervorragend
begabten Staatsmanns gebildet hatte.


Zur angeblichen Abrüstung

wurde, alljährlich etwa eine halbe Million der Friedensbewegung zur Verfügung
steht. Mit dem vielen Gelde hat man aber seitdem auch nichts andres als
früher getan, sondern weiter Konferenzen abgehalten, an Festtafeln getoastet und
glühende Friedensflugblntter verbreitet. Es muß eine eigne Anlage dazu ge¬
hören, an diesen Verhandlungen und Veranstaltungen irgendeine Befriedigung
zu finden. Die meisten Anhänger zählen diese Leute ja auch unter denen, die
niemals eine Waffe getragen haben oder aus Instinkt jede Waffe scheuen. Rein¬
lichkeit der Absichten und Redlichkeit der Meinung soll dieser Bewegung, wenn
man es so nennen darf, keineswegs abgesprochen werden, aber man fragt sich
doch immer wieder, welches Bild von Welt und Menschen sich in diesen Köpfen
malt, und ob denn die Führer wirklich glauben, daß sie mit ihrer Tätigkeit auf
dem Wege zur praktischen Verwirklichung ihrer mehr oder weniger utopistischen
Ziele auch nur einen Schritt weiter kommen. Da sie die wirkliche Lage der
Dinge zugunsten ihres Ideals absichtlich oder unabsichtlich verkennen, so bilden
sie für jedes Land, in dem sie großen Anhang gewinnen, eine wirkliche Gefahr,
weil sie den Blick des Volks von den tatsächlich gegebnen Zielen ablenken, seine
Waffenfreudigkeit beirren und damit seine Wasserkraft schwächen. Phrasenreiche
Reden, Annahme von wohltönenden Resolutionen und Sammeln von Unter¬
schriften vermögen am wenigsten die Waffenfreude zu erwecken, die doch ein Volk
in unsern Tagen des hochgespannter Nationalitätsgefühls und des beginnenden
Kampfes um die Teilung des Welthandels am wenigsten missen kann.

Ob sich die ehrlichen Friedensfreunde über diese bedenkliche Wirkung ihrer
Tätigkeit immer klar sind, steht dahin, wahrscheinlich täuschen sie sich in diesem
Punkt ebenso wie über viele andre Gebiete. Hier ein Beispiel. Einer der ein¬
wandfreisten Friedensfreunde war ohne Zweifel der ehemalige französische
Minister und spätere Senator Jules Simon. Er entwickelte im November 1885
seine Ansichten dahin, daß unter Abrüstung nicht die Aufhebung des kriegerischen
Rüstzeugs zu verstehn sei, sondern nur eine Einschränkung auf Grundlagen, die
auf einem Kongresse zu vereinbaren wären. Wenn sich zum Beispiel alle euro¬
päischen Nationen dazu verstünden, ihr Kriegsbudget um fünfzig Prozent herab¬
zusetzen, so bliebe ihre gegenseitige Stellung doch immer dieselbe. Alles käme
eben darauf an, die Einwilligung und die gewissenhafte Pflichterfüllung jedes
Einzelnen zu erlange». Nichts wäre leichter, als eine Kontrolle über die Aus¬
führung der Bedingungen zu üben, wenigstens in den Staaten, wo der Parla¬
mentarismus vorherrscht, und die Einwände, die wegen einer böswilligen Um¬
gehung der übernommnen Pflichten gemacht würden, seien einfach kindlich. Selbst
an dem redlichen Willen des Zaren sei nicht zu zweifeln, der auch für Nußland
ein Kontrollmittel bieten könnte, das die berechtigte Empfindlichkeit des National-
gefühls schonen würde. Dem gegenüber kann man doch bloß sagen: So viele
Gedanken, so viele Irrtümer; der praktische Politiker muß wirklich erstaunen
über die naive Anschauung, die sich im Kopfe eines im übrigen so hervorragend
begabten Staatsmanns gebildet hatte.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/290>, abgerufen am 25.08.2024.