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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Deutsche Volks- und Bauernkunst

axt und andern natürlichen lokalen Bedingungen ihre Satzungen empfängt.
Die Bauweise, die Dachbildung, die Lage und die Form der Fenster, die
Türen und die Tore, die Einteilung der Hausräume, die Stellung der Häuser
zueinander und zur Straße sowie zu den sie umgebenden Grundstücken, als
Feld, Garten, Hof, sind durchaus organisch begründet und deshalb in hohem
Grade zweckmäßig. Trotzdem hat jedes Haus seinen persönlichen Ausdruck. Die
Holzteile an Türen und an Fenstern sind vielfach mit bunter Farbe gestrichen,
die Tore und Hausgiebel oft reich geschnitzt, oder es sind durch die Lage der
Bretter in den Türfüllungen manche hübsche Muster hergestellt worden.

Der Hausrat, der Schmuck und die Tracht bieten dem bäuerlichen Kunst¬
fleiß ein ungeheures Feld zur Betätigung. Urtümliche, primitive Formen und
Einzeltechniken sind vorhanden, die auf die Urgeschichte der Menschheit zurück¬
gehn und zugleich spätere Einflüsse ans dem Mittelalter, der Renaissance usw.
deutlich verraten. Gewisse Hausformen, Köhlerhütten, Sennhütten usw., aber
auch schwierige Techniken geknüpfter oder geflochtner Gegenstände, die alte
Punkt-, Linien- und Spiralenornamentik an Möbeln und an Lederzeug ge¬
hören sicherlich zu den Erinnerungen aus der Vorzeit, während die Sitz-
formcn, die Truhen. Schränke, Tische, Betten, Wiegen, Handtuchhalter, Öfen
und zahlreiches Kleingerät der mittelalterlichen Stadt, der Burg oder dem
Fürstenhof entlehnt sind. Der Einzug der Renaissance und des Barocks ist
nicht weniger deutlich zu erkennen. Unbefangenheit und treffsicherer orna¬
mentaler Sinn haben die übernommnen Bestandteile freilich in vollständiges
Bauerngut umgewertet. Buntbemalte Möbel, Bauernkeramiken und Stickereien
liefern Belege für einen hochentwickelten dekorativen und farbenfrohen Sinn.
Das Beste, was sich in dieser Richtung vorfindet, sind die Handarbeiten der
Frauen, ein Kunstzweig, der in der Stadt längst im Dienste eines vollkommen
verrotteten Geschmacks steht und des baren Unvermögens, zu unterscheiden
zwischen überflüssigen Zutaten und dessen, was das Leben nötig hat. Nicht
so die bäuerliche Hausarbeit. An den alten Bauerntrachten können wir die
Schönheit der Stickerei, den Reichtum und den Reiz von Form und Farbe
und die materialgerechte Technik bewundern. Die Bäuerinnen des deutschen
Nordens und des slawischen Südens arbeiten mit ähnlichen Ergebnissen in
bezug auf die Ornamentik, weil sie in ihren Erfindungen von einem sichern
Verständnis für die Forderungen des Materials geleitet werden. Das ist
Kunst im Hause, die von einer hohen persönlichen Kultur der Bauernschaft
zeugt. Aber nicht allein auf die Technik hin lassen sich die bäuerlichen
Kunsterzeugnisse betrachten, sondern auch auf die Symbolik hin, die die Orna¬
mentmotive des Bauern hoch über eine bloße leere Spielerei hinaushebt.
Sein Ornament ist Gleichnis, Symbol, Gedankenstab. Liebe und Ehe,
allegorische Begriffe, Glaube, Hoffnung, Trauer, Märchenvorstelluugen, endlich
Bilder des Lebens und der Natur spielen eine große Rolle in seiner orna¬
mentalen Erfindung. Gegenstände finden sich vor, die durch ihre besondre


Deutsche Volks- und Bauernkunst

axt und andern natürlichen lokalen Bedingungen ihre Satzungen empfängt.
Die Bauweise, die Dachbildung, die Lage und die Form der Fenster, die
Türen und die Tore, die Einteilung der Hausräume, die Stellung der Häuser
zueinander und zur Straße sowie zu den sie umgebenden Grundstücken, als
Feld, Garten, Hof, sind durchaus organisch begründet und deshalb in hohem
Grade zweckmäßig. Trotzdem hat jedes Haus seinen persönlichen Ausdruck. Die
Holzteile an Türen und an Fenstern sind vielfach mit bunter Farbe gestrichen,
die Tore und Hausgiebel oft reich geschnitzt, oder es sind durch die Lage der
Bretter in den Türfüllungen manche hübsche Muster hergestellt worden.

Der Hausrat, der Schmuck und die Tracht bieten dem bäuerlichen Kunst¬
fleiß ein ungeheures Feld zur Betätigung. Urtümliche, primitive Formen und
Einzeltechniken sind vorhanden, die auf die Urgeschichte der Menschheit zurück¬
gehn und zugleich spätere Einflüsse ans dem Mittelalter, der Renaissance usw.
deutlich verraten. Gewisse Hausformen, Köhlerhütten, Sennhütten usw., aber
auch schwierige Techniken geknüpfter oder geflochtner Gegenstände, die alte
Punkt-, Linien- und Spiralenornamentik an Möbeln und an Lederzeug ge¬
hören sicherlich zu den Erinnerungen aus der Vorzeit, während die Sitz-
formcn, die Truhen. Schränke, Tische, Betten, Wiegen, Handtuchhalter, Öfen
und zahlreiches Kleingerät der mittelalterlichen Stadt, der Burg oder dem
Fürstenhof entlehnt sind. Der Einzug der Renaissance und des Barocks ist
nicht weniger deutlich zu erkennen. Unbefangenheit und treffsicherer orna¬
mentaler Sinn haben die übernommnen Bestandteile freilich in vollständiges
Bauerngut umgewertet. Buntbemalte Möbel, Bauernkeramiken und Stickereien
liefern Belege für einen hochentwickelten dekorativen und farbenfrohen Sinn.
Das Beste, was sich in dieser Richtung vorfindet, sind die Handarbeiten der
Frauen, ein Kunstzweig, der in der Stadt längst im Dienste eines vollkommen
verrotteten Geschmacks steht und des baren Unvermögens, zu unterscheiden
zwischen überflüssigen Zutaten und dessen, was das Leben nötig hat. Nicht
so die bäuerliche Hausarbeit. An den alten Bauerntrachten können wir die
Schönheit der Stickerei, den Reichtum und den Reiz von Form und Farbe
und die materialgerechte Technik bewundern. Die Bäuerinnen des deutschen
Nordens und des slawischen Südens arbeiten mit ähnlichen Ergebnissen in
bezug auf die Ornamentik, weil sie in ihren Erfindungen von einem sichern
Verständnis für die Forderungen des Materials geleitet werden. Das ist
Kunst im Hause, die von einer hohen persönlichen Kultur der Bauernschaft
zeugt. Aber nicht allein auf die Technik hin lassen sich die bäuerlichen
Kunsterzeugnisse betrachten, sondern auch auf die Symbolik hin, die die Orna¬
mentmotive des Bauern hoch über eine bloße leere Spielerei hinaushebt.
Sein Ornament ist Gleichnis, Symbol, Gedankenstab. Liebe und Ehe,
allegorische Begriffe, Glaube, Hoffnung, Trauer, Märchenvorstelluugen, endlich
Bilder des Lebens und der Natur spielen eine große Rolle in seiner orna¬
mentalen Erfindung. Gegenstände finden sich vor, die durch ihre besondre


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[0259] Deutsche Volks- und Bauernkunst axt und andern natürlichen lokalen Bedingungen ihre Satzungen empfängt. Die Bauweise, die Dachbildung, die Lage und die Form der Fenster, die Türen und die Tore, die Einteilung der Hausräume, die Stellung der Häuser zueinander und zur Straße sowie zu den sie umgebenden Grundstücken, als Feld, Garten, Hof, sind durchaus organisch begründet und deshalb in hohem Grade zweckmäßig. Trotzdem hat jedes Haus seinen persönlichen Ausdruck. Die Holzteile an Türen und an Fenstern sind vielfach mit bunter Farbe gestrichen, die Tore und Hausgiebel oft reich geschnitzt, oder es sind durch die Lage der Bretter in den Türfüllungen manche hübsche Muster hergestellt worden. Der Hausrat, der Schmuck und die Tracht bieten dem bäuerlichen Kunst¬ fleiß ein ungeheures Feld zur Betätigung. Urtümliche, primitive Formen und Einzeltechniken sind vorhanden, die auf die Urgeschichte der Menschheit zurück¬ gehn und zugleich spätere Einflüsse ans dem Mittelalter, der Renaissance usw. deutlich verraten. Gewisse Hausformen, Köhlerhütten, Sennhütten usw., aber auch schwierige Techniken geknüpfter oder geflochtner Gegenstände, die alte Punkt-, Linien- und Spiralenornamentik an Möbeln und an Lederzeug ge¬ hören sicherlich zu den Erinnerungen aus der Vorzeit, während die Sitz- formcn, die Truhen. Schränke, Tische, Betten, Wiegen, Handtuchhalter, Öfen und zahlreiches Kleingerät der mittelalterlichen Stadt, der Burg oder dem Fürstenhof entlehnt sind. Der Einzug der Renaissance und des Barocks ist nicht weniger deutlich zu erkennen. Unbefangenheit und treffsicherer orna¬ mentaler Sinn haben die übernommnen Bestandteile freilich in vollständiges Bauerngut umgewertet. Buntbemalte Möbel, Bauernkeramiken und Stickereien liefern Belege für einen hochentwickelten dekorativen und farbenfrohen Sinn. Das Beste, was sich in dieser Richtung vorfindet, sind die Handarbeiten der Frauen, ein Kunstzweig, der in der Stadt längst im Dienste eines vollkommen verrotteten Geschmacks steht und des baren Unvermögens, zu unterscheiden zwischen überflüssigen Zutaten und dessen, was das Leben nötig hat. Nicht so die bäuerliche Hausarbeit. An den alten Bauerntrachten können wir die Schönheit der Stickerei, den Reichtum und den Reiz von Form und Farbe und die materialgerechte Technik bewundern. Die Bäuerinnen des deutschen Nordens und des slawischen Südens arbeiten mit ähnlichen Ergebnissen in bezug auf die Ornamentik, weil sie in ihren Erfindungen von einem sichern Verständnis für die Forderungen des Materials geleitet werden. Das ist Kunst im Hause, die von einer hohen persönlichen Kultur der Bauernschaft zeugt. Aber nicht allein auf die Technik hin lassen sich die bäuerlichen Kunsterzeugnisse betrachten, sondern auch auf die Symbolik hin, die die Orna¬ mentmotive des Bauern hoch über eine bloße leere Spielerei hinaushebt. Sein Ornament ist Gleichnis, Symbol, Gedankenstab. Liebe und Ehe, allegorische Begriffe, Glaube, Hoffnung, Trauer, Märchenvorstelluugen, endlich Bilder des Lebens und der Natur spielen eine große Rolle in seiner orna¬ mentalen Erfindung. Gegenstände finden sich vor, die durch ihre besondre

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/259>, abgerufen am 26.06.2024.