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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Zur Iustizreforin

"Grundlinien durchgreifender Justizreform" auf die Rechtspflege in England zielt,
so ist es weder für absehbare Zeit möglich, noch überhaupt zweckmäßig, englische
Zustünde und Verhältnisse bei uns einzuführen.*) Wenn in England nur wenige,
reich dotierte Richter, hervorgehend aus der Advokatur, vorhanden sind, so hängt
das zusammen mit der ganzen Entwicklung des englischen Rechtslebens, mit der
Ausbildung der Juristen und besonders mit den hohen Kosten. Das deutsche Volk
dürfte nicht geneigt sein, seinen Richtern ähnlich hohe Gehalte zu zahlen, wie sie in
England üblich sind. Ohne entsprechende Entschädigung für die Aufgebung ihres
großen Einkommens dürften sich die hervorragenden Anwälte zum Eintritt in den
Richterdienst nicht bestimmen lassen. Durch Mittelgut aus dem Anwaltstande
wird aber das Ansehen der Richterstellung nicht erhöht. Sind übrigens die
Anwälte nicht aus demselben Holze geschnitzt, aus dem auch die Richter gebildet
werden? Gehn sie nicht aus denselben Kreisen hervor, und ist ihre Ausbildung
nicht dieselbe? Es mag sein, daß der Anwalt'dnrch seine Tätigkeit mitten im
Verkehrsleben reichere Erfahrung gewinnt. Aber den Schatz seiner Erfahrungen
behält der Anwalt nicht für sich; zwischen den Anwälten und dem Nichter-
kollegium findet ein fortwährender Austausch der Gedanken und Erfahrungen
statt. Andrerseits ist die langjährige Schulung und Übung im objektiven
Denken ein unverkennbarer Vorzug des "beamteten" Richters. Gewiß soll der
Richtereine angesehene, von dem Vertrauen der Bevölkerung getragne Stellung,
einnehmen. Dazu gehört aber uicht, daß er nach Art des englischen Richters
mit außergewöhnlich hohem Gehalte dotiert ist und gleichsam hoch vom Throne
auf die Rechtsuchenden hinabschaut; dazu genügt vielmehr, daß er eine der
Wichtigkeit und der Würde seines Berufs entsprechende, den Verwaltungs¬
beamten in Rang und Gehalt völlig gleichstehende Stellung einnimmt.

Wenn Adickes (Grundlinien S. 113) unter Berufung auf Vierhaus ni. a. O.
dem Einzelrichter im Vergleich zum Kollegialrichter das Wort redet, so kaun
ich dieser Ansicht nicht zustimmen. Adickes mag Recht haben, wenn man dem
Salomo als Einzelrichter ein aus unfähigen Richtern zusammengesetztes Kol¬
legium gegenüberstellt. Anders muß jedoch nach meiner langjährigen Erfahrung
als Einzel- und als Kollegialrichtcr die Entscheidung ausfallen, wenn man,
wie es doch geschehen muß, den Durchschnitt, die Regel der Vergleichung zu¬
grunde legt. Das Kollegium schützt vor Einseitigkeit und vor Versehen, vor
denen auch der zuverlässigste Einzelrichter nicht sicher ist. Es schläft auch
Homer einmal. Die kollegiale Behandlung ist eine Schule für die Verbreitung
theoretischer und praktischer Rechtsanschauungen unter den Kollegialmitgliedern.
Die geistig und wissenschaftlich tüchtigen Mitglieder des Kollegiums üben einen
bildenden Einfluß auf die minder befähigten aus; die wissenschaftlichen Be¬
strebungen und Errungenschaften einzelner werden im Wege kollegialer Be-



*) Vergleiche hierüber die während des Druckes dieses Aufsatzes erschienenen vortrefflichen
Ausführungen von Hamm und Fischer in der Deutschen Juristenzeitung vom l. Oktober 1906.
Zur Iustizreforin

„Grundlinien durchgreifender Justizreform" auf die Rechtspflege in England zielt,
so ist es weder für absehbare Zeit möglich, noch überhaupt zweckmäßig, englische
Zustünde und Verhältnisse bei uns einzuführen.*) Wenn in England nur wenige,
reich dotierte Richter, hervorgehend aus der Advokatur, vorhanden sind, so hängt
das zusammen mit der ganzen Entwicklung des englischen Rechtslebens, mit der
Ausbildung der Juristen und besonders mit den hohen Kosten. Das deutsche Volk
dürfte nicht geneigt sein, seinen Richtern ähnlich hohe Gehalte zu zahlen, wie sie in
England üblich sind. Ohne entsprechende Entschädigung für die Aufgebung ihres
großen Einkommens dürften sich die hervorragenden Anwälte zum Eintritt in den
Richterdienst nicht bestimmen lassen. Durch Mittelgut aus dem Anwaltstande
wird aber das Ansehen der Richterstellung nicht erhöht. Sind übrigens die
Anwälte nicht aus demselben Holze geschnitzt, aus dem auch die Richter gebildet
werden? Gehn sie nicht aus denselben Kreisen hervor, und ist ihre Ausbildung
nicht dieselbe? Es mag sein, daß der Anwalt'dnrch seine Tätigkeit mitten im
Verkehrsleben reichere Erfahrung gewinnt. Aber den Schatz seiner Erfahrungen
behält der Anwalt nicht für sich; zwischen den Anwälten und dem Nichter-
kollegium findet ein fortwährender Austausch der Gedanken und Erfahrungen
statt. Andrerseits ist die langjährige Schulung und Übung im objektiven
Denken ein unverkennbarer Vorzug des „beamteten" Richters. Gewiß soll der
Richtereine angesehene, von dem Vertrauen der Bevölkerung getragne Stellung,
einnehmen. Dazu gehört aber uicht, daß er nach Art des englischen Richters
mit außergewöhnlich hohem Gehalte dotiert ist und gleichsam hoch vom Throne
auf die Rechtsuchenden hinabschaut; dazu genügt vielmehr, daß er eine der
Wichtigkeit und der Würde seines Berufs entsprechende, den Verwaltungs¬
beamten in Rang und Gehalt völlig gleichstehende Stellung einnimmt.

Wenn Adickes (Grundlinien S. 113) unter Berufung auf Vierhaus ni. a. O.
dem Einzelrichter im Vergleich zum Kollegialrichter das Wort redet, so kaun
ich dieser Ansicht nicht zustimmen. Adickes mag Recht haben, wenn man dem
Salomo als Einzelrichter ein aus unfähigen Richtern zusammengesetztes Kol¬
legium gegenüberstellt. Anders muß jedoch nach meiner langjährigen Erfahrung
als Einzel- und als Kollegialrichtcr die Entscheidung ausfallen, wenn man,
wie es doch geschehen muß, den Durchschnitt, die Regel der Vergleichung zu¬
grunde legt. Das Kollegium schützt vor Einseitigkeit und vor Versehen, vor
denen auch der zuverlässigste Einzelrichter nicht sicher ist. Es schläft auch
Homer einmal. Die kollegiale Behandlung ist eine Schule für die Verbreitung
theoretischer und praktischer Rechtsanschauungen unter den Kollegialmitgliedern.
Die geistig und wissenschaftlich tüchtigen Mitglieder des Kollegiums üben einen
bildenden Einfluß auf die minder befähigten aus; die wissenschaftlichen Be¬
strebungen und Errungenschaften einzelner werden im Wege kollegialer Be-



*) Vergleiche hierüber die während des Druckes dieses Aufsatzes erschienenen vortrefflichen
Ausführungen von Hamm und Fischer in der Deutschen Juristenzeitung vom l. Oktober 1906.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/200>, abgerufen am 23.07.2024.