Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Sie Physiognomie der russischen Sprache

bodenständig. Und daran ändert auch die Tatsache nichts, daß ethnographisch
ihre Herkunft ein wenig zweifelhaft erscheinen kann, und daß vielfach, obwohl
mit örtlichen Unterschieden, Züge und Körperbildung an den asiatischen Völker¬
sturm erinnern, der das Land dritthalb Jahrhunderte lang niederzwang. Sie
haben in jedem Fall ein größeres Recht, sich auf ihre Abstammung zu berufen,
als sich etwa die heutigen Griechen Nachkommen der Hellenen nennen.

Dagegen ist nicht zu leugnen, daß die russische Sprache geschichtlich eine
hinter andern Indogermanen weit zurückliegende Stufe der Kultur vertritt.
Das zeigt sich gerade in der Eigenschaft, die beim Erlernen sofort die Auf¬
merksamkeit, und zwar in wenig erwünschter Weise, auf sich zieht: ihrem
ungeheuern Formenreichtum. Denn es ist ein anerkanntes Gesetz, daß Sprach¬
bildung und Geschichte eines Volkes sich ablösen. Sobald eine Stammes¬
gemeinschaft im freundlichen oder feindlichen Verkehr mit den vorgeschrittenem
Nachbarn zu handeln und zu denken beginnt, tritt über der Notwendigkeit
rascherer Verständigung die jugendliche Freude am sprachlichen Schaffen oder
Ausgestalten in zunehmendem Maße zurück. Das Englische, dem das Wort
nur gangbare Münze ist, trügt einen völlig greisenhafter Charakter, während
das Russische, dessen Träger regungslos im Zustande des Barbarentums ver¬
harrten, als sich die westlichen Völker Europas längst von dem vollen Strom
des Kulturlebens tragen ließen, noch deutlich die Pracht und die Fülle seiner
Glieder zeigt. Die Abwandlung der Nomina weist nicht nur die sechs üblichen
Fälle, sondern noch einen siebenten, den Instrumentalis (twarltelM^, eigentlich
den Schöpferischen) auf, und zwar regelmäßig. Das ergibt für jedes Eigen¬
schaftswort mit seinen drei Geschlechtern sechs neue und besondre Bildungen,
für die in andern Sprachen höchstens fragmentarische Ansätze -- oder Über¬
reste -- vorhanden sind. Dem Engländer genügt die eine Form ssvoä für
alle Numeri, Kasus und Genera; das Deutsche hat immerhin noch sechs,
nämlich: gut, guter, gute, gutes, gutem und guten, das Russische aber 2x7x3,
also 42, wozu noch sechs abgekürzte Formen für die prädikative Stellung
kommen, sodaß die Gesamtzahl 48 beträgt! Von den Hauptwörtern werden
nicht nur die Appellativa, sondern auch die Vor- und Familiennamen dekli¬
niert, und zwar nach Bedürfnis für jedes der drei Geschlechter, also ^IsKsK
RÄiuHnok, Uf,r^ RaraanmvÄ, RamÄN^o x16mjg. (das Haus Romanoff) und
dann weiter durch alle Kasus und Numeri. Ganz eigentümlich hat sich das
Verbum entwickelt. Während die Konjugation an sich höchst einfacher Art ist
und nicht nur auf die Mehrzahl der zusammengesetzten Zeiten, sondern auch
auf den Konjunktiv verzichtet (der durch das Präteritum mit der Partikel 07
ersetzt wird), gibt es zu den meisten Zeitwörtern nicht weniger als sechs mit
Hilfe bestimmter Elemente von ihnen abgeleitete besondre Verba, die sogenannten
vläzs Fg,Ma, Gesichter, das heißt Anschauungsarten des Verbalbegriffs. Da¬
durch gelingt es dem Russen, neben dem Zustand oder der Handlung in ihrer
allgemeinen Bedeutung beides auch als bestimmt, als einmalig oder als mehr-


Sie Physiognomie der russischen Sprache

bodenständig. Und daran ändert auch die Tatsache nichts, daß ethnographisch
ihre Herkunft ein wenig zweifelhaft erscheinen kann, und daß vielfach, obwohl
mit örtlichen Unterschieden, Züge und Körperbildung an den asiatischen Völker¬
sturm erinnern, der das Land dritthalb Jahrhunderte lang niederzwang. Sie
haben in jedem Fall ein größeres Recht, sich auf ihre Abstammung zu berufen,
als sich etwa die heutigen Griechen Nachkommen der Hellenen nennen.

Dagegen ist nicht zu leugnen, daß die russische Sprache geschichtlich eine
hinter andern Indogermanen weit zurückliegende Stufe der Kultur vertritt.
Das zeigt sich gerade in der Eigenschaft, die beim Erlernen sofort die Auf¬
merksamkeit, und zwar in wenig erwünschter Weise, auf sich zieht: ihrem
ungeheuern Formenreichtum. Denn es ist ein anerkanntes Gesetz, daß Sprach¬
bildung und Geschichte eines Volkes sich ablösen. Sobald eine Stammes¬
gemeinschaft im freundlichen oder feindlichen Verkehr mit den vorgeschrittenem
Nachbarn zu handeln und zu denken beginnt, tritt über der Notwendigkeit
rascherer Verständigung die jugendliche Freude am sprachlichen Schaffen oder
Ausgestalten in zunehmendem Maße zurück. Das Englische, dem das Wort
nur gangbare Münze ist, trügt einen völlig greisenhafter Charakter, während
das Russische, dessen Träger regungslos im Zustande des Barbarentums ver¬
harrten, als sich die westlichen Völker Europas längst von dem vollen Strom
des Kulturlebens tragen ließen, noch deutlich die Pracht und die Fülle seiner
Glieder zeigt. Die Abwandlung der Nomina weist nicht nur die sechs üblichen
Fälle, sondern noch einen siebenten, den Instrumentalis (twarltelM^, eigentlich
den Schöpferischen) auf, und zwar regelmäßig. Das ergibt für jedes Eigen¬
schaftswort mit seinen drei Geschlechtern sechs neue und besondre Bildungen,
für die in andern Sprachen höchstens fragmentarische Ansätze — oder Über¬
reste — vorhanden sind. Dem Engländer genügt die eine Form ssvoä für
alle Numeri, Kasus und Genera; das Deutsche hat immerhin noch sechs,
nämlich: gut, guter, gute, gutes, gutem und guten, das Russische aber 2x7x3,
also 42, wozu noch sechs abgekürzte Formen für die prädikative Stellung
kommen, sodaß die Gesamtzahl 48 beträgt! Von den Hauptwörtern werden
nicht nur die Appellativa, sondern auch die Vor- und Familiennamen dekli¬
niert, und zwar nach Bedürfnis für jedes der drei Geschlechter, also ^IsKsK
RÄiuHnok, Uf,r^ RaraanmvÄ, RamÄN^o x16mjg. (das Haus Romanoff) und
dann weiter durch alle Kasus und Numeri. Ganz eigentümlich hat sich das
Verbum entwickelt. Während die Konjugation an sich höchst einfacher Art ist
und nicht nur auf die Mehrzahl der zusammengesetzten Zeiten, sondern auch
auf den Konjunktiv verzichtet (der durch das Präteritum mit der Partikel 07
ersetzt wird), gibt es zu den meisten Zeitwörtern nicht weniger als sechs mit
Hilfe bestimmter Elemente von ihnen abgeleitete besondre Verba, die sogenannten
vläzs Fg,Ma, Gesichter, das heißt Anschauungsarten des Verbalbegriffs. Da¬
durch gelingt es dem Russen, neben dem Zustand oder der Handlung in ihrer
allgemeinen Bedeutung beides auch als bestimmt, als einmalig oder als mehr-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0096" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/299883"/>
          <fw type="header" place="top"> Sie Physiognomie der russischen Sprache</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_282" prev="#ID_281"> bodenständig. Und daran ändert auch die Tatsache nichts, daß ethnographisch<lb/>
ihre Herkunft ein wenig zweifelhaft erscheinen kann, und daß vielfach, obwohl<lb/>
mit örtlichen Unterschieden, Züge und Körperbildung an den asiatischen Völker¬<lb/>
sturm erinnern, der das Land dritthalb Jahrhunderte lang niederzwang. Sie<lb/>
haben in jedem Fall ein größeres Recht, sich auf ihre Abstammung zu berufen,<lb/>
als sich etwa die heutigen Griechen Nachkommen der Hellenen nennen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_283" next="#ID_284"> Dagegen ist nicht zu leugnen, daß die russische Sprache geschichtlich eine<lb/>
hinter andern Indogermanen weit zurückliegende Stufe der Kultur vertritt.<lb/>
Das zeigt sich gerade in der Eigenschaft, die beim Erlernen sofort die Auf¬<lb/>
merksamkeit, und zwar in wenig erwünschter Weise, auf sich zieht: ihrem<lb/>
ungeheuern Formenreichtum. Denn es ist ein anerkanntes Gesetz, daß Sprach¬<lb/>
bildung und Geschichte eines Volkes sich ablösen. Sobald eine Stammes¬<lb/>
gemeinschaft im freundlichen oder feindlichen Verkehr mit den vorgeschrittenem<lb/>
Nachbarn zu handeln und zu denken beginnt, tritt über der Notwendigkeit<lb/>
rascherer Verständigung die jugendliche Freude am sprachlichen Schaffen oder<lb/>
Ausgestalten in zunehmendem Maße zurück. Das Englische, dem das Wort<lb/>
nur gangbare Münze ist, trügt einen völlig greisenhafter Charakter, während<lb/>
das Russische, dessen Träger regungslos im Zustande des Barbarentums ver¬<lb/>
harrten, als sich die westlichen Völker Europas längst von dem vollen Strom<lb/>
des Kulturlebens tragen ließen, noch deutlich die Pracht und die Fülle seiner<lb/>
Glieder zeigt. Die Abwandlung der Nomina weist nicht nur die sechs üblichen<lb/>
Fälle, sondern noch einen siebenten, den Instrumentalis (twarltelM^, eigentlich<lb/>
den Schöpferischen) auf, und zwar regelmäßig. Das ergibt für jedes Eigen¬<lb/>
schaftswort mit seinen drei Geschlechtern sechs neue und besondre Bildungen,<lb/>
für die in andern Sprachen höchstens fragmentarische Ansätze &#x2014; oder Über¬<lb/>
reste &#x2014; vorhanden sind. Dem Engländer genügt die eine Form ssvoä für<lb/>
alle Numeri, Kasus und Genera; das Deutsche hat immerhin noch sechs,<lb/>
nämlich: gut, guter, gute, gutes, gutem und guten, das Russische aber 2x7x3,<lb/>
also 42, wozu noch sechs abgekürzte Formen für die prädikative Stellung<lb/>
kommen, sodaß die Gesamtzahl 48 beträgt! Von den Hauptwörtern werden<lb/>
nicht nur die Appellativa, sondern auch die Vor- und Familiennamen dekli¬<lb/>
niert, und zwar nach Bedürfnis für jedes der drei Geschlechter, also ^IsKsK<lb/>
RÄiuHnok, Uf,r^ RaraanmvÄ, RamÄN^o x16mjg. (das Haus Romanoff) und<lb/>
dann weiter durch alle Kasus und Numeri. Ganz eigentümlich hat sich das<lb/>
Verbum entwickelt. Während die Konjugation an sich höchst einfacher Art ist<lb/>
und nicht nur auf die Mehrzahl der zusammengesetzten Zeiten, sondern auch<lb/>
auf den Konjunktiv verzichtet (der durch das Präteritum mit der Partikel 07<lb/>
ersetzt wird), gibt es zu den meisten Zeitwörtern nicht weniger als sechs mit<lb/>
Hilfe bestimmter Elemente von ihnen abgeleitete besondre Verba, die sogenannten<lb/>
vläzs Fg,Ma, Gesichter, das heißt Anschauungsarten des Verbalbegriffs. Da¬<lb/>
durch gelingt es dem Russen, neben dem Zustand oder der Handlung in ihrer<lb/>
allgemeinen Bedeutung beides auch als bestimmt, als einmalig oder als mehr-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0096] Sie Physiognomie der russischen Sprache bodenständig. Und daran ändert auch die Tatsache nichts, daß ethnographisch ihre Herkunft ein wenig zweifelhaft erscheinen kann, und daß vielfach, obwohl mit örtlichen Unterschieden, Züge und Körperbildung an den asiatischen Völker¬ sturm erinnern, der das Land dritthalb Jahrhunderte lang niederzwang. Sie haben in jedem Fall ein größeres Recht, sich auf ihre Abstammung zu berufen, als sich etwa die heutigen Griechen Nachkommen der Hellenen nennen. Dagegen ist nicht zu leugnen, daß die russische Sprache geschichtlich eine hinter andern Indogermanen weit zurückliegende Stufe der Kultur vertritt. Das zeigt sich gerade in der Eigenschaft, die beim Erlernen sofort die Auf¬ merksamkeit, und zwar in wenig erwünschter Weise, auf sich zieht: ihrem ungeheuern Formenreichtum. Denn es ist ein anerkanntes Gesetz, daß Sprach¬ bildung und Geschichte eines Volkes sich ablösen. Sobald eine Stammes¬ gemeinschaft im freundlichen oder feindlichen Verkehr mit den vorgeschrittenem Nachbarn zu handeln und zu denken beginnt, tritt über der Notwendigkeit rascherer Verständigung die jugendliche Freude am sprachlichen Schaffen oder Ausgestalten in zunehmendem Maße zurück. Das Englische, dem das Wort nur gangbare Münze ist, trügt einen völlig greisenhafter Charakter, während das Russische, dessen Träger regungslos im Zustande des Barbarentums ver¬ harrten, als sich die westlichen Völker Europas längst von dem vollen Strom des Kulturlebens tragen ließen, noch deutlich die Pracht und die Fülle seiner Glieder zeigt. Die Abwandlung der Nomina weist nicht nur die sechs üblichen Fälle, sondern noch einen siebenten, den Instrumentalis (twarltelM^, eigentlich den Schöpferischen) auf, und zwar regelmäßig. Das ergibt für jedes Eigen¬ schaftswort mit seinen drei Geschlechtern sechs neue und besondre Bildungen, für die in andern Sprachen höchstens fragmentarische Ansätze — oder Über¬ reste — vorhanden sind. Dem Engländer genügt die eine Form ssvoä für alle Numeri, Kasus und Genera; das Deutsche hat immerhin noch sechs, nämlich: gut, guter, gute, gutes, gutem und guten, das Russische aber 2x7x3, also 42, wozu noch sechs abgekürzte Formen für die prädikative Stellung kommen, sodaß die Gesamtzahl 48 beträgt! Von den Hauptwörtern werden nicht nur die Appellativa, sondern auch die Vor- und Familiennamen dekli¬ niert, und zwar nach Bedürfnis für jedes der drei Geschlechter, also ^IsKsK RÄiuHnok, Uf,r^ RaraanmvÄ, RamÄN^o x16mjg. (das Haus Romanoff) und dann weiter durch alle Kasus und Numeri. Ganz eigentümlich hat sich das Verbum entwickelt. Während die Konjugation an sich höchst einfacher Art ist und nicht nur auf die Mehrzahl der zusammengesetzten Zeiten, sondern auch auf den Konjunktiv verzichtet (der durch das Präteritum mit der Partikel 07 ersetzt wird), gibt es zu den meisten Zeitwörtern nicht weniger als sechs mit Hilfe bestimmter Elemente von ihnen abgeleitete besondre Verba, die sogenannten vläzs Fg,Ma, Gesichter, das heißt Anschauungsarten des Verbalbegriffs. Da¬ durch gelingt es dem Russen, neben dem Zustand oder der Handlung in ihrer allgemeinen Bedeutung beides auch als bestimmt, als einmalig oder als mehr-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/96
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/96>, abgerufen am 27.12.2024.