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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Über den Brenner

Lothars 1137, der hier durchkam, ebenso wie später der schon genannte Domini¬
kaner Faber in derselben und in umgekehrter Richtung von Ulm über Memmingen
und Kempten diese Straße ritt (1480 und 1483/84). Hinter Reutte steigt die
Straße, das Lechtal verlassend, nach dem Engpaß hinauf, den einst die Ehren-
berger Klause mit ihren noch teilweise erhaltnen Mauern, Türmen und Toren
sperrte und den Kurfürst Moritz von Sachsen, von Augsburg her vorgehend, am
19. Mai 1552 erstürmte; sie bezeichnet den Übergang nach dem Tale der
Loisach, die hier ihren Ursprung nimmt. Auf der Paßhöhe, also auf der
Wasserscheide (1128 Meter), liegt das Dorf Lahn, das seinen Namen den
Lawinen (Lahn), die es mehrmals (1456 und 1689) zerstörten, verdankt, denn
der ursprüngliche Name war der bezeichnendere Mittenwald; liegt es doch, von
saftigen grünen Matten umgeben, inmitten dunkler Wälder, die ringsum an
den hohen Bergwänden aufsteigen. Im breiten, waldumsäumten Wiesentale der
jungen Loisach, wo zahlreiche Schellenschmieden ein uraltes Gewerbe vertreten,
führt die Straße hinunter nach dem weiten Kessel von Lermoos (989 Meter).
Ein großartiges Bild, eines der schönsten in den nördlichen Kalkalpen! Im
Westen türmt sich die gewaltige Felsenmauer der Zugspitze bis zu ihrer zackigen
Krone empor, im Süden ragt der kahle, graue Kegel der Sonuenspitze auf, an
der Westseite zieht sich längs der Straße das ansehnliche Dorf Lermoos mit
feinen großen, ihren breiten Giebel der Straße zukehrenden Bauernhäusern, deren
Fenster oft mit Blumen ausgesetzt sind und Haussprüche über der Tür tragen;
die oft reichverzierten, schmiedeeisernen Grabkreuze auf dem Friedhofe um die
barock ausgeputzte Kirche verraten ebenso einen gewissen Wohlstand wie eine
alte Kunstttbung, und dem entspricht das alte behäbige, geräumige Gasthaus zu
den drei Mohren am südlichen Ende des Ortes. Von dort übersieht man die
ganze weite Fläche des Mooses, das ursprünglich ein Sumpf war, aber durch
Kanalisation in fruchtbares Wiesenland verwandelt worden ist und einzelnen
Bauern gehört. Gegenüber dicht am Fuße der Zugspitze in reichem Bauin-
Wuchs versteckt sich Ehrwald. Von Lermoos aus zieht die Straße durch
das stattliche Biberwier langsam bergan in zahlreichen Windungen durch
Prächtigen Hochwald an mehreren tief unten liegenden, im herrlichsten Pfau¬
blau schimmernden Seen vorüber, nach der Paßhöhe des Fern (1210 Meter),
die ein kleines Wirtshaus bezeichnet. Oft ist hier König Ludwig der Zweite
von Bayern, dessen halb sagenhaftes Gedächtnis im Gebirgsvolke noch lebendig
ist, ganz allein erschienen, immer still und in sich gekehrt, aber freundlich und
leutselig. Die alte schmale Straße steigt von hier an hoch oben am westlichen
AbHange herunter, oft von Schutzmauern eingefaßt, die jetzt im Verfall sind,
und weiterhin gesperrt durch das Schloß Fernstein; die neue, erst 184S er¬
öffnete Straße umzieht in weitem Bogen über dem dunkelgrünen Fernsteinsee,
in dessen Mitte eine kleine Insel die Trümmer der Sigmundsburg trägt, die
Ostseite des Bergkessels und erreicht dann in dein einsamen, sich allmählich
verbreiternden Tale den ansehnlichen Marktflecken Nassereit, dessen Name seine


Über den Brenner

Lothars 1137, der hier durchkam, ebenso wie später der schon genannte Domini¬
kaner Faber in derselben und in umgekehrter Richtung von Ulm über Memmingen
und Kempten diese Straße ritt (1480 und 1483/84). Hinter Reutte steigt die
Straße, das Lechtal verlassend, nach dem Engpaß hinauf, den einst die Ehren-
berger Klause mit ihren noch teilweise erhaltnen Mauern, Türmen und Toren
sperrte und den Kurfürst Moritz von Sachsen, von Augsburg her vorgehend, am
19. Mai 1552 erstürmte; sie bezeichnet den Übergang nach dem Tale der
Loisach, die hier ihren Ursprung nimmt. Auf der Paßhöhe, also auf der
Wasserscheide (1128 Meter), liegt das Dorf Lahn, das seinen Namen den
Lawinen (Lahn), die es mehrmals (1456 und 1689) zerstörten, verdankt, denn
der ursprüngliche Name war der bezeichnendere Mittenwald; liegt es doch, von
saftigen grünen Matten umgeben, inmitten dunkler Wälder, die ringsum an
den hohen Bergwänden aufsteigen. Im breiten, waldumsäumten Wiesentale der
jungen Loisach, wo zahlreiche Schellenschmieden ein uraltes Gewerbe vertreten,
führt die Straße hinunter nach dem weiten Kessel von Lermoos (989 Meter).
Ein großartiges Bild, eines der schönsten in den nördlichen Kalkalpen! Im
Westen türmt sich die gewaltige Felsenmauer der Zugspitze bis zu ihrer zackigen
Krone empor, im Süden ragt der kahle, graue Kegel der Sonuenspitze auf, an
der Westseite zieht sich längs der Straße das ansehnliche Dorf Lermoos mit
feinen großen, ihren breiten Giebel der Straße zukehrenden Bauernhäusern, deren
Fenster oft mit Blumen ausgesetzt sind und Haussprüche über der Tür tragen;
die oft reichverzierten, schmiedeeisernen Grabkreuze auf dem Friedhofe um die
barock ausgeputzte Kirche verraten ebenso einen gewissen Wohlstand wie eine
alte Kunstttbung, und dem entspricht das alte behäbige, geräumige Gasthaus zu
den drei Mohren am südlichen Ende des Ortes. Von dort übersieht man die
ganze weite Fläche des Mooses, das ursprünglich ein Sumpf war, aber durch
Kanalisation in fruchtbares Wiesenland verwandelt worden ist und einzelnen
Bauern gehört. Gegenüber dicht am Fuße der Zugspitze in reichem Bauin-
Wuchs versteckt sich Ehrwald. Von Lermoos aus zieht die Straße durch
das stattliche Biberwier langsam bergan in zahlreichen Windungen durch
Prächtigen Hochwald an mehreren tief unten liegenden, im herrlichsten Pfau¬
blau schimmernden Seen vorüber, nach der Paßhöhe des Fern (1210 Meter),
die ein kleines Wirtshaus bezeichnet. Oft ist hier König Ludwig der Zweite
von Bayern, dessen halb sagenhaftes Gedächtnis im Gebirgsvolke noch lebendig
ist, ganz allein erschienen, immer still und in sich gekehrt, aber freundlich und
leutselig. Die alte schmale Straße steigt von hier an hoch oben am westlichen
AbHange herunter, oft von Schutzmauern eingefaßt, die jetzt im Verfall sind,
und weiterhin gesperrt durch das Schloß Fernstein; die neue, erst 184S er¬
öffnete Straße umzieht in weitem Bogen über dem dunkelgrünen Fernsteinsee,
in dessen Mitte eine kleine Insel die Trümmer der Sigmundsburg trägt, die
Ostseite des Bergkessels und erreicht dann in dein einsamen, sich allmählich
verbreiternden Tale den ansehnlichen Marktflecken Nassereit, dessen Name seine


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[0077] Über den Brenner Lothars 1137, der hier durchkam, ebenso wie später der schon genannte Domini¬ kaner Faber in derselben und in umgekehrter Richtung von Ulm über Memmingen und Kempten diese Straße ritt (1480 und 1483/84). Hinter Reutte steigt die Straße, das Lechtal verlassend, nach dem Engpaß hinauf, den einst die Ehren- berger Klause mit ihren noch teilweise erhaltnen Mauern, Türmen und Toren sperrte und den Kurfürst Moritz von Sachsen, von Augsburg her vorgehend, am 19. Mai 1552 erstürmte; sie bezeichnet den Übergang nach dem Tale der Loisach, die hier ihren Ursprung nimmt. Auf der Paßhöhe, also auf der Wasserscheide (1128 Meter), liegt das Dorf Lahn, das seinen Namen den Lawinen (Lahn), die es mehrmals (1456 und 1689) zerstörten, verdankt, denn der ursprüngliche Name war der bezeichnendere Mittenwald; liegt es doch, von saftigen grünen Matten umgeben, inmitten dunkler Wälder, die ringsum an den hohen Bergwänden aufsteigen. Im breiten, waldumsäumten Wiesentale der jungen Loisach, wo zahlreiche Schellenschmieden ein uraltes Gewerbe vertreten, führt die Straße hinunter nach dem weiten Kessel von Lermoos (989 Meter). Ein großartiges Bild, eines der schönsten in den nördlichen Kalkalpen! Im Westen türmt sich die gewaltige Felsenmauer der Zugspitze bis zu ihrer zackigen Krone empor, im Süden ragt der kahle, graue Kegel der Sonuenspitze auf, an der Westseite zieht sich längs der Straße das ansehnliche Dorf Lermoos mit feinen großen, ihren breiten Giebel der Straße zukehrenden Bauernhäusern, deren Fenster oft mit Blumen ausgesetzt sind und Haussprüche über der Tür tragen; die oft reichverzierten, schmiedeeisernen Grabkreuze auf dem Friedhofe um die barock ausgeputzte Kirche verraten ebenso einen gewissen Wohlstand wie eine alte Kunstttbung, und dem entspricht das alte behäbige, geräumige Gasthaus zu den drei Mohren am südlichen Ende des Ortes. Von dort übersieht man die ganze weite Fläche des Mooses, das ursprünglich ein Sumpf war, aber durch Kanalisation in fruchtbares Wiesenland verwandelt worden ist und einzelnen Bauern gehört. Gegenüber dicht am Fuße der Zugspitze in reichem Bauin- Wuchs versteckt sich Ehrwald. Von Lermoos aus zieht die Straße durch das stattliche Biberwier langsam bergan in zahlreichen Windungen durch Prächtigen Hochwald an mehreren tief unten liegenden, im herrlichsten Pfau¬ blau schimmernden Seen vorüber, nach der Paßhöhe des Fern (1210 Meter), die ein kleines Wirtshaus bezeichnet. Oft ist hier König Ludwig der Zweite von Bayern, dessen halb sagenhaftes Gedächtnis im Gebirgsvolke noch lebendig ist, ganz allein erschienen, immer still und in sich gekehrt, aber freundlich und leutselig. Die alte schmale Straße steigt von hier an hoch oben am westlichen AbHange herunter, oft von Schutzmauern eingefaßt, die jetzt im Verfall sind, und weiterhin gesperrt durch das Schloß Fernstein; die neue, erst 184S er¬ öffnete Straße umzieht in weitem Bogen über dem dunkelgrünen Fernsteinsee, in dessen Mitte eine kleine Insel die Trümmer der Sigmundsburg trägt, die Ostseite des Bergkessels und erreicht dann in dein einsamen, sich allmählich verbreiternden Tale den ansehnlichen Marktflecken Nassereit, dessen Name seine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/77>, abgerufen am 23.07.2024.