Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Polen und die Polen im heutigen Europa

Ob in den heutigen kritischen Zeiten für Rußland die Möglichkeit erscheint,
daß Polen eine weitgehende Autonomie unter zarischem Zepter erlangt, bleibe
dahingestellt. Wissen kann das niemand, denn die Zukunft der russischen
Dinge ist mit einem dichten Schleier verhüllt. Die volle Unabhängigkeit aber
wäre sicher von Rußland auf gütlichem Wege nur zu erreichen, wenn es voll¬
ständig der Anarchie versiele. Darüber ist natürlich nicht in praktische Er¬
örterung einzutreten. Andernfalls müßten die Polen auf Tod und Leben
kämpfen, wie am Ende des achtzehnten Jahrhunderts, wie 1830/31 und 1863.
Auch über die Aussichten, auf die sie dabei zu rechnen hätten, kann man
füglich nicht reden. Nur soviel kann man sagen, daß sie sich nicht die kleinste
Hoffnung machen dürfen, wenn in Rußland auf die eine oder die andre Art eine
starke Regierung wiederhergestellt wird. Auch wenn es eine demokratische
sein sollte, würde ihnen keine rosige Morgensonne winken. Denn auch was
heute in nationalen Fragen verhältnismäßig tolerant auftritt, wird sich schwer¬
lich zu Zugeständnissen herbeilassen, wenn Ordnung und Macht zurückgekehrt
sind. Es ist höchst bezeichnend, daß der Slawenkongrreß in Prag 1848 so
gut wie gar nicht aus Rußland beschickt wurde, daß Bakunin mit seinem
polenfrenndlichen Kosmopolitismus in Rußland schlechtweg gar keinen Anklang
fand, und daß die höchst populäre, einflußreiche "Glocke" Alexander Herzens
in Rußland allen Anklang verlor und baldigst unterging, als sie in Bakunins
Hände kam und Partei für die aufständischen Polen ergriff. Es ist kaum
denkbar, daß sich die Polen von Nußland losreißen können, solange dieses
eine Großmacht ist.

Daß die Polen daran denken könnten, mit Gewalt dem Deutschen Reiche
die Landesteile zu entreißen, in denen überwiegend polnisch gesprochen wird,
glauben wir nicht. So lange ein bald schwächer, bald stärker auftretender
revolutionärer Zug durch die polnischen Lande weht, wird er immer ein
Element der Einigkeit unter Deutschland und Nußland sein. "Wenn zwei
denselben Wolf bei den Ohren haben, sagte kürzlich recht drastisch ein eng¬
lisches Blatt, werden sie immer geneigt sein, sich zu vertragen." Man hat
uns gedroht, wenn Polen erst mit Rußland im reinen sei, werde die polnische
Propaganda in Deutschland erst recht losgehn. Das wäre bedauerlich und
könnte allerlei Unannehmlichkeiten schaffen -- am meisten für die Polen.
Jeder Erfolg ist ausgeschlossen. Ob sich die Polen den umgekehrten Fall
vorgelegt haben, nämlich wie ihre Chancen steigen würden, wenn sie nicht
auch noch mit Deutschland in schwerer Differenz stünden, wissen wir nicht.
Deren Beilegung könnte natürlich in nichts anderm bestehn als in der rückhalt¬
losen Anerkennung der Tatsache, daß die Ostgrenze Preußens unverrückbar
feststeht. Über ein andres ist gar nicht zu verhandeln. Mündliche Zusagen
bedeuten natürlich nichts, sie binden höchstens den, der sie abgibt. Entscheidend
wäre nur ein vollständig andres Verhalten des gesamten Polentums in Deutsch¬
land, der Verzicht auf die Widerspenstigkeit, die bis jetzt soviel Verdrießlich-


Polen und die Polen im heutigen Europa

Ob in den heutigen kritischen Zeiten für Rußland die Möglichkeit erscheint,
daß Polen eine weitgehende Autonomie unter zarischem Zepter erlangt, bleibe
dahingestellt. Wissen kann das niemand, denn die Zukunft der russischen
Dinge ist mit einem dichten Schleier verhüllt. Die volle Unabhängigkeit aber
wäre sicher von Rußland auf gütlichem Wege nur zu erreichen, wenn es voll¬
ständig der Anarchie versiele. Darüber ist natürlich nicht in praktische Er¬
örterung einzutreten. Andernfalls müßten die Polen auf Tod und Leben
kämpfen, wie am Ende des achtzehnten Jahrhunderts, wie 1830/31 und 1863.
Auch über die Aussichten, auf die sie dabei zu rechnen hätten, kann man
füglich nicht reden. Nur soviel kann man sagen, daß sie sich nicht die kleinste
Hoffnung machen dürfen, wenn in Rußland auf die eine oder die andre Art eine
starke Regierung wiederhergestellt wird. Auch wenn es eine demokratische
sein sollte, würde ihnen keine rosige Morgensonne winken. Denn auch was
heute in nationalen Fragen verhältnismäßig tolerant auftritt, wird sich schwer¬
lich zu Zugeständnissen herbeilassen, wenn Ordnung und Macht zurückgekehrt
sind. Es ist höchst bezeichnend, daß der Slawenkongrreß in Prag 1848 so
gut wie gar nicht aus Rußland beschickt wurde, daß Bakunin mit seinem
polenfrenndlichen Kosmopolitismus in Rußland schlechtweg gar keinen Anklang
fand, und daß die höchst populäre, einflußreiche „Glocke" Alexander Herzens
in Rußland allen Anklang verlor und baldigst unterging, als sie in Bakunins
Hände kam und Partei für die aufständischen Polen ergriff. Es ist kaum
denkbar, daß sich die Polen von Nußland losreißen können, solange dieses
eine Großmacht ist.

Daß die Polen daran denken könnten, mit Gewalt dem Deutschen Reiche
die Landesteile zu entreißen, in denen überwiegend polnisch gesprochen wird,
glauben wir nicht. So lange ein bald schwächer, bald stärker auftretender
revolutionärer Zug durch die polnischen Lande weht, wird er immer ein
Element der Einigkeit unter Deutschland und Nußland sein. „Wenn zwei
denselben Wolf bei den Ohren haben, sagte kürzlich recht drastisch ein eng¬
lisches Blatt, werden sie immer geneigt sein, sich zu vertragen." Man hat
uns gedroht, wenn Polen erst mit Rußland im reinen sei, werde die polnische
Propaganda in Deutschland erst recht losgehn. Das wäre bedauerlich und
könnte allerlei Unannehmlichkeiten schaffen — am meisten für die Polen.
Jeder Erfolg ist ausgeschlossen. Ob sich die Polen den umgekehrten Fall
vorgelegt haben, nämlich wie ihre Chancen steigen würden, wenn sie nicht
auch noch mit Deutschland in schwerer Differenz stünden, wissen wir nicht.
Deren Beilegung könnte natürlich in nichts anderm bestehn als in der rückhalt¬
losen Anerkennung der Tatsache, daß die Ostgrenze Preußens unverrückbar
feststeht. Über ein andres ist gar nicht zu verhandeln. Mündliche Zusagen
bedeuten natürlich nichts, sie binden höchstens den, der sie abgibt. Entscheidend
wäre nur ein vollständig andres Verhalten des gesamten Polentums in Deutsch¬
land, der Verzicht auf die Widerspenstigkeit, die bis jetzt soviel Verdrießlich-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0070" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/299857"/>
          <fw type="header" place="top"> Polen und die Polen im heutigen Europa</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_221" prev="#ID_220"> Ob in den heutigen kritischen Zeiten für Rußland die Möglichkeit erscheint,<lb/>
daß Polen eine weitgehende Autonomie unter zarischem Zepter erlangt, bleibe<lb/>
dahingestellt. Wissen kann das niemand, denn die Zukunft der russischen<lb/>
Dinge ist mit einem dichten Schleier verhüllt. Die volle Unabhängigkeit aber<lb/>
wäre sicher von Rußland auf gütlichem Wege nur zu erreichen, wenn es voll¬<lb/>
ständig der Anarchie versiele. Darüber ist natürlich nicht in praktische Er¬<lb/>
örterung einzutreten. Andernfalls müßten die Polen auf Tod und Leben<lb/>
kämpfen, wie am Ende des achtzehnten Jahrhunderts, wie 1830/31 und 1863.<lb/>
Auch über die Aussichten, auf die sie dabei zu rechnen hätten, kann man<lb/>
füglich nicht reden. Nur soviel kann man sagen, daß sie sich nicht die kleinste<lb/>
Hoffnung machen dürfen, wenn in Rußland auf die eine oder die andre Art eine<lb/>
starke Regierung wiederhergestellt wird. Auch wenn es eine demokratische<lb/>
sein sollte, würde ihnen keine rosige Morgensonne winken. Denn auch was<lb/>
heute in nationalen Fragen verhältnismäßig tolerant auftritt, wird sich schwer¬<lb/>
lich zu Zugeständnissen herbeilassen, wenn Ordnung und Macht zurückgekehrt<lb/>
sind. Es ist höchst bezeichnend, daß der Slawenkongrreß in Prag 1848 so<lb/>
gut wie gar nicht aus Rußland beschickt wurde, daß Bakunin mit seinem<lb/>
polenfrenndlichen Kosmopolitismus in Rußland schlechtweg gar keinen Anklang<lb/>
fand, und daß die höchst populäre, einflußreiche &#x201E;Glocke" Alexander Herzens<lb/>
in Rußland allen Anklang verlor und baldigst unterging, als sie in Bakunins<lb/>
Hände kam und Partei für die aufständischen Polen ergriff. Es ist kaum<lb/>
denkbar, daß sich die Polen von Nußland losreißen können, solange dieses<lb/>
eine Großmacht ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_222" next="#ID_223"> Daß die Polen daran denken könnten, mit Gewalt dem Deutschen Reiche<lb/>
die Landesteile zu entreißen, in denen überwiegend polnisch gesprochen wird,<lb/>
glauben wir nicht. So lange ein bald schwächer, bald stärker auftretender<lb/>
revolutionärer Zug durch die polnischen Lande weht, wird er immer ein<lb/>
Element der Einigkeit unter Deutschland und Nußland sein. &#x201E;Wenn zwei<lb/>
denselben Wolf bei den Ohren haben, sagte kürzlich recht drastisch ein eng¬<lb/>
lisches Blatt, werden sie immer geneigt sein, sich zu vertragen." Man hat<lb/>
uns gedroht, wenn Polen erst mit Rußland im reinen sei, werde die polnische<lb/>
Propaganda in Deutschland erst recht losgehn. Das wäre bedauerlich und<lb/>
könnte allerlei Unannehmlichkeiten schaffen &#x2014; am meisten für die Polen.<lb/>
Jeder Erfolg ist ausgeschlossen. Ob sich die Polen den umgekehrten Fall<lb/>
vorgelegt haben, nämlich wie ihre Chancen steigen würden, wenn sie nicht<lb/>
auch noch mit Deutschland in schwerer Differenz stünden, wissen wir nicht.<lb/>
Deren Beilegung könnte natürlich in nichts anderm bestehn als in der rückhalt¬<lb/>
losen Anerkennung der Tatsache, daß die Ostgrenze Preußens unverrückbar<lb/>
feststeht. Über ein andres ist gar nicht zu verhandeln. Mündliche Zusagen<lb/>
bedeuten natürlich nichts, sie binden höchstens den, der sie abgibt. Entscheidend<lb/>
wäre nur ein vollständig andres Verhalten des gesamten Polentums in Deutsch¬<lb/>
land, der Verzicht auf die Widerspenstigkeit, die bis jetzt soviel Verdrießlich-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0070] Polen und die Polen im heutigen Europa Ob in den heutigen kritischen Zeiten für Rußland die Möglichkeit erscheint, daß Polen eine weitgehende Autonomie unter zarischem Zepter erlangt, bleibe dahingestellt. Wissen kann das niemand, denn die Zukunft der russischen Dinge ist mit einem dichten Schleier verhüllt. Die volle Unabhängigkeit aber wäre sicher von Rußland auf gütlichem Wege nur zu erreichen, wenn es voll¬ ständig der Anarchie versiele. Darüber ist natürlich nicht in praktische Er¬ örterung einzutreten. Andernfalls müßten die Polen auf Tod und Leben kämpfen, wie am Ende des achtzehnten Jahrhunderts, wie 1830/31 und 1863. Auch über die Aussichten, auf die sie dabei zu rechnen hätten, kann man füglich nicht reden. Nur soviel kann man sagen, daß sie sich nicht die kleinste Hoffnung machen dürfen, wenn in Rußland auf die eine oder die andre Art eine starke Regierung wiederhergestellt wird. Auch wenn es eine demokratische sein sollte, würde ihnen keine rosige Morgensonne winken. Denn auch was heute in nationalen Fragen verhältnismäßig tolerant auftritt, wird sich schwer¬ lich zu Zugeständnissen herbeilassen, wenn Ordnung und Macht zurückgekehrt sind. Es ist höchst bezeichnend, daß der Slawenkongrreß in Prag 1848 so gut wie gar nicht aus Rußland beschickt wurde, daß Bakunin mit seinem polenfrenndlichen Kosmopolitismus in Rußland schlechtweg gar keinen Anklang fand, und daß die höchst populäre, einflußreiche „Glocke" Alexander Herzens in Rußland allen Anklang verlor und baldigst unterging, als sie in Bakunins Hände kam und Partei für die aufständischen Polen ergriff. Es ist kaum denkbar, daß sich die Polen von Nußland losreißen können, solange dieses eine Großmacht ist. Daß die Polen daran denken könnten, mit Gewalt dem Deutschen Reiche die Landesteile zu entreißen, in denen überwiegend polnisch gesprochen wird, glauben wir nicht. So lange ein bald schwächer, bald stärker auftretender revolutionärer Zug durch die polnischen Lande weht, wird er immer ein Element der Einigkeit unter Deutschland und Nußland sein. „Wenn zwei denselben Wolf bei den Ohren haben, sagte kürzlich recht drastisch ein eng¬ lisches Blatt, werden sie immer geneigt sein, sich zu vertragen." Man hat uns gedroht, wenn Polen erst mit Rußland im reinen sei, werde die polnische Propaganda in Deutschland erst recht losgehn. Das wäre bedauerlich und könnte allerlei Unannehmlichkeiten schaffen — am meisten für die Polen. Jeder Erfolg ist ausgeschlossen. Ob sich die Polen den umgekehrten Fall vorgelegt haben, nämlich wie ihre Chancen steigen würden, wenn sie nicht auch noch mit Deutschland in schwerer Differenz stünden, wissen wir nicht. Deren Beilegung könnte natürlich in nichts anderm bestehn als in der rückhalt¬ losen Anerkennung der Tatsache, daß die Ostgrenze Preußens unverrückbar feststeht. Über ein andres ist gar nicht zu verhandeln. Mündliche Zusagen bedeuten natürlich nichts, sie binden höchstens den, der sie abgibt. Entscheidend wäre nur ein vollständig andres Verhalten des gesamten Polentums in Deutsch¬ land, der Verzicht auf die Widerspenstigkeit, die bis jetzt soviel Verdrießlich-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/70
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/70>, abgerufen am 23.07.2024.