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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Llizabeth Percy

standen weit geöffnet. Das Zimmer füllte sich mit Zug und Kälte. Die alte
Lady Northumberland stand, noch immer auf die Schulter des Pagen gestützt,
hinter allen den andern -- auf den Zehenspitzen -- versuchte hinauszusehen und
sah nichts.

Aber Kind . . . Kind . . . sagte sie einmal über das andre. Was ist denn
das? Wer, sagst du, schießt? ... Und auf wen schießen sie?

Lady Elizabeth hatte sich wieder erhoben -- sie war leichenblaß, und ihr
Gesicht war ganz starr. Sie antwortete ihrer Großmutter nicht, schien sie gar
nicht zu hören, faßte nur eins der Mädchen um den Arm und versuchte zu gehn.

Aber Mylady . . . sagte Amelia, die jetzt wieder zu sich gekommen war. Aber
Mylady ...

Sie legte ihren Arm um die Taille ihrer Herrin und führte sie durch das
Zimmer. Lady Elizabeth ging wie im Traum, konnte sich kaum weiterschleppen.
In dem Zimmer vor ihrer Schlafstube sank sie auf das lange Sofa nieder -- und
brach endlich in Tränen aus.

Amelia stand ganz hilflos neben ihrer Dame. Sie war natürlich auch er¬
schüttert, aber trotzdem . . . Sie konnte nicht recht begreifen, daß sich Lady Eliza¬
beth Sir Thomas Schicksal so zu Herzen nehmen konnte. Und er war, wenn man
die Sache bei Lichte besah, doch nur verwundet . . .

Das sagte sie auch zu ihrer Herrin: er sei vielleicht nur verwundet. Aber
sie machte nur eine verzweifelte Bewegung mit der Hand und weinte dann ebenso
heftig wie vorher.

Plötzlich sah sie zu Amelia auf.

Hast du den Mann gesehen? fragte sie hastig, mitten in einem Schluchzen.

Ja, sagte Amelia, entsetzt über den Ausdruck in Myladys Gesicht. Aber --
das heißt, nicht so, daß ich ihn wieder erkennen würde . . .

Lady Elizabeth saß schweigend da und starrte ausdruckslos mit ihren roten,
geschwollnen Augen vor sich hin. Sie hielt das spitzenbesetzte Taschentuch vor den
Mund und biß in einen der Zipfel.

Amelia, sagte sie langsam, mit offenbarer Anstrengung, ohne das Mädchen
anzusehen . . . Und dann, sich unruhig erhebend: Nein, wir wollen in mein Schlaf¬
zimmer gehn und die Tür abschließen.

Da drinnen setzte sie sich mit dem Rücken gegen das Fenster, beugte sich
hinab und strich mit beiden Händen das Kleid über ihren Knien, als ob sie schlie߬
lich doch nicht mit sich einig werden könne, was sie sagen sollte.

Amelia sah, wie nervös, zermartert, voller Angst sie war -- sie, die sonst
immer so ruhig und so gleichgiltig offenherzig zu sein Pflegte.

Mylady, flüsterte Amelia und kniete neben ihr nieder. Sagt es mir. Jetzt --
ehe jemand kommt.

Ach. Amelia, jammerte sie, und die Tränen fingen wieder an aus ihren Augen
zu strömen. Ich weiß nicht, was ich glauben oder denken soll . . . Ich glaube
es nicht . . . Nein nein . . . Das Würde ihm gar nicht ähnlich sehen . . .

Amelia lag auf den Knien und sah mit ihren klaren, runden Augen zu ihr
empor und konnte sie nicht verstehn.

Lady Elizabeth erhob sich und ging unruhig auf und nieder.

Wilfred, sagte sie plötzlich -- der kleine Wilfred von daheim, aus Alnwick,
das ist der klügste und ergebenste von allen meinen Pagen . . . Nicht wahr? . . .
Glaubst du nicht auch? . . .

Ich weiß nicht, Mylady. Ich weiß nicht, was Mylady meint, sagte die arme
Amelia.


Grenzboten III 1906 91
Llizabeth Percy

standen weit geöffnet. Das Zimmer füllte sich mit Zug und Kälte. Die alte
Lady Northumberland stand, noch immer auf die Schulter des Pagen gestützt,
hinter allen den andern — auf den Zehenspitzen — versuchte hinauszusehen und
sah nichts.

Aber Kind . . . Kind . . . sagte sie einmal über das andre. Was ist denn
das? Wer, sagst du, schießt? ... Und auf wen schießen sie?

Lady Elizabeth hatte sich wieder erhoben — sie war leichenblaß, und ihr
Gesicht war ganz starr. Sie antwortete ihrer Großmutter nicht, schien sie gar
nicht zu hören, faßte nur eins der Mädchen um den Arm und versuchte zu gehn.

Aber Mylady . . . sagte Amelia, die jetzt wieder zu sich gekommen war. Aber
Mylady ...

Sie legte ihren Arm um die Taille ihrer Herrin und führte sie durch das
Zimmer. Lady Elizabeth ging wie im Traum, konnte sich kaum weiterschleppen.
In dem Zimmer vor ihrer Schlafstube sank sie auf das lange Sofa nieder — und
brach endlich in Tränen aus.

Amelia stand ganz hilflos neben ihrer Dame. Sie war natürlich auch er¬
schüttert, aber trotzdem . . . Sie konnte nicht recht begreifen, daß sich Lady Eliza¬
beth Sir Thomas Schicksal so zu Herzen nehmen konnte. Und er war, wenn man
die Sache bei Lichte besah, doch nur verwundet . . .

Das sagte sie auch zu ihrer Herrin: er sei vielleicht nur verwundet. Aber
sie machte nur eine verzweifelte Bewegung mit der Hand und weinte dann ebenso
heftig wie vorher.

Plötzlich sah sie zu Amelia auf.

Hast du den Mann gesehen? fragte sie hastig, mitten in einem Schluchzen.

Ja, sagte Amelia, entsetzt über den Ausdruck in Myladys Gesicht. Aber —
das heißt, nicht so, daß ich ihn wieder erkennen würde . . .

Lady Elizabeth saß schweigend da und starrte ausdruckslos mit ihren roten,
geschwollnen Augen vor sich hin. Sie hielt das spitzenbesetzte Taschentuch vor den
Mund und biß in einen der Zipfel.

Amelia, sagte sie langsam, mit offenbarer Anstrengung, ohne das Mädchen
anzusehen . . . Und dann, sich unruhig erhebend: Nein, wir wollen in mein Schlaf¬
zimmer gehn und die Tür abschließen.

Da drinnen setzte sie sich mit dem Rücken gegen das Fenster, beugte sich
hinab und strich mit beiden Händen das Kleid über ihren Knien, als ob sie schlie߬
lich doch nicht mit sich einig werden könne, was sie sagen sollte.

Amelia sah, wie nervös, zermartert, voller Angst sie war — sie, die sonst
immer so ruhig und so gleichgiltig offenherzig zu sein Pflegte.

Mylady, flüsterte Amelia und kniete neben ihr nieder. Sagt es mir. Jetzt —
ehe jemand kommt.

Ach. Amelia, jammerte sie, und die Tränen fingen wieder an aus ihren Augen
zu strömen. Ich weiß nicht, was ich glauben oder denken soll . . . Ich glaube
es nicht . . . Nein nein . . . Das Würde ihm gar nicht ähnlich sehen . . .

Amelia lag auf den Knien und sah mit ihren klaren, runden Augen zu ihr
empor und konnte sie nicht verstehn.

Lady Elizabeth erhob sich und ging unruhig auf und nieder.

Wilfred, sagte sie plötzlich — der kleine Wilfred von daheim, aus Alnwick,
das ist der klügste und ergebenste von allen meinen Pagen . . . Nicht wahr? . . .
Glaubst du nicht auch? . . .

Ich weiß nicht, Mylady. Ich weiß nicht, was Mylady meint, sagte die arme
Amelia.


Grenzboten III 1906 91
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[0693] Llizabeth Percy standen weit geöffnet. Das Zimmer füllte sich mit Zug und Kälte. Die alte Lady Northumberland stand, noch immer auf die Schulter des Pagen gestützt, hinter allen den andern — auf den Zehenspitzen — versuchte hinauszusehen und sah nichts. Aber Kind . . . Kind . . . sagte sie einmal über das andre. Was ist denn das? Wer, sagst du, schießt? ... Und auf wen schießen sie? Lady Elizabeth hatte sich wieder erhoben — sie war leichenblaß, und ihr Gesicht war ganz starr. Sie antwortete ihrer Großmutter nicht, schien sie gar nicht zu hören, faßte nur eins der Mädchen um den Arm und versuchte zu gehn. Aber Mylady . . . sagte Amelia, die jetzt wieder zu sich gekommen war. Aber Mylady ... Sie legte ihren Arm um die Taille ihrer Herrin und führte sie durch das Zimmer. Lady Elizabeth ging wie im Traum, konnte sich kaum weiterschleppen. In dem Zimmer vor ihrer Schlafstube sank sie auf das lange Sofa nieder — und brach endlich in Tränen aus. Amelia stand ganz hilflos neben ihrer Dame. Sie war natürlich auch er¬ schüttert, aber trotzdem . . . Sie konnte nicht recht begreifen, daß sich Lady Eliza¬ beth Sir Thomas Schicksal so zu Herzen nehmen konnte. Und er war, wenn man die Sache bei Lichte besah, doch nur verwundet . . . Das sagte sie auch zu ihrer Herrin: er sei vielleicht nur verwundet. Aber sie machte nur eine verzweifelte Bewegung mit der Hand und weinte dann ebenso heftig wie vorher. Plötzlich sah sie zu Amelia auf. Hast du den Mann gesehen? fragte sie hastig, mitten in einem Schluchzen. Ja, sagte Amelia, entsetzt über den Ausdruck in Myladys Gesicht. Aber — das heißt, nicht so, daß ich ihn wieder erkennen würde . . . Lady Elizabeth saß schweigend da und starrte ausdruckslos mit ihren roten, geschwollnen Augen vor sich hin. Sie hielt das spitzenbesetzte Taschentuch vor den Mund und biß in einen der Zipfel. Amelia, sagte sie langsam, mit offenbarer Anstrengung, ohne das Mädchen anzusehen . . . Und dann, sich unruhig erhebend: Nein, wir wollen in mein Schlaf¬ zimmer gehn und die Tür abschließen. Da drinnen setzte sie sich mit dem Rücken gegen das Fenster, beugte sich hinab und strich mit beiden Händen das Kleid über ihren Knien, als ob sie schlie߬ lich doch nicht mit sich einig werden könne, was sie sagen sollte. Amelia sah, wie nervös, zermartert, voller Angst sie war — sie, die sonst immer so ruhig und so gleichgiltig offenherzig zu sein Pflegte. Mylady, flüsterte Amelia und kniete neben ihr nieder. Sagt es mir. Jetzt — ehe jemand kommt. Ach. Amelia, jammerte sie, und die Tränen fingen wieder an aus ihren Augen zu strömen. Ich weiß nicht, was ich glauben oder denken soll . . . Ich glaube es nicht . . . Nein nein . . . Das Würde ihm gar nicht ähnlich sehen . . . Amelia lag auf den Knien und sah mit ihren klaren, runden Augen zu ihr empor und konnte sie nicht verstehn. Lady Elizabeth erhob sich und ging unruhig auf und nieder. Wilfred, sagte sie plötzlich — der kleine Wilfred von daheim, aus Alnwick, das ist der klügste und ergebenste von allen meinen Pagen . . . Nicht wahr? . . . Glaubst du nicht auch? . . . Ich weiß nicht, Mylady. Ich weiß nicht, was Mylady meint, sagte die arme Amelia. Grenzboten III 1906 91

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/693>, abgerufen am 27.12.2024.