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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Christliche Liebestätigkeit

nicht zu ertragen vermag! -- Ein Bekannter will seiner Frau nicht er¬
lauben, des Morgens Arme zu besuchen aus Furcht, es möchte dem Dienst¬
mädchen an der nötigen Aufsicht fehlen, nicht bei ihrer Arbeit (darin ist sie
tüchtig genug), sondern rücksichtlich der Moralität. Wenn er aber mit seiner
Frau Gesellschaften besucht und das Haus auf mehrere Stunden verläßt,
so weiß er sich seiner zärtlichen Sorge um die Moralität der Mädchen zu
entschlagen."

Amalie Sieveking fügt dem hinzu: Meine Augen werden längst geschlossen
sein, ehe das anders geworden sein wird, und diese Inkonsequenz zwischen
Worten und Taten überwunden sein wird. Nun, anders ist es geworden.
Viele Töchter und Mütter und sogar Väter haben gelernt, welches Glück es
ist, die Liebe zur Tat werden zu lassen. Aber ob deshalb diese drei Beispiele
heute nicht mehr angebracht sind? Ich fürchte, noch sehr! Ja es gilt: Liebe
tun, Liebe üben, und in der Übung Liebe lernen. Diese Übung muß an¬
fangen bei den nächsten Pflichten. Wir dürfen nicht vergessen, daß Livingstone
ein tüchtiger Baumwvllenspinner und dabei ein ungeheuer fleißiger Schüler
war, ehe er der für Afrika bahnbrechende Missionar wurde; daß Alexander
Mackay, der spätere Pionier der Mission in Uganda, vorher ein sehr tüchtiger
Ingenieur war, der übrigens in Berlin Sonntags Morgens diesen oder jenen
fernstehenden Kollegen zur Kirche abholte. Ich erinnere an Wieherns schwere
Jugend und eisernen Fleiß, an Fliedners Treue, als seine Gemeinde in den
Bankerott kam.' Also Treue im Kleinen, im Nächsten, das ist unsre erste
Aufgabe in der Gegenwart.

Ich sage mit Fleiß die erste, die grundlegende. Denn es gibt, nun die
Liebestütigkeit in die Breite gegangen und volkstümlich geworden ist, über¬
genug solche, die ein wenig "mitspielen" möchten, aber nur nicht gebunden
sein! Nur nicht durch Pflichten beschränkt sein, zu tun, was einem beliebt!
Das ist nicht Liebe, sondern Liebhaberei und Spielerei. (Als zwei besondre
Hindernisse wirklicher Liebesarbeit bezeichnet Amalie Sieveking "die ungezähmte
Schwatzlust" und "die interessanten Fälle".) Wehe dem armen Kranken, der
etwa von solcher Krankenschwester verpflegt würde. Mag eine Schwester ge¬
hören, zu welchem Verbände es sei, ob Diakonisse oder im Diakonieverein oder
im Roten Kreuz, oder mag sie ganz für sich arbeiten, oder magh ein Helfer,
eine Helferin sein, welcher Art immer, wer nicht an die Pflicht sich treu im
Kleinen binden will, der übt nicht Liebe. "Das ist die Liebe zu Gott, daß
wir seine Gebote halten."

Dieser Gehorsam, diese Treue verpflichtet uns aber zweitens dazu, das
Gewordne zu pflegen und das Geschichtliche zu achten und davon zu lernen.
Es ist untreu und pflichtvergessen, das, was aus hingebender Liebe geschaffen
und so uns übergeben ist, Not leiden zu lassen und statt dessen lieber etwas
ganz neues nach unserm eignen Geschmack zu beginnen. Wir berauben uns
dadurch des großen Segens der Geschichte, denn die Geschichte ist für den, der


Christliche Liebestätigkeit

nicht zu ertragen vermag! — Ein Bekannter will seiner Frau nicht er¬
lauben, des Morgens Arme zu besuchen aus Furcht, es möchte dem Dienst¬
mädchen an der nötigen Aufsicht fehlen, nicht bei ihrer Arbeit (darin ist sie
tüchtig genug), sondern rücksichtlich der Moralität. Wenn er aber mit seiner
Frau Gesellschaften besucht und das Haus auf mehrere Stunden verläßt,
so weiß er sich seiner zärtlichen Sorge um die Moralität der Mädchen zu
entschlagen."

Amalie Sieveking fügt dem hinzu: Meine Augen werden längst geschlossen
sein, ehe das anders geworden sein wird, und diese Inkonsequenz zwischen
Worten und Taten überwunden sein wird. Nun, anders ist es geworden.
Viele Töchter und Mütter und sogar Väter haben gelernt, welches Glück es
ist, die Liebe zur Tat werden zu lassen. Aber ob deshalb diese drei Beispiele
heute nicht mehr angebracht sind? Ich fürchte, noch sehr! Ja es gilt: Liebe
tun, Liebe üben, und in der Übung Liebe lernen. Diese Übung muß an¬
fangen bei den nächsten Pflichten. Wir dürfen nicht vergessen, daß Livingstone
ein tüchtiger Baumwvllenspinner und dabei ein ungeheuer fleißiger Schüler
war, ehe er der für Afrika bahnbrechende Missionar wurde; daß Alexander
Mackay, der spätere Pionier der Mission in Uganda, vorher ein sehr tüchtiger
Ingenieur war, der übrigens in Berlin Sonntags Morgens diesen oder jenen
fernstehenden Kollegen zur Kirche abholte. Ich erinnere an Wieherns schwere
Jugend und eisernen Fleiß, an Fliedners Treue, als seine Gemeinde in den
Bankerott kam.' Also Treue im Kleinen, im Nächsten, das ist unsre erste
Aufgabe in der Gegenwart.

Ich sage mit Fleiß die erste, die grundlegende. Denn es gibt, nun die
Liebestütigkeit in die Breite gegangen und volkstümlich geworden ist, über¬
genug solche, die ein wenig „mitspielen" möchten, aber nur nicht gebunden
sein! Nur nicht durch Pflichten beschränkt sein, zu tun, was einem beliebt!
Das ist nicht Liebe, sondern Liebhaberei und Spielerei. (Als zwei besondre
Hindernisse wirklicher Liebesarbeit bezeichnet Amalie Sieveking „die ungezähmte
Schwatzlust" und „die interessanten Fälle".) Wehe dem armen Kranken, der
etwa von solcher Krankenschwester verpflegt würde. Mag eine Schwester ge¬
hören, zu welchem Verbände es sei, ob Diakonisse oder im Diakonieverein oder
im Roten Kreuz, oder mag sie ganz für sich arbeiten, oder magh ein Helfer,
eine Helferin sein, welcher Art immer, wer nicht an die Pflicht sich treu im
Kleinen binden will, der übt nicht Liebe. „Das ist die Liebe zu Gott, daß
wir seine Gebote halten."

Dieser Gehorsam, diese Treue verpflichtet uns aber zweitens dazu, das
Gewordne zu pflegen und das Geschichtliche zu achten und davon zu lernen.
Es ist untreu und pflichtvergessen, das, was aus hingebender Liebe geschaffen
und so uns übergeben ist, Not leiden zu lassen und statt dessen lieber etwas
ganz neues nach unserm eignen Geschmack zu beginnen. Wir berauben uns
dadurch des großen Segens der Geschichte, denn die Geschichte ist für den, der


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[0616] Christliche Liebestätigkeit nicht zu ertragen vermag! — Ein Bekannter will seiner Frau nicht er¬ lauben, des Morgens Arme zu besuchen aus Furcht, es möchte dem Dienst¬ mädchen an der nötigen Aufsicht fehlen, nicht bei ihrer Arbeit (darin ist sie tüchtig genug), sondern rücksichtlich der Moralität. Wenn er aber mit seiner Frau Gesellschaften besucht und das Haus auf mehrere Stunden verläßt, so weiß er sich seiner zärtlichen Sorge um die Moralität der Mädchen zu entschlagen." Amalie Sieveking fügt dem hinzu: Meine Augen werden längst geschlossen sein, ehe das anders geworden sein wird, und diese Inkonsequenz zwischen Worten und Taten überwunden sein wird. Nun, anders ist es geworden. Viele Töchter und Mütter und sogar Väter haben gelernt, welches Glück es ist, die Liebe zur Tat werden zu lassen. Aber ob deshalb diese drei Beispiele heute nicht mehr angebracht sind? Ich fürchte, noch sehr! Ja es gilt: Liebe tun, Liebe üben, und in der Übung Liebe lernen. Diese Übung muß an¬ fangen bei den nächsten Pflichten. Wir dürfen nicht vergessen, daß Livingstone ein tüchtiger Baumwvllenspinner und dabei ein ungeheuer fleißiger Schüler war, ehe er der für Afrika bahnbrechende Missionar wurde; daß Alexander Mackay, der spätere Pionier der Mission in Uganda, vorher ein sehr tüchtiger Ingenieur war, der übrigens in Berlin Sonntags Morgens diesen oder jenen fernstehenden Kollegen zur Kirche abholte. Ich erinnere an Wieherns schwere Jugend und eisernen Fleiß, an Fliedners Treue, als seine Gemeinde in den Bankerott kam.' Also Treue im Kleinen, im Nächsten, das ist unsre erste Aufgabe in der Gegenwart. Ich sage mit Fleiß die erste, die grundlegende. Denn es gibt, nun die Liebestütigkeit in die Breite gegangen und volkstümlich geworden ist, über¬ genug solche, die ein wenig „mitspielen" möchten, aber nur nicht gebunden sein! Nur nicht durch Pflichten beschränkt sein, zu tun, was einem beliebt! Das ist nicht Liebe, sondern Liebhaberei und Spielerei. (Als zwei besondre Hindernisse wirklicher Liebesarbeit bezeichnet Amalie Sieveking „die ungezähmte Schwatzlust" und „die interessanten Fälle".) Wehe dem armen Kranken, der etwa von solcher Krankenschwester verpflegt würde. Mag eine Schwester ge¬ hören, zu welchem Verbände es sei, ob Diakonisse oder im Diakonieverein oder im Roten Kreuz, oder mag sie ganz für sich arbeiten, oder magh ein Helfer, eine Helferin sein, welcher Art immer, wer nicht an die Pflicht sich treu im Kleinen binden will, der übt nicht Liebe. „Das ist die Liebe zu Gott, daß wir seine Gebote halten." Dieser Gehorsam, diese Treue verpflichtet uns aber zweitens dazu, das Gewordne zu pflegen und das Geschichtliche zu achten und davon zu lernen. Es ist untreu und pflichtvergessen, das, was aus hingebender Liebe geschaffen und so uns übergeben ist, Not leiden zu lassen und statt dessen lieber etwas ganz neues nach unserm eignen Geschmack zu beginnen. Wir berauben uns dadurch des großen Segens der Geschichte, denn die Geschichte ist für den, der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/616>, abgerufen am 27.12.2024.