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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Das neue Exerzierreglement für die Infanterie

später gelang es durch die Erfindung des rauchlosen Pulvers und die An¬
wendung kleiner Gcwehrkaliber in Verbindung mit verbesserten Mehrladeein¬
richtungen dem Gewehr eine so vergrößerte Tragweite und Trefffähigkeit zu
geben, daß eine vollständige Umwandlung aller Gefechtsformen die Folge sein
mußte. In Deutschland wurde das "Gewehr 88", das alle diese Verbesserungen
auswies, eingeführt und etwa 1890 an die Truppen ausgegeben.

Diesen neuen Anforderungen sollte das jetzt ungiltig gewordne Exerzier¬
reglement für die Infanterie gerecht werden. Die Zeiten, wo geschlossene Ba¬
taillone auf dem Schlachtfelde vorgehn konnten, waren vorüber, und so betonte
das Reglement von 1888, daß in Zukunft der Schützenschwarm die "Hauptkampf¬
form" der Infanterie sein müsse. Über die Wirkungen der neuen Waffen auf
dem Schlachtfelde gab es aber damals noch keine Erfahrungen. Was man auf
Schießplätzen sah, ließ erkennen, daß zwar die Leistungen der neuen Waffen
gegen die der frühern bedeutend gesteigert waren, daß aber diese großen
Leistungen auch eine viel sorgsamere, gründlichere Ausbildung des Mannes
zur Voraussetzung hatten. Wie weit diese Ausbildung unter den seelischen
Eindrücken des wirklichen Kampfes wirksam bleiben würde, was also die Waffe
im Ernstfalle leisten würde, darüber konnte man damals nur Vermutungen
haben. So konnte das Reglement von 1883 für das Gefecht nur Grundsätze
geben. Die Formen, in denen sich das Gefecht abspielen sollte, wurden im
allgemeinen festgelegt, aber für ihre Anwendung ließ das Reglement einen weiten
Spielraum, der nur von einigen Gesichtspunkten aus geregelt werden konnte.
So war zum Beispiel für den Angriff schon damals der Grundsatz ausge¬
sprochen worden, daß es darauf ankomme, mit starken Schützenlinien so nahe an
den Gegner heranzugehn, daß man von dem eignen Feuer eine vernichtende
Wirkung erwarten könne. Sobald sich diese Wirkung geltend mache, sobald
die "Feuerüberlegenheit" errungen sei, dürfe es für die Schützenlinie und alle
hintern Staffeln nur noch das Streben nach vorwärts geben, um schließlich
den Feind im Sturme aus seiner Stellung hinauszuwerfen, ein Grundsatz,
den sich die Japaner angeeignet haben, und der nichts von seiner Giltigkeit
eingebüßt hat. Aber wie sich alles dies im einzelnen abspielen würde, darüber
gingen die Ansichten weit auseinander. Die Heeresleitung hatte das Ver¬
trauen zu der Tüchtigkeit der Offiziere, daß diese, wenn ihnen die musterhaft
knapp und klar gegebnen Grundsätze in Fleisch und Blut übergegangen sein
würden, in der Wirklichkeit des Kampfes die richtigen Mittel und Wege schon
finden würden. Sie verzichtete deshalb darauf, den Offizier durch schematische
Vorschriften zu binden, von denen sich nicht voraussehen ließ, ob sie sich be¬
währe" würden. Ein gesperrt gedruckter Satz im Reglement untersagte "jede
weitere Schematisierung des Angrisfsvcrfahrens". Hierin ließ man sich im
deutsche,? Heere auch später nicht irre machen, obwohl die Forderung nach
einem "Normalangriff" stellenweise laut genug erhoben wurde, und obwohl in
andern Armeen, zum Beispiel in der französischen, ein bis ins einzelne fest-


Das neue Exerzierreglement für die Infanterie

später gelang es durch die Erfindung des rauchlosen Pulvers und die An¬
wendung kleiner Gcwehrkaliber in Verbindung mit verbesserten Mehrladeein¬
richtungen dem Gewehr eine so vergrößerte Tragweite und Trefffähigkeit zu
geben, daß eine vollständige Umwandlung aller Gefechtsformen die Folge sein
mußte. In Deutschland wurde das „Gewehr 88", das alle diese Verbesserungen
auswies, eingeführt und etwa 1890 an die Truppen ausgegeben.

Diesen neuen Anforderungen sollte das jetzt ungiltig gewordne Exerzier¬
reglement für die Infanterie gerecht werden. Die Zeiten, wo geschlossene Ba¬
taillone auf dem Schlachtfelde vorgehn konnten, waren vorüber, und so betonte
das Reglement von 1888, daß in Zukunft der Schützenschwarm die „Hauptkampf¬
form" der Infanterie sein müsse. Über die Wirkungen der neuen Waffen auf
dem Schlachtfelde gab es aber damals noch keine Erfahrungen. Was man auf
Schießplätzen sah, ließ erkennen, daß zwar die Leistungen der neuen Waffen
gegen die der frühern bedeutend gesteigert waren, daß aber diese großen
Leistungen auch eine viel sorgsamere, gründlichere Ausbildung des Mannes
zur Voraussetzung hatten. Wie weit diese Ausbildung unter den seelischen
Eindrücken des wirklichen Kampfes wirksam bleiben würde, was also die Waffe
im Ernstfalle leisten würde, darüber konnte man damals nur Vermutungen
haben. So konnte das Reglement von 1883 für das Gefecht nur Grundsätze
geben. Die Formen, in denen sich das Gefecht abspielen sollte, wurden im
allgemeinen festgelegt, aber für ihre Anwendung ließ das Reglement einen weiten
Spielraum, der nur von einigen Gesichtspunkten aus geregelt werden konnte.
So war zum Beispiel für den Angriff schon damals der Grundsatz ausge¬
sprochen worden, daß es darauf ankomme, mit starken Schützenlinien so nahe an
den Gegner heranzugehn, daß man von dem eignen Feuer eine vernichtende
Wirkung erwarten könne. Sobald sich diese Wirkung geltend mache, sobald
die „Feuerüberlegenheit" errungen sei, dürfe es für die Schützenlinie und alle
hintern Staffeln nur noch das Streben nach vorwärts geben, um schließlich
den Feind im Sturme aus seiner Stellung hinauszuwerfen, ein Grundsatz,
den sich die Japaner angeeignet haben, und der nichts von seiner Giltigkeit
eingebüßt hat. Aber wie sich alles dies im einzelnen abspielen würde, darüber
gingen die Ansichten weit auseinander. Die Heeresleitung hatte das Ver¬
trauen zu der Tüchtigkeit der Offiziere, daß diese, wenn ihnen die musterhaft
knapp und klar gegebnen Grundsätze in Fleisch und Blut übergegangen sein
würden, in der Wirklichkeit des Kampfes die richtigen Mittel und Wege schon
finden würden. Sie verzichtete deshalb darauf, den Offizier durch schematische
Vorschriften zu binden, von denen sich nicht voraussehen ließ, ob sie sich be¬
währe» würden. Ein gesperrt gedruckter Satz im Reglement untersagte „jede
weitere Schematisierung des Angrisfsvcrfahrens". Hierin ließ man sich im
deutsche,? Heere auch später nicht irre machen, obwohl die Forderung nach
einem „Normalangriff" stellenweise laut genug erhoben wurde, und obwohl in
andern Armeen, zum Beispiel in der französischen, ein bis ins einzelne fest-


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[0498] Das neue Exerzierreglement für die Infanterie später gelang es durch die Erfindung des rauchlosen Pulvers und die An¬ wendung kleiner Gcwehrkaliber in Verbindung mit verbesserten Mehrladeein¬ richtungen dem Gewehr eine so vergrößerte Tragweite und Trefffähigkeit zu geben, daß eine vollständige Umwandlung aller Gefechtsformen die Folge sein mußte. In Deutschland wurde das „Gewehr 88", das alle diese Verbesserungen auswies, eingeführt und etwa 1890 an die Truppen ausgegeben. Diesen neuen Anforderungen sollte das jetzt ungiltig gewordne Exerzier¬ reglement für die Infanterie gerecht werden. Die Zeiten, wo geschlossene Ba¬ taillone auf dem Schlachtfelde vorgehn konnten, waren vorüber, und so betonte das Reglement von 1888, daß in Zukunft der Schützenschwarm die „Hauptkampf¬ form" der Infanterie sein müsse. Über die Wirkungen der neuen Waffen auf dem Schlachtfelde gab es aber damals noch keine Erfahrungen. Was man auf Schießplätzen sah, ließ erkennen, daß zwar die Leistungen der neuen Waffen gegen die der frühern bedeutend gesteigert waren, daß aber diese großen Leistungen auch eine viel sorgsamere, gründlichere Ausbildung des Mannes zur Voraussetzung hatten. Wie weit diese Ausbildung unter den seelischen Eindrücken des wirklichen Kampfes wirksam bleiben würde, was also die Waffe im Ernstfalle leisten würde, darüber konnte man damals nur Vermutungen haben. So konnte das Reglement von 1883 für das Gefecht nur Grundsätze geben. Die Formen, in denen sich das Gefecht abspielen sollte, wurden im allgemeinen festgelegt, aber für ihre Anwendung ließ das Reglement einen weiten Spielraum, der nur von einigen Gesichtspunkten aus geregelt werden konnte. So war zum Beispiel für den Angriff schon damals der Grundsatz ausge¬ sprochen worden, daß es darauf ankomme, mit starken Schützenlinien so nahe an den Gegner heranzugehn, daß man von dem eignen Feuer eine vernichtende Wirkung erwarten könne. Sobald sich diese Wirkung geltend mache, sobald die „Feuerüberlegenheit" errungen sei, dürfe es für die Schützenlinie und alle hintern Staffeln nur noch das Streben nach vorwärts geben, um schließlich den Feind im Sturme aus seiner Stellung hinauszuwerfen, ein Grundsatz, den sich die Japaner angeeignet haben, und der nichts von seiner Giltigkeit eingebüßt hat. Aber wie sich alles dies im einzelnen abspielen würde, darüber gingen die Ansichten weit auseinander. Die Heeresleitung hatte das Ver¬ trauen zu der Tüchtigkeit der Offiziere, daß diese, wenn ihnen die musterhaft knapp und klar gegebnen Grundsätze in Fleisch und Blut übergegangen sein würden, in der Wirklichkeit des Kampfes die richtigen Mittel und Wege schon finden würden. Sie verzichtete deshalb darauf, den Offizier durch schematische Vorschriften zu binden, von denen sich nicht voraussehen ließ, ob sie sich be¬ währe» würden. Ein gesperrt gedruckter Satz im Reglement untersagte „jede weitere Schematisierung des Angrisfsvcrfahrens". Hierin ließ man sich im deutsche,? Heere auch später nicht irre machen, obwohl die Forderung nach einem „Normalangriff" stellenweise laut genug erhoben wurde, und obwohl in andern Armeen, zum Beispiel in der französischen, ein bis ins einzelne fest-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/498>, abgerufen am 23.07.2024.