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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die magyarische Unabhängigkeitsbewegung und der österreichische Reichsgedanke

bildung, wogegen diese sich verpflichteten, die Forderung nach Einführung der
magyarischen Kommandos und nach Erweiterung der Kompetenz des Reichstags
wegen der ungarländischen Regimenter der gemeinsamen Armee zurückzustellen,
bis ein auf Grund eines neuen von ihr zu entwerfenden Wahlgesetzes ge¬
wählter Reichstag konstituiert sein werde. Ebenso wie die Entscheidung darüber
sollten bis dahin aber auch alle neuen Armeeforderungen vertagt sein; alle
übrigen Forderungen der Opposition waren ohne weiteres bewilligt worden.

Als die Krone diesen Waffenstillstand, wobei sie allein der gebende Teil
war, schloß, mochte sie hoffen, daß die Übertragung der Regierungsgewalt auf
die Opposition ihren Radikalismus mildern und vor allem sie bewegen werde,
die Frage der Zolltrennung ruhen zu lassen. Eine Zwangslage war in dieser
Beziehung ohnehin vorhanden, da die wichtigsten Handelsverträge mit dem
Auslande schon abgeschlossen worden waren, und zwar für die Monarchie als ein
einheitliches Zollgebiet. Es scheint auch, daß die Führer der Opposition, als sie
mit der Krone wegen Übernahme der Negierung verhandelten, bei der Zollfrage
eine Haltung eingenommen hatten, die den Kaiser zu der Annahme berechtigte,
daß die Opposition mit Rücksicht auf den schon erfolgten Abschluß von Handels¬
verträgen die Durchführung ihres zollpolitischen Programms bis zum Ablauf
dieser Verträge, also bis 1917 verschieben werde. Die Krone täuschte sich
jedoch oder wurde vielmehr getäuscht; denn kaum war das neue ungarische
Kabinett gebildet, als der Justizminister Polonyi in einer Wahlrede die Auf¬
stellung eines autonomen ungarischen Zolltarifs und die Ersetzung des bis¬
herigen Zoll- und Handelsbündnisses mit Österreich durch einen Handelsvertrag
als unerläßlich bezeichnete; damit aber dadurch die schon auf Grund des ge¬
meinsamen Zolltarifs abgeschlossenen Handelsverträge nicht hinfällig würden,
sollte sich der autonome ungarische Tarif mit dem ursprünglich als gemeinsam
gedachten Tarif decken, während andrerseits Österreich und Ungarn einander
bis zum Jahre 1917 die zollfreie Einfuhr gewähren sollten. Der Kaiser wurde
dadurch überrascht, gab jedoch nach, als der Ministerpräsident Dr. Wekerle die
Kabinettsfrage stellte. Zwar kündigte die österreichische Negierung an, daß sie
die Aufstellung eines autonomen ungarischen Zolltarifs als einen Bruch des
1899 vereinbarten Reziprozitätsverhältnisses betrachten und zunächst mit der
Beseitigung des gemeinsamen Charakters der Zolleinnahmen beantworten werde,
woraus für Ungarn eine monatliche Mehrbelastung von 2 Millionen Kronen
erwachsen würde, denn wenn es keinen gemeinsamen Zolltarif mehr gäbe, könne
auch von gemeinsamen Zolleinnahmen nicht mehr die Rede sein. Es blieb
jedoch bei der Drohung, der ungarische Zolltarif wurde Ende Juni in Kraft
gesetzt, ohne daß die österreichische Regierung eine Gegenmaßregel ergriffen
hätte. Und das ist schließlich auch erklärlich. Die Aufstellung des autonomen
ungarischen Zolltarifs hat der österreichischen Regierung allerdings das Recht
gegeben, das seit 1899 bestehende Reziprozitütsverhältnis zu lösen, aber in
Pest will man davon nichts wissen, weil man sich klar darüber ist, daß Ungarn


Die magyarische Unabhängigkeitsbewegung und der österreichische Reichsgedanke

bildung, wogegen diese sich verpflichteten, die Forderung nach Einführung der
magyarischen Kommandos und nach Erweiterung der Kompetenz des Reichstags
wegen der ungarländischen Regimenter der gemeinsamen Armee zurückzustellen,
bis ein auf Grund eines neuen von ihr zu entwerfenden Wahlgesetzes ge¬
wählter Reichstag konstituiert sein werde. Ebenso wie die Entscheidung darüber
sollten bis dahin aber auch alle neuen Armeeforderungen vertagt sein; alle
übrigen Forderungen der Opposition waren ohne weiteres bewilligt worden.

Als die Krone diesen Waffenstillstand, wobei sie allein der gebende Teil
war, schloß, mochte sie hoffen, daß die Übertragung der Regierungsgewalt auf
die Opposition ihren Radikalismus mildern und vor allem sie bewegen werde,
die Frage der Zolltrennung ruhen zu lassen. Eine Zwangslage war in dieser
Beziehung ohnehin vorhanden, da die wichtigsten Handelsverträge mit dem
Auslande schon abgeschlossen worden waren, und zwar für die Monarchie als ein
einheitliches Zollgebiet. Es scheint auch, daß die Führer der Opposition, als sie
mit der Krone wegen Übernahme der Negierung verhandelten, bei der Zollfrage
eine Haltung eingenommen hatten, die den Kaiser zu der Annahme berechtigte,
daß die Opposition mit Rücksicht auf den schon erfolgten Abschluß von Handels¬
verträgen die Durchführung ihres zollpolitischen Programms bis zum Ablauf
dieser Verträge, also bis 1917 verschieben werde. Die Krone täuschte sich
jedoch oder wurde vielmehr getäuscht; denn kaum war das neue ungarische
Kabinett gebildet, als der Justizminister Polonyi in einer Wahlrede die Auf¬
stellung eines autonomen ungarischen Zolltarifs und die Ersetzung des bis¬
herigen Zoll- und Handelsbündnisses mit Österreich durch einen Handelsvertrag
als unerläßlich bezeichnete; damit aber dadurch die schon auf Grund des ge¬
meinsamen Zolltarifs abgeschlossenen Handelsverträge nicht hinfällig würden,
sollte sich der autonome ungarische Tarif mit dem ursprünglich als gemeinsam
gedachten Tarif decken, während andrerseits Österreich und Ungarn einander
bis zum Jahre 1917 die zollfreie Einfuhr gewähren sollten. Der Kaiser wurde
dadurch überrascht, gab jedoch nach, als der Ministerpräsident Dr. Wekerle die
Kabinettsfrage stellte. Zwar kündigte die österreichische Negierung an, daß sie
die Aufstellung eines autonomen ungarischen Zolltarifs als einen Bruch des
1899 vereinbarten Reziprozitätsverhältnisses betrachten und zunächst mit der
Beseitigung des gemeinsamen Charakters der Zolleinnahmen beantworten werde,
woraus für Ungarn eine monatliche Mehrbelastung von 2 Millionen Kronen
erwachsen würde, denn wenn es keinen gemeinsamen Zolltarif mehr gäbe, könne
auch von gemeinsamen Zolleinnahmen nicht mehr die Rede sein. Es blieb
jedoch bei der Drohung, der ungarische Zolltarif wurde Ende Juni in Kraft
gesetzt, ohne daß die österreichische Regierung eine Gegenmaßregel ergriffen
hätte. Und das ist schließlich auch erklärlich. Die Aufstellung des autonomen
ungarischen Zolltarifs hat der österreichischen Regierung allerdings das Recht
gegeben, das seit 1899 bestehende Reziprozitütsverhältnis zu lösen, aber in
Pest will man davon nichts wissen, weil man sich klar darüber ist, daß Ungarn


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[0454] Die magyarische Unabhängigkeitsbewegung und der österreichische Reichsgedanke bildung, wogegen diese sich verpflichteten, die Forderung nach Einführung der magyarischen Kommandos und nach Erweiterung der Kompetenz des Reichstags wegen der ungarländischen Regimenter der gemeinsamen Armee zurückzustellen, bis ein auf Grund eines neuen von ihr zu entwerfenden Wahlgesetzes ge¬ wählter Reichstag konstituiert sein werde. Ebenso wie die Entscheidung darüber sollten bis dahin aber auch alle neuen Armeeforderungen vertagt sein; alle übrigen Forderungen der Opposition waren ohne weiteres bewilligt worden. Als die Krone diesen Waffenstillstand, wobei sie allein der gebende Teil war, schloß, mochte sie hoffen, daß die Übertragung der Regierungsgewalt auf die Opposition ihren Radikalismus mildern und vor allem sie bewegen werde, die Frage der Zolltrennung ruhen zu lassen. Eine Zwangslage war in dieser Beziehung ohnehin vorhanden, da die wichtigsten Handelsverträge mit dem Auslande schon abgeschlossen worden waren, und zwar für die Monarchie als ein einheitliches Zollgebiet. Es scheint auch, daß die Führer der Opposition, als sie mit der Krone wegen Übernahme der Negierung verhandelten, bei der Zollfrage eine Haltung eingenommen hatten, die den Kaiser zu der Annahme berechtigte, daß die Opposition mit Rücksicht auf den schon erfolgten Abschluß von Handels¬ verträgen die Durchführung ihres zollpolitischen Programms bis zum Ablauf dieser Verträge, also bis 1917 verschieben werde. Die Krone täuschte sich jedoch oder wurde vielmehr getäuscht; denn kaum war das neue ungarische Kabinett gebildet, als der Justizminister Polonyi in einer Wahlrede die Auf¬ stellung eines autonomen ungarischen Zolltarifs und die Ersetzung des bis¬ herigen Zoll- und Handelsbündnisses mit Österreich durch einen Handelsvertrag als unerläßlich bezeichnete; damit aber dadurch die schon auf Grund des ge¬ meinsamen Zolltarifs abgeschlossenen Handelsverträge nicht hinfällig würden, sollte sich der autonome ungarische Tarif mit dem ursprünglich als gemeinsam gedachten Tarif decken, während andrerseits Österreich und Ungarn einander bis zum Jahre 1917 die zollfreie Einfuhr gewähren sollten. Der Kaiser wurde dadurch überrascht, gab jedoch nach, als der Ministerpräsident Dr. Wekerle die Kabinettsfrage stellte. Zwar kündigte die österreichische Negierung an, daß sie die Aufstellung eines autonomen ungarischen Zolltarifs als einen Bruch des 1899 vereinbarten Reziprozitätsverhältnisses betrachten und zunächst mit der Beseitigung des gemeinsamen Charakters der Zolleinnahmen beantworten werde, woraus für Ungarn eine monatliche Mehrbelastung von 2 Millionen Kronen erwachsen würde, denn wenn es keinen gemeinsamen Zolltarif mehr gäbe, könne auch von gemeinsamen Zolleinnahmen nicht mehr die Rede sein. Es blieb jedoch bei der Drohung, der ungarische Zolltarif wurde Ende Juni in Kraft gesetzt, ohne daß die österreichische Regierung eine Gegenmaßregel ergriffen hätte. Und das ist schließlich auch erklärlich. Die Aufstellung des autonomen ungarischen Zolltarifs hat der österreichischen Regierung allerdings das Recht gegeben, das seit 1899 bestehende Reziprozitütsverhältnis zu lösen, aber in Pest will man davon nichts wissen, weil man sich klar darüber ist, daß Ungarn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/454>, abgerufen am 27.12.2024.