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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Zur Ästhetik des Tragischen

solchen Sein hätte unsre wilde und grausame Wirklichkeit mit ihrem Gemisch
von Unvernunft, Gewalttätigkeit und tölpelhaften zerstörenden Zufällen nicht
hervorgehn können. (Daß das Weltweh in der Gottheit seinen Ursprung hat,
symbolisiert die naive Darstellung der heiligen Dreifaltigkeit, die dem himmlischen
Vater den Leichnam des geliebten Sohnes in den Schoß legt.) Dennoch lehnt
Volkelt den Pessimismus ebenso ab wie den plumpen und geistlosen Monismus
der Darwinianer und ist gleich mir überzeugt, daß die Welt trotz allen ihren
Schrecken und Widersprüchen die Vernünftigkeit und Güte des Weltgrundes
offenbare. Die Welttragik bleibt demnach ein Mysterium, dessen Inhalt sich
nur ahnen läßt. Volkelt drückt die Ahnung in drei Sätzen aus: "Erstens, der
ewige Weltgrund ist beides: vernünftig und doch in Vernunft nicht aufgehend,
sein söllend, positiv und negativ. Zweitens: das Vernünftige, Gute, Positive
ist das umfassende, übergeordnete, siegende Prinzip; das Negative besteht nur
als ein- und untergeordnetes, ewig waches und ewig nberwundnes Moment im
Positiven. Drittens: das Positive bedarf der Negation, kann sich nur dadurch
verwirklichen, daß es sich ewig an seinem Gegensatze belebt, entzündet und ihn
überwindet."

Georgy verwirft in dem eingangs genannten Buche ganz entschieden die
psychologische Behandlung des Tragischen und polemisiert darum viel gegen
Volkelt, den er übrigens hochschätzt. Diesem ist, wie uns, das Tragische vor
allem, wo nicht ausschließlich, etwas Menschliches, Persönliches; um Menschen¬
schicksale handelt es sich ja darin und um nichts sonst. Georgy erklärt es für An¬
maßung, wenn der Mensch sein Empfinden zum Maßstabe nimmt bei der Be¬
urteilung des Weltgeschehens, von dem das Tragische eben eine Seite sei. Der
Mensch dürfe sich nur als ein Glied des Weltganzen betrachten, dieses Weltganze,
die Natur, habe es auf Gestalten abgesehen, und darum bestehe die Aufgabe des
Menschen darin, zu gestalten und selbst Gestalt zu werden. Daß er nicht mühelos
Gestalt wird wie die Blume, daß er sich und andres nur in mühevoller Arbeit
gestalten kann, daß er dabei furchtbare Hindernisse zu überwinden hat, daß er
dabei schuldig wird -- denn nicht jeden Augenblick seine Aufgabe lösen, und wer
kann sich rühmen, daß er ihr in jedem Augenblick gerecht werde, ist Ver¬
schuldung --, daß er mitten im Werk, vor dessen Vollendung, untergeht, daß
statt der Gestalt oft eine Mißgestalt herauskommt, daß alles dieses leidvoll ist,
darin besteht die Tragik des Daseins. Aber der Mensch hat kein Recht, darüber
Zu klagen, noch weniger ein Recht, sich sein Leid und seine Leistungen als
Verdienst anzurechnen. Es gibt keine Helden, keine Größe; alles, was geschieht,
'se notwendiges Naturereignis, ist nur ein Abschnitt des Prozesses, der, sofern
Tod, Untergang und Leid unentbehrliche Bedingungen des Daseins, Werdens
und Gestciltens sind, ein tragischer Prozeß ist. In der Einsicht der Notwendig¬
st des Leids liegt die Versöhnung und Erlösung; eine andre gibt es nicht.
Wir haben demnach das Leid, den Tod und die Schuld, diese unumgänglichen
Durchgcmgsstadien des ewigen Gestaltwerdens, gar nicht als Übel anzusehen.


Grenzboten III 1906 46
Zur Ästhetik des Tragischen

solchen Sein hätte unsre wilde und grausame Wirklichkeit mit ihrem Gemisch
von Unvernunft, Gewalttätigkeit und tölpelhaften zerstörenden Zufällen nicht
hervorgehn können. (Daß das Weltweh in der Gottheit seinen Ursprung hat,
symbolisiert die naive Darstellung der heiligen Dreifaltigkeit, die dem himmlischen
Vater den Leichnam des geliebten Sohnes in den Schoß legt.) Dennoch lehnt
Volkelt den Pessimismus ebenso ab wie den plumpen und geistlosen Monismus
der Darwinianer und ist gleich mir überzeugt, daß die Welt trotz allen ihren
Schrecken und Widersprüchen die Vernünftigkeit und Güte des Weltgrundes
offenbare. Die Welttragik bleibt demnach ein Mysterium, dessen Inhalt sich
nur ahnen läßt. Volkelt drückt die Ahnung in drei Sätzen aus: „Erstens, der
ewige Weltgrund ist beides: vernünftig und doch in Vernunft nicht aufgehend,
sein söllend, positiv und negativ. Zweitens: das Vernünftige, Gute, Positive
ist das umfassende, übergeordnete, siegende Prinzip; das Negative besteht nur
als ein- und untergeordnetes, ewig waches und ewig nberwundnes Moment im
Positiven. Drittens: das Positive bedarf der Negation, kann sich nur dadurch
verwirklichen, daß es sich ewig an seinem Gegensatze belebt, entzündet und ihn
überwindet."

Georgy verwirft in dem eingangs genannten Buche ganz entschieden die
psychologische Behandlung des Tragischen und polemisiert darum viel gegen
Volkelt, den er übrigens hochschätzt. Diesem ist, wie uns, das Tragische vor
allem, wo nicht ausschließlich, etwas Menschliches, Persönliches; um Menschen¬
schicksale handelt es sich ja darin und um nichts sonst. Georgy erklärt es für An¬
maßung, wenn der Mensch sein Empfinden zum Maßstabe nimmt bei der Be¬
urteilung des Weltgeschehens, von dem das Tragische eben eine Seite sei. Der
Mensch dürfe sich nur als ein Glied des Weltganzen betrachten, dieses Weltganze,
die Natur, habe es auf Gestalten abgesehen, und darum bestehe die Aufgabe des
Menschen darin, zu gestalten und selbst Gestalt zu werden. Daß er nicht mühelos
Gestalt wird wie die Blume, daß er sich und andres nur in mühevoller Arbeit
gestalten kann, daß er dabei furchtbare Hindernisse zu überwinden hat, daß er
dabei schuldig wird — denn nicht jeden Augenblick seine Aufgabe lösen, und wer
kann sich rühmen, daß er ihr in jedem Augenblick gerecht werde, ist Ver¬
schuldung —, daß er mitten im Werk, vor dessen Vollendung, untergeht, daß
statt der Gestalt oft eine Mißgestalt herauskommt, daß alles dieses leidvoll ist,
darin besteht die Tragik des Daseins. Aber der Mensch hat kein Recht, darüber
Zu klagen, noch weniger ein Recht, sich sein Leid und seine Leistungen als
Verdienst anzurechnen. Es gibt keine Helden, keine Größe; alles, was geschieht,
'se notwendiges Naturereignis, ist nur ein Abschnitt des Prozesses, der, sofern
Tod, Untergang und Leid unentbehrliche Bedingungen des Daseins, Werdens
und Gestciltens sind, ein tragischer Prozeß ist. In der Einsicht der Notwendig¬
st des Leids liegt die Versöhnung und Erlösung; eine andre gibt es nicht.
Wir haben demnach das Leid, den Tod und die Schuld, diese unumgänglichen
Durchgcmgsstadien des ewigen Gestaltwerdens, gar nicht als Übel anzusehen.


Grenzboten III 1906 46
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[0357] Zur Ästhetik des Tragischen solchen Sein hätte unsre wilde und grausame Wirklichkeit mit ihrem Gemisch von Unvernunft, Gewalttätigkeit und tölpelhaften zerstörenden Zufällen nicht hervorgehn können. (Daß das Weltweh in der Gottheit seinen Ursprung hat, symbolisiert die naive Darstellung der heiligen Dreifaltigkeit, die dem himmlischen Vater den Leichnam des geliebten Sohnes in den Schoß legt.) Dennoch lehnt Volkelt den Pessimismus ebenso ab wie den plumpen und geistlosen Monismus der Darwinianer und ist gleich mir überzeugt, daß die Welt trotz allen ihren Schrecken und Widersprüchen die Vernünftigkeit und Güte des Weltgrundes offenbare. Die Welttragik bleibt demnach ein Mysterium, dessen Inhalt sich nur ahnen läßt. Volkelt drückt die Ahnung in drei Sätzen aus: „Erstens, der ewige Weltgrund ist beides: vernünftig und doch in Vernunft nicht aufgehend, sein söllend, positiv und negativ. Zweitens: das Vernünftige, Gute, Positive ist das umfassende, übergeordnete, siegende Prinzip; das Negative besteht nur als ein- und untergeordnetes, ewig waches und ewig nberwundnes Moment im Positiven. Drittens: das Positive bedarf der Negation, kann sich nur dadurch verwirklichen, daß es sich ewig an seinem Gegensatze belebt, entzündet und ihn überwindet." Georgy verwirft in dem eingangs genannten Buche ganz entschieden die psychologische Behandlung des Tragischen und polemisiert darum viel gegen Volkelt, den er übrigens hochschätzt. Diesem ist, wie uns, das Tragische vor allem, wo nicht ausschließlich, etwas Menschliches, Persönliches; um Menschen¬ schicksale handelt es sich ja darin und um nichts sonst. Georgy erklärt es für An¬ maßung, wenn der Mensch sein Empfinden zum Maßstabe nimmt bei der Be¬ urteilung des Weltgeschehens, von dem das Tragische eben eine Seite sei. Der Mensch dürfe sich nur als ein Glied des Weltganzen betrachten, dieses Weltganze, die Natur, habe es auf Gestalten abgesehen, und darum bestehe die Aufgabe des Menschen darin, zu gestalten und selbst Gestalt zu werden. Daß er nicht mühelos Gestalt wird wie die Blume, daß er sich und andres nur in mühevoller Arbeit gestalten kann, daß er dabei furchtbare Hindernisse zu überwinden hat, daß er dabei schuldig wird — denn nicht jeden Augenblick seine Aufgabe lösen, und wer kann sich rühmen, daß er ihr in jedem Augenblick gerecht werde, ist Ver¬ schuldung —, daß er mitten im Werk, vor dessen Vollendung, untergeht, daß statt der Gestalt oft eine Mißgestalt herauskommt, daß alles dieses leidvoll ist, darin besteht die Tragik des Daseins. Aber der Mensch hat kein Recht, darüber Zu klagen, noch weniger ein Recht, sich sein Leid und seine Leistungen als Verdienst anzurechnen. Es gibt keine Helden, keine Größe; alles, was geschieht, 'se notwendiges Naturereignis, ist nur ein Abschnitt des Prozesses, der, sofern Tod, Untergang und Leid unentbehrliche Bedingungen des Daseins, Werdens und Gestciltens sind, ein tragischer Prozeß ist. In der Einsicht der Notwendig¬ st des Leids liegt die Versöhnung und Erlösung; eine andre gibt es nicht. Wir haben demnach das Leid, den Tod und die Schuld, diese unumgänglichen Durchgcmgsstadien des ewigen Gestaltwerdens, gar nicht als Übel anzusehen. Grenzboten III 1906 46

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/357>, abgerufen am 25.08.2024.