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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Sie Physiognomie der russischen Sprache

andern Kultursprachen auch -- unmittelbar dem Griechischen entlehnt sind, wie
uülÄöAijg,, milÄgAltsvIiöM (mythologisch), lMg>, iMsodsM (Ethik, ethisch).
Auch im Kreise der Vokale findet ein auffülliger Wandel statt, insofern der
als 0 geschriebne in allen der betonten vorangehenden, oft auch in den ihr
nachfolgenden Silben wie a oder doch mit entschiedner Hinneigung zu diesem
ausgesprochen wird. Die merkwürdigsten, weil die ganze Sprache beherrschenden
Zeichen aber sind die Halbvokale Jerr und Jerj. Jedes auf einen Konsonanten
ausgehende Wort fügt einen von beiden seinem Ausland hinzu mit der Wirkung,
daß dieser vor Jerr hart, vor Jerj dagegen weich gesprochen wird.

Recht schwierig ist schließlich die Aussprache des Russischen überhaupt. Eine
Häufung der Konsonanten tritt seltner auf als im Polnischen und namentlich
im Tschechischen; um so zahlreicher sind die Fälle, in denen die normale Laut¬
bildung unerwarteten, mehr oder minder willkürlichen Ausnahmen unterliegt.
Einzelne Laute, wie das starkgerollte t oder das Jätj genannte zwischen 16, in
und lo schwankende E, liegen uns Deutschen fern. Die eigentliche Krux aber
bildet das mit ^ bezeichnete Jery, ein dumpfer J-Laut, der in keiner andern
Kultursprache vorkommt und durch keine Regel festgestellt werden kann, wenn
man sich nicht mit der folgenden begnügen will: "Stelle den Mund, als ob
du u sagen wolltest, und sprich dann i (mit Kopfton)." Und zum Unglück
handelt es sich nicht etwa um eine seltne Erscheinung, sondern um eine der
allerhäufigsten. In den gewöhnlichsten Fürwörtern: t^, riz?, vz^ (du, wir, ihr),
in dz?ej (sein), in der alle Konjunktive bestimmenden Partikel d^, in zahlreichen
Nominalcndungen auftretend gleicht das Jen) einer Art chinesischer Mauer, die
dem Fremdling den Eintritt in den blühenden Garten der russischen Sprache
verwehrt. Und wenn die Russen einmal eine sizilianische Vesper veranstalten
wollten, wozu manche nicht übel Lust Hütten, so würden sie mit einem
(du wärest gewesen) ihren Zweck sicherer erreichen als dereinst die
Italiener mit ihrem viesri. Jedenfalls wird der Ausländer, auch wenn er das
Russische sonst beherrscht, noch nach langen Jahren an seinem unfruchtbaren
Kampfe mit diesem widerspenstigen Laut erkannt.

Dem gegenüber erscheint es nur als Sonderbarkeit, daß die russische Sprache
weder ein H, noch einen eigentlichen Diphtong (außer s,i), noch die dunkeln
Laute ü und ö hat. Den letzten verdünnt es einfach, während es ü in Fremd¬
wörtern durch -ja- wiedergibt, die Bestandteile der Doppelvokale aber von¬
einander absetzt, oder wenn der zweite Teil ein u ist, dieses in k (häufig in v)
verwandelt. Goethe heißt Heine, in Nußland viel genannt, weil er dort
als Hauptvertreter unsrer modernen Dichtung und -- zusammen mit dem freilich
unendlich größern Lord Byron -- des "westlichen" Geisteslebens gilt, heißt
UMinz oder vielmehr (Mus. Denn den fehlenden Hauch ersetzt regelmüßig das 6
im Laut wie in der Schrift, und drollig anzuhören sind Namen wie Lonöxsn-
8'Msr, AHAgä'orll, SoAönzMörn und gar LsOgsnIvZö. Zu beachten ist endlich,
daß die Betonung der Wörter von der uns geläufigen oft wesentlich abweicht.


Sie Physiognomie der russischen Sprache

andern Kultursprachen auch — unmittelbar dem Griechischen entlehnt sind, wie
uülÄöAijg,, milÄgAltsvIiöM (mythologisch), lMg>, iMsodsM (Ethik, ethisch).
Auch im Kreise der Vokale findet ein auffülliger Wandel statt, insofern der
als 0 geschriebne in allen der betonten vorangehenden, oft auch in den ihr
nachfolgenden Silben wie a oder doch mit entschiedner Hinneigung zu diesem
ausgesprochen wird. Die merkwürdigsten, weil die ganze Sprache beherrschenden
Zeichen aber sind die Halbvokale Jerr und Jerj. Jedes auf einen Konsonanten
ausgehende Wort fügt einen von beiden seinem Ausland hinzu mit der Wirkung,
daß dieser vor Jerr hart, vor Jerj dagegen weich gesprochen wird.

Recht schwierig ist schließlich die Aussprache des Russischen überhaupt. Eine
Häufung der Konsonanten tritt seltner auf als im Polnischen und namentlich
im Tschechischen; um so zahlreicher sind die Fälle, in denen die normale Laut¬
bildung unerwarteten, mehr oder minder willkürlichen Ausnahmen unterliegt.
Einzelne Laute, wie das starkgerollte t oder das Jätj genannte zwischen 16, in
und lo schwankende E, liegen uns Deutschen fern. Die eigentliche Krux aber
bildet das mit ^ bezeichnete Jery, ein dumpfer J-Laut, der in keiner andern
Kultursprache vorkommt und durch keine Regel festgestellt werden kann, wenn
man sich nicht mit der folgenden begnügen will: „Stelle den Mund, als ob
du u sagen wolltest, und sprich dann i (mit Kopfton)." Und zum Unglück
handelt es sich nicht etwa um eine seltne Erscheinung, sondern um eine der
allerhäufigsten. In den gewöhnlichsten Fürwörtern: t^, riz?, vz^ (du, wir, ihr),
in dz?ej (sein), in der alle Konjunktive bestimmenden Partikel d^, in zahlreichen
Nominalcndungen auftretend gleicht das Jen) einer Art chinesischer Mauer, die
dem Fremdling den Eintritt in den blühenden Garten der russischen Sprache
verwehrt. Und wenn die Russen einmal eine sizilianische Vesper veranstalten
wollten, wozu manche nicht übel Lust Hütten, so würden sie mit einem
(du wärest gewesen) ihren Zweck sicherer erreichen als dereinst die
Italiener mit ihrem viesri. Jedenfalls wird der Ausländer, auch wenn er das
Russische sonst beherrscht, noch nach langen Jahren an seinem unfruchtbaren
Kampfe mit diesem widerspenstigen Laut erkannt.

Dem gegenüber erscheint es nur als Sonderbarkeit, daß die russische Sprache
weder ein H, noch einen eigentlichen Diphtong (außer s,i), noch die dunkeln
Laute ü und ö hat. Den letzten verdünnt es einfach, während es ü in Fremd¬
wörtern durch -ja- wiedergibt, die Bestandteile der Doppelvokale aber von¬
einander absetzt, oder wenn der zweite Teil ein u ist, dieses in k (häufig in v)
verwandelt. Goethe heißt Heine, in Nußland viel genannt, weil er dort
als Hauptvertreter unsrer modernen Dichtung und — zusammen mit dem freilich
unendlich größern Lord Byron — des „westlichen" Geisteslebens gilt, heißt
UMinz oder vielmehr (Mus. Denn den fehlenden Hauch ersetzt regelmüßig das 6
im Laut wie in der Schrift, und drollig anzuhören sind Namen wie Lonöxsn-
8'Msr, AHAgä'orll, SoAönzMörn und gar LsOgsnIvZö. Zu beachten ist endlich,
daß die Betonung der Wörter von der uns geläufigen oft wesentlich abweicht.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/212>, abgerufen am 25.08.2024.