Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.Die Physiognomie der russischen Sprache wie Puschkin die bewußte UnHöflichkeit seines "Sonderlings" Jewgeni Anjägin Übrigens muß mau zugestehn, daß dieser Überfluß an Diminutiven der Noch zweierlei ist zu berühren: Klang und Schrift. Mit der Schrift *) Bemerkenswert dürfte immerhin sein, daß der jährliche Alkoholverbrauch in Nußland
von 3,33 auf 2,62 Liter für den Kopf zurückgegangen ist, während das republikanische Frank¬ reich mit 21,19 Liter, wie immer, an der Spitze der Zivilisation marschiert, das freie und er¬ leuchtete Großbritannien 11,65, das ebenso freie und erleuchtete Nordamerika (Unitsä Ltaws) 6,78 Liter pro Kopf und Jahr verbrauchen. Die Physiognomie der russischen Sprache wie Puschkin die bewußte UnHöflichkeit seines „Sonderlings" Jewgeni Anjägin Übrigens muß mau zugestehn, daß dieser Überfluß an Diminutiven der Noch zweierlei ist zu berühren: Klang und Schrift. Mit der Schrift *) Bemerkenswert dürfte immerhin sein, daß der jährliche Alkoholverbrauch in Nußland
von 3,33 auf 2,62 Liter für den Kopf zurückgegangen ist, während das republikanische Frank¬ reich mit 21,19 Liter, wie immer, an der Spitze der Zivilisation marschiert, das freie und er¬ leuchtete Großbritannien 11,65, das ebenso freie und erleuchtete Nordamerika (Unitsä Ltaws) 6,78 Liter pro Kopf und Jahr verbrauchen. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0210" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/299997"/> <fw type="header" place="top"> Die Physiognomie der russischen Sprache</fw><lb/> <p xml:id="ID_716" prev="#ID_715"> wie Puschkin die bewußte UnHöflichkeit seines „Sonderlings" Jewgeni Anjägin<lb/> Gesang II Strophe 5 durch die verschnupften Standesgenossen charakterisieren<lb/> läßt: „Unser Nachbar ist ein Flegel; er küßt den Damen die Hündchen nicht,<lb/> sagt nichts als »ja« und »nein«, niemals »jci-chen« und »nein-chen«!" Natürlich<lb/> erhalten auch Schimpfwörter die Koseform, „Lümpchen" sogar eine doppelte:<lb/> plutlMNkÄ und xlutzgAg.. Und wenn „Gesuudheitchen" uns wunderlich klingt, so<lb/> wird die zärtliche Färbung verständlicher, sobald man weiß, daß der Sprechende<lb/> damit sagen will: „Ihre kostbare, mir so werte Gesundheit." Dafür mag<lb/> NÄZHstsoliKg, als Kosewort für die neuerdings rasch bekannt gewordne kurz¬<lb/> gestielte, in einen dicken Lederstreifen oder in mehrere dünne verknotete Riemen<lb/> auslaufende Kosakenpeitsche (nA^all^) echt russisch anmuten, ebenso wie die<lb/> Verkleinerungsform der beiden andern nach demokratischer Ansicht mit ihr die<lb/> heilige Dreiheit der russischen Nationalbegriffe bildenden Namen: ^WoäKa*) und<lb/> svvzätsolilca (von svMsong., das Talglicht).</p><lb/> <p xml:id="ID_717"> Übrigens muß mau zugestehn, daß dieser Überfluß an Diminutiven der<lb/> russischen Umgangssprache leicht etwas Weichliches und Spielendes gibt.</p><lb/> <p xml:id="ID_718" next="#ID_719"> Noch zweierlei ist zu berühren: Klang und Schrift. Mit der Schrift<lb/> tritt das Russische wiederum, wenn auch nur zufällig, in unmittelbare Be¬<lb/> ziehung zum Deutschen. Von einem Seitenstück zu den altgermanischen oder<lb/> vielmehr den aus römischen Großbuchstaben durch Verzerrung entstandnen<lb/> „Runen", wie sie noch heute von nordischen Goldgerüten dem Beschauer ent¬<lb/> gegenleuchten, ist dabei freilich keine Rede. Denn die ältesten russischen Schriften,<lb/> die angebliche Chronik des Mönches Nestor und das Heldengedicht vom Zug<lb/> Igors, reichen nicht mehr in die Periode des slawischen Heidentums zurück.<lb/> Dafür beginnt um die Mitte des zehnten Jahrhunderts zugleich mit den ersten<lb/> Einwirkungen des Christentums der das russische Geistesleben weckende und<lb/> beherrschende Einfluß der byzantinischen Kultur. Und dem griechischen Alphabet<lb/> sind ebenso wie die sechshundert Jahre ältern Schriftzeichen des großen Goten<lb/> Ulfilas auch die russischen Buchstaben nachgebildet. Eine unmittelbare Be¬<lb/> rührung der beiden jüngern Formenkreise kann man dabei nicht nachweisen;<lb/> um so bemerkenswerter ist die bis zur völligen Gleichheit gehende Überein¬<lb/> stimmung einzelner Lautsymbole, wie sie uns besonders in der altslawischen<lb/> oder nach dem ersten mährischen Bischof genannten kyrillischen Schrift entgegen¬<lb/> tritt, in der bis heute alle Bücher der russischen Kirche, namentlich auch die<lb/> Ausgaben des Alten und des Neuen Testaments, gedruckt werden. So ist<lb/> das griechische Gamma (/^) zum gotischen ^ und zum slawischen zum<lb/> gotischen 6 und slawischen C, ^ zum gotischen slawischen und russischen</p><lb/> <note xml:id="FID_34" place="foot"> *) Bemerkenswert dürfte immerhin sein, daß der jährliche Alkoholverbrauch in Nußland<lb/> von 3,33 auf 2,62 Liter für den Kopf zurückgegangen ist, während das republikanische Frank¬<lb/> reich mit 21,19 Liter, wie immer, an der Spitze der Zivilisation marschiert, das freie und er¬<lb/> leuchtete Großbritannien 11,65, das ebenso freie und erleuchtete Nordamerika (Unitsä Ltaws)<lb/> 6,78 Liter pro Kopf und Jahr verbrauchen.</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0210]
Die Physiognomie der russischen Sprache
wie Puschkin die bewußte UnHöflichkeit seines „Sonderlings" Jewgeni Anjägin
Gesang II Strophe 5 durch die verschnupften Standesgenossen charakterisieren
läßt: „Unser Nachbar ist ein Flegel; er küßt den Damen die Hündchen nicht,
sagt nichts als »ja« und »nein«, niemals »jci-chen« und »nein-chen«!" Natürlich
erhalten auch Schimpfwörter die Koseform, „Lümpchen" sogar eine doppelte:
plutlMNkÄ und xlutzgAg.. Und wenn „Gesuudheitchen" uns wunderlich klingt, so
wird die zärtliche Färbung verständlicher, sobald man weiß, daß der Sprechende
damit sagen will: „Ihre kostbare, mir so werte Gesundheit." Dafür mag
NÄZHstsoliKg, als Kosewort für die neuerdings rasch bekannt gewordne kurz¬
gestielte, in einen dicken Lederstreifen oder in mehrere dünne verknotete Riemen
auslaufende Kosakenpeitsche (nA^all^) echt russisch anmuten, ebenso wie die
Verkleinerungsform der beiden andern nach demokratischer Ansicht mit ihr die
heilige Dreiheit der russischen Nationalbegriffe bildenden Namen: ^WoäKa*) und
svvzätsolilca (von svMsong., das Talglicht).
Übrigens muß mau zugestehn, daß dieser Überfluß an Diminutiven der
russischen Umgangssprache leicht etwas Weichliches und Spielendes gibt.
Noch zweierlei ist zu berühren: Klang und Schrift. Mit der Schrift
tritt das Russische wiederum, wenn auch nur zufällig, in unmittelbare Be¬
ziehung zum Deutschen. Von einem Seitenstück zu den altgermanischen oder
vielmehr den aus römischen Großbuchstaben durch Verzerrung entstandnen
„Runen", wie sie noch heute von nordischen Goldgerüten dem Beschauer ent¬
gegenleuchten, ist dabei freilich keine Rede. Denn die ältesten russischen Schriften,
die angebliche Chronik des Mönches Nestor und das Heldengedicht vom Zug
Igors, reichen nicht mehr in die Periode des slawischen Heidentums zurück.
Dafür beginnt um die Mitte des zehnten Jahrhunderts zugleich mit den ersten
Einwirkungen des Christentums der das russische Geistesleben weckende und
beherrschende Einfluß der byzantinischen Kultur. Und dem griechischen Alphabet
sind ebenso wie die sechshundert Jahre ältern Schriftzeichen des großen Goten
Ulfilas auch die russischen Buchstaben nachgebildet. Eine unmittelbare Be¬
rührung der beiden jüngern Formenkreise kann man dabei nicht nachweisen;
um so bemerkenswerter ist die bis zur völligen Gleichheit gehende Überein¬
stimmung einzelner Lautsymbole, wie sie uns besonders in der altslawischen
oder nach dem ersten mährischen Bischof genannten kyrillischen Schrift entgegen¬
tritt, in der bis heute alle Bücher der russischen Kirche, namentlich auch die
Ausgaben des Alten und des Neuen Testaments, gedruckt werden. So ist
das griechische Gamma (/^) zum gotischen ^ und zum slawischen zum
gotischen 6 und slawischen C, ^ zum gotischen slawischen und russischen
*) Bemerkenswert dürfte immerhin sein, daß der jährliche Alkoholverbrauch in Nußland
von 3,33 auf 2,62 Liter für den Kopf zurückgegangen ist, während das republikanische Frank¬
reich mit 21,19 Liter, wie immer, an der Spitze der Zivilisation marschiert, das freie und er¬
leuchtete Großbritannien 11,65, das ebenso freie und erleuchtete Nordamerika (Unitsä Ltaws)
6,78 Liter pro Kopf und Jahr verbrauchen.
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