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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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sie Sozialistisches und Soziales durcheinander. Sie kennen nur den revolutionären
Sozialismus und verurteilen ohne weitere Prüfung auch die sozialen Be¬
strebungen, die den berechtigten Kern aus den kollektivistischen Lehren heraus¬
schälen. Die Abneigung gegen den Staat und die Kommune als Arbeitgeber
ist daneben etwas spezifisch französisches. Wenn aber der Arbeiter hierzulande
mit den Staatsbetrieben schlechte Erfahrungen gemacht hat, so rechtfertigt das
noch nicht die ganz allgemeine Behauptung, daß Staatssozialismus und staat¬
liches oder kommunales Eingreifen in das Wirtschaftsleben unter allen Umständen
zu bekämpfen sei. Wenn die gelben Theoretiker in England und in Deutschland
Studien machen wollten, würden sie vielleicht zu andern Anschauungen kommen.
Dabei ist ihre eigne Lehre von dem Erwerb des Eigentums durch das Proletariat
durchaus nicht frei von utopistischen Bestandteilen. Der Gedanke der Harmonie
der Interessen von Kapital und Arbeit führt sie zu einer recht optimistischen Über¬
schätzung des reinen Kapitalismus. Wir bezweifeln, daß in Unternehmerkreisen
die gelben Theorien wirklich Erfolg haben werden, wenn sie in dem Maße
den Interessen der Arbeiter dienen, wie Bietry und Japy das behaupten. Die
wenigen Erfahrungen, die man bisher gemacht hat, berechtigen noch nicht zu
dem Satz, daß dieses neue Evangelium die Versöhnung von Arbeitgeber und
Arbeiter bringen wird. Die Gefahr liegt sogar zweifellos nahe, daß das
gelbe System sehr zum Schaden der Arbeiter ausgebeutet werden kann. Der
Arbeiter, der sein Kapital in dem Unternehmen anlegt, kann dadurch abhängiger
werden, als er es vorher war, und seine Arbeitskraft kann mehr angespannt
und überspannt werden, als es heute möglich ist, wo er ganz frei dasteht.
Angenommen auch, daß es wirklich allen Arbeitern möglich wäre, Ersparnisse
zu machen, was die Gelben so ohne weiteres voraussetzen, so ist die kleine
Verzinsung, die er bezieht, doch kein nennenswerter Gewinn gegenüber dem
Betriebsrisiko, in das er von nun an auch verflochten ist. Fälle, daß ein
Arbeiter 50000 Franken ersparen kann, wie es bei Laroche vorgekommen ist,
werden jedenfalls zu den allerseltensten Ausnahmen gehören.

Dies sind nur einige kritische Bemerkungen. Auch wenn diese Bedenken
unberechtigt wären -- was sich erst nach jahrzehntelanger Erfahrung feststellen
ließe --, so ist es doch übertrieben, anzunehmen, daß mit einer wirtschaftlichen
Emanzipation des Jndustricproletariers nun die ganze "soziale Frage" gelöst
wäre. In dieser Annahme zeigt sich die Einseitigkeit des Fabrikarbeiters, der
nur seine Welt kennt. Diese Einseitigkeit haben die Gelben mit den Roten
gemein, und ebenso findet der Materialismus der Roten ein würdiges Gegen¬
stück im Materialismus der Gelben, die alle Schmerzen und alle Sehnsucht
der Menschheit stillen wollen mit der Befriedigung wirtschaftlicher Bedürfnisse.
Die Propheten der neuen Partei wollen eben zu viel und versprechen mehr,
als eine reine Arbeiterpartei halten kann. Sie sollte die Lösung von Menschheits¬
problemen und Aufgaben der hohen und der höchsten Politik andern überlassen
und sollte das bleiben, was sie bisher gewesen ist: ein Arbeiterverband, der


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sie Sozialistisches und Soziales durcheinander. Sie kennen nur den revolutionären
Sozialismus und verurteilen ohne weitere Prüfung auch die sozialen Be¬
strebungen, die den berechtigten Kern aus den kollektivistischen Lehren heraus¬
schälen. Die Abneigung gegen den Staat und die Kommune als Arbeitgeber
ist daneben etwas spezifisch französisches. Wenn aber der Arbeiter hierzulande
mit den Staatsbetrieben schlechte Erfahrungen gemacht hat, so rechtfertigt das
noch nicht die ganz allgemeine Behauptung, daß Staatssozialismus und staat¬
liches oder kommunales Eingreifen in das Wirtschaftsleben unter allen Umständen
zu bekämpfen sei. Wenn die gelben Theoretiker in England und in Deutschland
Studien machen wollten, würden sie vielleicht zu andern Anschauungen kommen.
Dabei ist ihre eigne Lehre von dem Erwerb des Eigentums durch das Proletariat
durchaus nicht frei von utopistischen Bestandteilen. Der Gedanke der Harmonie
der Interessen von Kapital und Arbeit führt sie zu einer recht optimistischen Über¬
schätzung des reinen Kapitalismus. Wir bezweifeln, daß in Unternehmerkreisen
die gelben Theorien wirklich Erfolg haben werden, wenn sie in dem Maße
den Interessen der Arbeiter dienen, wie Bietry und Japy das behaupten. Die
wenigen Erfahrungen, die man bisher gemacht hat, berechtigen noch nicht zu
dem Satz, daß dieses neue Evangelium die Versöhnung von Arbeitgeber und
Arbeiter bringen wird. Die Gefahr liegt sogar zweifellos nahe, daß das
gelbe System sehr zum Schaden der Arbeiter ausgebeutet werden kann. Der
Arbeiter, der sein Kapital in dem Unternehmen anlegt, kann dadurch abhängiger
werden, als er es vorher war, und seine Arbeitskraft kann mehr angespannt
und überspannt werden, als es heute möglich ist, wo er ganz frei dasteht.
Angenommen auch, daß es wirklich allen Arbeitern möglich wäre, Ersparnisse
zu machen, was die Gelben so ohne weiteres voraussetzen, so ist die kleine
Verzinsung, die er bezieht, doch kein nennenswerter Gewinn gegenüber dem
Betriebsrisiko, in das er von nun an auch verflochten ist. Fälle, daß ein
Arbeiter 50000 Franken ersparen kann, wie es bei Laroche vorgekommen ist,
werden jedenfalls zu den allerseltensten Ausnahmen gehören.

Dies sind nur einige kritische Bemerkungen. Auch wenn diese Bedenken
unberechtigt wären — was sich erst nach jahrzehntelanger Erfahrung feststellen
ließe —, so ist es doch übertrieben, anzunehmen, daß mit einer wirtschaftlichen
Emanzipation des Jndustricproletariers nun die ganze „soziale Frage" gelöst
wäre. In dieser Annahme zeigt sich die Einseitigkeit des Fabrikarbeiters, der
nur seine Welt kennt. Diese Einseitigkeit haben die Gelben mit den Roten
gemein, und ebenso findet der Materialismus der Roten ein würdiges Gegen¬
stück im Materialismus der Gelben, die alle Schmerzen und alle Sehnsucht
der Menschheit stillen wollen mit der Befriedigung wirtschaftlicher Bedürfnisse.
Die Propheten der neuen Partei wollen eben zu viel und versprechen mehr,
als eine reine Arbeiterpartei halten kann. Sie sollte die Lösung von Menschheits¬
problemen und Aufgaben der hohen und der höchsten Politik andern überlassen
und sollte das bleiben, was sie bisher gewesen ist: ein Arbeiterverband, der


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[0196] Line neue Arbeiterpartei sie Sozialistisches und Soziales durcheinander. Sie kennen nur den revolutionären Sozialismus und verurteilen ohne weitere Prüfung auch die sozialen Be¬ strebungen, die den berechtigten Kern aus den kollektivistischen Lehren heraus¬ schälen. Die Abneigung gegen den Staat und die Kommune als Arbeitgeber ist daneben etwas spezifisch französisches. Wenn aber der Arbeiter hierzulande mit den Staatsbetrieben schlechte Erfahrungen gemacht hat, so rechtfertigt das noch nicht die ganz allgemeine Behauptung, daß Staatssozialismus und staat¬ liches oder kommunales Eingreifen in das Wirtschaftsleben unter allen Umständen zu bekämpfen sei. Wenn die gelben Theoretiker in England und in Deutschland Studien machen wollten, würden sie vielleicht zu andern Anschauungen kommen. Dabei ist ihre eigne Lehre von dem Erwerb des Eigentums durch das Proletariat durchaus nicht frei von utopistischen Bestandteilen. Der Gedanke der Harmonie der Interessen von Kapital und Arbeit führt sie zu einer recht optimistischen Über¬ schätzung des reinen Kapitalismus. Wir bezweifeln, daß in Unternehmerkreisen die gelben Theorien wirklich Erfolg haben werden, wenn sie in dem Maße den Interessen der Arbeiter dienen, wie Bietry und Japy das behaupten. Die wenigen Erfahrungen, die man bisher gemacht hat, berechtigen noch nicht zu dem Satz, daß dieses neue Evangelium die Versöhnung von Arbeitgeber und Arbeiter bringen wird. Die Gefahr liegt sogar zweifellos nahe, daß das gelbe System sehr zum Schaden der Arbeiter ausgebeutet werden kann. Der Arbeiter, der sein Kapital in dem Unternehmen anlegt, kann dadurch abhängiger werden, als er es vorher war, und seine Arbeitskraft kann mehr angespannt und überspannt werden, als es heute möglich ist, wo er ganz frei dasteht. Angenommen auch, daß es wirklich allen Arbeitern möglich wäre, Ersparnisse zu machen, was die Gelben so ohne weiteres voraussetzen, so ist die kleine Verzinsung, die er bezieht, doch kein nennenswerter Gewinn gegenüber dem Betriebsrisiko, in das er von nun an auch verflochten ist. Fälle, daß ein Arbeiter 50000 Franken ersparen kann, wie es bei Laroche vorgekommen ist, werden jedenfalls zu den allerseltensten Ausnahmen gehören. Dies sind nur einige kritische Bemerkungen. Auch wenn diese Bedenken unberechtigt wären — was sich erst nach jahrzehntelanger Erfahrung feststellen ließe —, so ist es doch übertrieben, anzunehmen, daß mit einer wirtschaftlichen Emanzipation des Jndustricproletariers nun die ganze „soziale Frage" gelöst wäre. In dieser Annahme zeigt sich die Einseitigkeit des Fabrikarbeiters, der nur seine Welt kennt. Diese Einseitigkeit haben die Gelben mit den Roten gemein, und ebenso findet der Materialismus der Roten ein würdiges Gegen¬ stück im Materialismus der Gelben, die alle Schmerzen und alle Sehnsucht der Menschheit stillen wollen mit der Befriedigung wirtschaftlicher Bedürfnisse. Die Propheten der neuen Partei wollen eben zu viel und versprechen mehr, als eine reine Arbeiterpartei halten kann. Sie sollte die Lösung von Menschheits¬ problemen und Aufgaben der hohen und der höchsten Politik andern überlassen und sollte das bleiben, was sie bisher gewesen ist: ein Arbeiterverband, der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/196>, abgerufen am 23.07.2024.