Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Line neue Arbeiterpartei

rufen nüchtern und fest. Was er sagte, schien ganz verständig, doch achtete
man nicht so sehr darauf. Die Sympathien gehörten der Persönlichkeit des
Redners. Seit diesem Tage hat man sich aber auch mit den Gedanken und
den Zielen der neuen Partei bekannt zu machen gesucht. Überall werden
Versammlungen zur Erörterung der neuen Lehre abgehalten, und die Bücher
Biitrys wie Japys, eines andern gelben Theoretikers, erleben immer neue
Auflagen. 450000 Anhänger soll der Verband zählen, und er breitet sich
immer weiter aus. Bei solchen sich plötzlich Bahn brechenden Strömungen
ist es sehr schwer zu sagen, wie weit ihr Erfolg Modesache ist, wie weit sie
eine tiefgreifende neue Geisterbewegung ankündigen. Die gelbe Partei ist noch
viel zu jung und ihre Kraft zu wenig erprobt, als daß man heute schon ihre
weitere Entwicklung voraussehen könnte. Ihre Gegner sagen, sie werde sich
im Sande verlaufen, ihre Freunde hoffen, sie werde den revolutionären
Sozialismus aus Frankreich hinausfegen. Die Anschauungen der Führer selbst
haben im Laufe der wenigen Jahre, wo von einer gelben Bewegung gesprochen
werden kann, so häufig gewechselt, daß man keineswegs mit Sicherheit sagen
kann, daß die heute geltenden Programmartikel das letzte und für alle Zeiten
maßgebende Wort der Herren seien. In jedem Falle verdient die Partei als
die bisher kräftigste Reaktion gegen die revolutionäre Hetze der sozialistischen
Gewerkschaften in den Arbeiterkreisen selbst eine unparteiische Würdigung. Die
Kritik kann nur sehr subjektiv sein gegenüber einer Bewegung, die eben erst
beginnt, und die noch zu zeigen haben wird, was sie vermag. Einstweilen ist
es noch sozusagen Geschmackssache, ob man den Gelben trauen will oder nicht.
Wir wollen deshalb einer Darstellung des Aufstiegs der Partei und ihrer
augenblicklichen Lehre nur einige kurze Bemerkungen über unsre eigne Auf¬
fassung der neuen Erscheinung folgen lassen.

Bis zum Jahre 1884 gab es keine Arbeiterorganisationen im heutigen
Sinne in Frankreich. Das Gesetz vom 14. bis 17. Juni 1791 verbot jede
Vereinigung von Standes- und Berufsgenossen, nachdem die Revolution es
als eine ihrer vornehmsten Aufgaben betrachtet hatte, alle Körperschaften,
Zünfte, Compagnonnages usw. zu beseitigen. Den Klasseninteressen der Arbeiter
hat der mit dem dritten Stande zur Herrschaft kommende doktrinäre Liberalismus
"icht genützt, sondern eher geschadet. Erst das Gewerkvereinsgesetz Waldeck-
Noussecms vom 21. März 1884 entfesselt die Shndikatsbewegung, deren reißende
Fortschritte heute die Staatsmänner Frankreichs so besorgt macht. Wir können
^rückschauend feststellen, daß gerade die Kreise, für die das neue Gesetz bestimmt
war, die Arbeiter selbst, zuerst gar kein Verständnis hatten für die Macht, die im
Syndikatsgedanken lag. Die Parteipolitiker ihrerseits dachten gar nicht daran,
die Organisationen in den Dienst ihrer Interessen zu ziehn, und gerade die
Sozialdemokraten wollten in ihrer revolutionär-politischen Einseitigkeit mit
diesen Verufsgenossenschaften nichts zu tun haben. Die Gelegenheit, in den
Syndikaten einen Damm gegen den Umsturz zu schaffen und die Arbeiter-


Line neue Arbeiterpartei

rufen nüchtern und fest. Was er sagte, schien ganz verständig, doch achtete
man nicht so sehr darauf. Die Sympathien gehörten der Persönlichkeit des
Redners. Seit diesem Tage hat man sich aber auch mit den Gedanken und
den Zielen der neuen Partei bekannt zu machen gesucht. Überall werden
Versammlungen zur Erörterung der neuen Lehre abgehalten, und die Bücher
Biitrys wie Japys, eines andern gelben Theoretikers, erleben immer neue
Auflagen. 450000 Anhänger soll der Verband zählen, und er breitet sich
immer weiter aus. Bei solchen sich plötzlich Bahn brechenden Strömungen
ist es sehr schwer zu sagen, wie weit ihr Erfolg Modesache ist, wie weit sie
eine tiefgreifende neue Geisterbewegung ankündigen. Die gelbe Partei ist noch
viel zu jung und ihre Kraft zu wenig erprobt, als daß man heute schon ihre
weitere Entwicklung voraussehen könnte. Ihre Gegner sagen, sie werde sich
im Sande verlaufen, ihre Freunde hoffen, sie werde den revolutionären
Sozialismus aus Frankreich hinausfegen. Die Anschauungen der Führer selbst
haben im Laufe der wenigen Jahre, wo von einer gelben Bewegung gesprochen
werden kann, so häufig gewechselt, daß man keineswegs mit Sicherheit sagen
kann, daß die heute geltenden Programmartikel das letzte und für alle Zeiten
maßgebende Wort der Herren seien. In jedem Falle verdient die Partei als
die bisher kräftigste Reaktion gegen die revolutionäre Hetze der sozialistischen
Gewerkschaften in den Arbeiterkreisen selbst eine unparteiische Würdigung. Die
Kritik kann nur sehr subjektiv sein gegenüber einer Bewegung, die eben erst
beginnt, und die noch zu zeigen haben wird, was sie vermag. Einstweilen ist
es noch sozusagen Geschmackssache, ob man den Gelben trauen will oder nicht.
Wir wollen deshalb einer Darstellung des Aufstiegs der Partei und ihrer
augenblicklichen Lehre nur einige kurze Bemerkungen über unsre eigne Auf¬
fassung der neuen Erscheinung folgen lassen.

Bis zum Jahre 1884 gab es keine Arbeiterorganisationen im heutigen
Sinne in Frankreich. Das Gesetz vom 14. bis 17. Juni 1791 verbot jede
Vereinigung von Standes- und Berufsgenossen, nachdem die Revolution es
als eine ihrer vornehmsten Aufgaben betrachtet hatte, alle Körperschaften,
Zünfte, Compagnonnages usw. zu beseitigen. Den Klasseninteressen der Arbeiter
hat der mit dem dritten Stande zur Herrschaft kommende doktrinäre Liberalismus
"icht genützt, sondern eher geschadet. Erst das Gewerkvereinsgesetz Waldeck-
Noussecms vom 21. März 1884 entfesselt die Shndikatsbewegung, deren reißende
Fortschritte heute die Staatsmänner Frankreichs so besorgt macht. Wir können
^rückschauend feststellen, daß gerade die Kreise, für die das neue Gesetz bestimmt
war, die Arbeiter selbst, zuerst gar kein Verständnis hatten für die Macht, die im
Syndikatsgedanken lag. Die Parteipolitiker ihrerseits dachten gar nicht daran,
die Organisationen in den Dienst ihrer Interessen zu ziehn, und gerade die
Sozialdemokraten wollten in ihrer revolutionär-politischen Einseitigkeit mit
diesen Verufsgenossenschaften nichts zu tun haben. Die Gelegenheit, in den
Syndikaten einen Damm gegen den Umsturz zu schaffen und die Arbeiter-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0187" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/299974"/>
          <fw type="header" place="top"> Line neue Arbeiterpartei</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_668" prev="#ID_667"> rufen nüchtern und fest. Was er sagte, schien ganz verständig, doch achtete<lb/>
man nicht so sehr darauf. Die Sympathien gehörten der Persönlichkeit des<lb/>
Redners. Seit diesem Tage hat man sich aber auch mit den Gedanken und<lb/>
den Zielen der neuen Partei bekannt zu machen gesucht. Überall werden<lb/>
Versammlungen zur Erörterung der neuen Lehre abgehalten, und die Bücher<lb/>
Biitrys wie Japys, eines andern gelben Theoretikers, erleben immer neue<lb/>
Auflagen. 450000 Anhänger soll der Verband zählen, und er breitet sich<lb/>
immer weiter aus. Bei solchen sich plötzlich Bahn brechenden Strömungen<lb/>
ist es sehr schwer zu sagen, wie weit ihr Erfolg Modesache ist, wie weit sie<lb/>
eine tiefgreifende neue Geisterbewegung ankündigen. Die gelbe Partei ist noch<lb/>
viel zu jung und ihre Kraft zu wenig erprobt, als daß man heute schon ihre<lb/>
weitere Entwicklung voraussehen könnte. Ihre Gegner sagen, sie werde sich<lb/>
im Sande verlaufen, ihre Freunde hoffen, sie werde den revolutionären<lb/>
Sozialismus aus Frankreich hinausfegen. Die Anschauungen der Führer selbst<lb/>
haben im Laufe der wenigen Jahre, wo von einer gelben Bewegung gesprochen<lb/>
werden kann, so häufig gewechselt, daß man keineswegs mit Sicherheit sagen<lb/>
kann, daß die heute geltenden Programmartikel das letzte und für alle Zeiten<lb/>
maßgebende Wort der Herren seien. In jedem Falle verdient die Partei als<lb/>
die bisher kräftigste Reaktion gegen die revolutionäre Hetze der sozialistischen<lb/>
Gewerkschaften in den Arbeiterkreisen selbst eine unparteiische Würdigung. Die<lb/>
Kritik kann nur sehr subjektiv sein gegenüber einer Bewegung, die eben erst<lb/>
beginnt, und die noch zu zeigen haben wird, was sie vermag. Einstweilen ist<lb/>
es noch sozusagen Geschmackssache, ob man den Gelben trauen will oder nicht.<lb/>
Wir wollen deshalb einer Darstellung des Aufstiegs der Partei und ihrer<lb/>
augenblicklichen Lehre nur einige kurze Bemerkungen über unsre eigne Auf¬<lb/>
fassung der neuen Erscheinung folgen lassen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_669" next="#ID_670"> Bis zum Jahre 1884 gab es keine Arbeiterorganisationen im heutigen<lb/>
Sinne in Frankreich. Das Gesetz vom 14. bis 17. Juni 1791 verbot jede<lb/>
Vereinigung von Standes- und Berufsgenossen, nachdem die Revolution es<lb/>
als eine ihrer vornehmsten Aufgaben betrachtet hatte, alle Körperschaften,<lb/>
Zünfte, Compagnonnages usw. zu beseitigen. Den Klasseninteressen der Arbeiter<lb/>
hat der mit dem dritten Stande zur Herrschaft kommende doktrinäre Liberalismus<lb/>
"icht genützt, sondern eher geschadet. Erst das Gewerkvereinsgesetz Waldeck-<lb/>
Noussecms vom 21. März 1884 entfesselt die Shndikatsbewegung, deren reißende<lb/>
Fortschritte heute die Staatsmänner Frankreichs so besorgt macht. Wir können<lb/>
^rückschauend feststellen, daß gerade die Kreise, für die das neue Gesetz bestimmt<lb/>
war, die Arbeiter selbst, zuerst gar kein Verständnis hatten für die Macht, die im<lb/>
Syndikatsgedanken lag. Die Parteipolitiker ihrerseits dachten gar nicht daran,<lb/>
die Organisationen in den Dienst ihrer Interessen zu ziehn, und gerade die<lb/>
Sozialdemokraten wollten in ihrer revolutionär-politischen Einseitigkeit mit<lb/>
diesen Verufsgenossenschaften nichts zu tun haben. Die Gelegenheit, in den<lb/>
Syndikaten einen Damm gegen den Umsturz zu schaffen und die Arbeiter-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0187] Line neue Arbeiterpartei rufen nüchtern und fest. Was er sagte, schien ganz verständig, doch achtete man nicht so sehr darauf. Die Sympathien gehörten der Persönlichkeit des Redners. Seit diesem Tage hat man sich aber auch mit den Gedanken und den Zielen der neuen Partei bekannt zu machen gesucht. Überall werden Versammlungen zur Erörterung der neuen Lehre abgehalten, und die Bücher Biitrys wie Japys, eines andern gelben Theoretikers, erleben immer neue Auflagen. 450000 Anhänger soll der Verband zählen, und er breitet sich immer weiter aus. Bei solchen sich plötzlich Bahn brechenden Strömungen ist es sehr schwer zu sagen, wie weit ihr Erfolg Modesache ist, wie weit sie eine tiefgreifende neue Geisterbewegung ankündigen. Die gelbe Partei ist noch viel zu jung und ihre Kraft zu wenig erprobt, als daß man heute schon ihre weitere Entwicklung voraussehen könnte. Ihre Gegner sagen, sie werde sich im Sande verlaufen, ihre Freunde hoffen, sie werde den revolutionären Sozialismus aus Frankreich hinausfegen. Die Anschauungen der Führer selbst haben im Laufe der wenigen Jahre, wo von einer gelben Bewegung gesprochen werden kann, so häufig gewechselt, daß man keineswegs mit Sicherheit sagen kann, daß die heute geltenden Programmartikel das letzte und für alle Zeiten maßgebende Wort der Herren seien. In jedem Falle verdient die Partei als die bisher kräftigste Reaktion gegen die revolutionäre Hetze der sozialistischen Gewerkschaften in den Arbeiterkreisen selbst eine unparteiische Würdigung. Die Kritik kann nur sehr subjektiv sein gegenüber einer Bewegung, die eben erst beginnt, und die noch zu zeigen haben wird, was sie vermag. Einstweilen ist es noch sozusagen Geschmackssache, ob man den Gelben trauen will oder nicht. Wir wollen deshalb einer Darstellung des Aufstiegs der Partei und ihrer augenblicklichen Lehre nur einige kurze Bemerkungen über unsre eigne Auf¬ fassung der neuen Erscheinung folgen lassen. Bis zum Jahre 1884 gab es keine Arbeiterorganisationen im heutigen Sinne in Frankreich. Das Gesetz vom 14. bis 17. Juni 1791 verbot jede Vereinigung von Standes- und Berufsgenossen, nachdem die Revolution es als eine ihrer vornehmsten Aufgaben betrachtet hatte, alle Körperschaften, Zünfte, Compagnonnages usw. zu beseitigen. Den Klasseninteressen der Arbeiter hat der mit dem dritten Stande zur Herrschaft kommende doktrinäre Liberalismus "icht genützt, sondern eher geschadet. Erst das Gewerkvereinsgesetz Waldeck- Noussecms vom 21. März 1884 entfesselt die Shndikatsbewegung, deren reißende Fortschritte heute die Staatsmänner Frankreichs so besorgt macht. Wir können ^rückschauend feststellen, daß gerade die Kreise, für die das neue Gesetz bestimmt war, die Arbeiter selbst, zuerst gar kein Verständnis hatten für die Macht, die im Syndikatsgedanken lag. Die Parteipolitiker ihrerseits dachten gar nicht daran, die Organisationen in den Dienst ihrer Interessen zu ziehn, und gerade die Sozialdemokraten wollten in ihrer revolutionär-politischen Einseitigkeit mit diesen Verufsgenossenschaften nichts zu tun haben. Die Gelegenheit, in den Syndikaten einen Damm gegen den Umsturz zu schaffen und die Arbeiter-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/187
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/187>, abgerufen am 25.08.2024.