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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Über den Brenner

Zeit entstand dann hier ein Kloster. Die heutige Kirche ist der heiligen Maria
geweiht und ein sehr eigentümlicher einschiffiger Bau, denn das Dach ruht un¬
mittelbar auf einer Reihe von großen hohen Spitzbogen; daran schließt sich ein
Kreuzgang. Hier hat einmal gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts das Ketzer-
tum der Patarener einen so festen Halt gefunden, daß es eines blutigen Kreuz¬
zuges bedürfte, es auszurotten. Doch heute am Ostersonntage wandelten Frauen
und Mädchen, manche anmutige schlanke Gestalt darunter, alle geputzt und
geschmückt, so gut sie konnten, über das dunkle Haar den kleidsamen Spitzen¬
schleier, unter dem Geläute der Glocken zur Kirche, während die Männer um
den Torbogen standen oder lärmend Morra spielten.

Gleich nordwärts vom Städtchen erhebt sich das Terrain zu einer ausgedehnten
Hochfläche, die ein Olivenwald mit meist sehr alten, seltsam gewundnen und oft
völlig ausgehöhlten Bäumen bedeckt. Ein Wegweiser zeigt nach den "Grotten
des Catull". Rechts zeigt sich oben eine moderne Villa, das Eigentum des
anhaltischen Ministers von Koseritz, etwas weiter ab links vom Wege schimmert
die uralte Langobardenkirche San Pietro, deren spitzer Turm seitwärts nur an
die Kirche angelehnt ist, durch das lichte, graugrüne Laub der Bäume. Bald
erscheinen allerhand Trümmer, endlich ungeheure Gewölbe, Bogen und Mauern,
aus Bruchsteinen mit Ziegelschichten dazwischen wie für die Ewigkeit gefügt, von
üppigem Gesträuch überwuchert, halb verschüttet und nach dem See zu wie Fels¬
wände steil abfallend, offenbar die Substruktionen eines großen spätrömischen
Palastes, der eine Grundflüche bedeckte wie heute das riesige Grand Hotel in
Gardone. Oben liegt hier und da noch das römische Ziegelpaviment bloß, und
die weitverzweigten unterirdischen Gewölbe sind teilweise noch heute so gut er¬
halten, daß sie als Keller dienen. Da das ganze Terrain Staatseigentum ist,
so kann hier glücklicherweise kein moderner Unternehmer durch irgendwelchen
Spekulationsbau den idyllischen Frieden des Ortes stören. Und welch eine Idylle!
Hinter uns der durchsichtige Olivenwald, tief unten der breite, flache Felsstrand,
um dessen glattgespülte Platten die Wellen leise plätschernd schlagen, sonst
ringsum der blaue See, jenseits nach Norden der lange Schneekamm des Monte
Bald", über dem Dunst, der seine Abhänge verhüllt, wie abgelöst vom Boden
schwebend, im Nordosten, verschwimmend im bläulichen Duft, San Vigilio und
die Burg Garda, im Nordwesten über dem leicht hingehauchten Streifen der
Isola ti Garda die prachtvoll gezackte Kette der Brescianer Alpen. Hier und da
blitzt ein Segel in der Sonne auf. aber kein Geräusch unterbricht die tiefe, traum¬
hafte Stille. In der Tat, der alte Kellner, der sich um unser leibliches Wohl
diensteifrig bemühte, hatte Recht, wenn er, selbst durchdrungen von dem Zauber
dieses Erdflecks, sagte, man sei hier "wie außerhalb der Welt" (luori nisi monäo),
und er wußte weiter zu rühmen, wie hier ein kühler Wind immer wehe und
auch im heißen Sommer niemals die Hitze aufkommen lasse.

Hier also hat Ccitullus gehaust, wenn auch seine Villa mit den sogenannten
Grotten des Catull schwerlich etwas zu tun hat, der größte Lyriker der römischen


Über den Brenner

Zeit entstand dann hier ein Kloster. Die heutige Kirche ist der heiligen Maria
geweiht und ein sehr eigentümlicher einschiffiger Bau, denn das Dach ruht un¬
mittelbar auf einer Reihe von großen hohen Spitzbogen; daran schließt sich ein
Kreuzgang. Hier hat einmal gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts das Ketzer-
tum der Patarener einen so festen Halt gefunden, daß es eines blutigen Kreuz¬
zuges bedürfte, es auszurotten. Doch heute am Ostersonntage wandelten Frauen
und Mädchen, manche anmutige schlanke Gestalt darunter, alle geputzt und
geschmückt, so gut sie konnten, über das dunkle Haar den kleidsamen Spitzen¬
schleier, unter dem Geläute der Glocken zur Kirche, während die Männer um
den Torbogen standen oder lärmend Morra spielten.

Gleich nordwärts vom Städtchen erhebt sich das Terrain zu einer ausgedehnten
Hochfläche, die ein Olivenwald mit meist sehr alten, seltsam gewundnen und oft
völlig ausgehöhlten Bäumen bedeckt. Ein Wegweiser zeigt nach den „Grotten
des Catull". Rechts zeigt sich oben eine moderne Villa, das Eigentum des
anhaltischen Ministers von Koseritz, etwas weiter ab links vom Wege schimmert
die uralte Langobardenkirche San Pietro, deren spitzer Turm seitwärts nur an
die Kirche angelehnt ist, durch das lichte, graugrüne Laub der Bäume. Bald
erscheinen allerhand Trümmer, endlich ungeheure Gewölbe, Bogen und Mauern,
aus Bruchsteinen mit Ziegelschichten dazwischen wie für die Ewigkeit gefügt, von
üppigem Gesträuch überwuchert, halb verschüttet und nach dem See zu wie Fels¬
wände steil abfallend, offenbar die Substruktionen eines großen spätrömischen
Palastes, der eine Grundflüche bedeckte wie heute das riesige Grand Hotel in
Gardone. Oben liegt hier und da noch das römische Ziegelpaviment bloß, und
die weitverzweigten unterirdischen Gewölbe sind teilweise noch heute so gut er¬
halten, daß sie als Keller dienen. Da das ganze Terrain Staatseigentum ist,
so kann hier glücklicherweise kein moderner Unternehmer durch irgendwelchen
Spekulationsbau den idyllischen Frieden des Ortes stören. Und welch eine Idylle!
Hinter uns der durchsichtige Olivenwald, tief unten der breite, flache Felsstrand,
um dessen glattgespülte Platten die Wellen leise plätschernd schlagen, sonst
ringsum der blaue See, jenseits nach Norden der lange Schneekamm des Monte
Bald», über dem Dunst, der seine Abhänge verhüllt, wie abgelöst vom Boden
schwebend, im Nordosten, verschwimmend im bläulichen Duft, San Vigilio und
die Burg Garda, im Nordwesten über dem leicht hingehauchten Streifen der
Isola ti Garda die prachtvoll gezackte Kette der Brescianer Alpen. Hier und da
blitzt ein Segel in der Sonne auf. aber kein Geräusch unterbricht die tiefe, traum¬
hafte Stille. In der Tat, der alte Kellner, der sich um unser leibliches Wohl
diensteifrig bemühte, hatte Recht, wenn er, selbst durchdrungen von dem Zauber
dieses Erdflecks, sagte, man sei hier „wie außerhalb der Welt" (luori nisi monäo),
und er wußte weiter zu rühmen, wie hier ein kühler Wind immer wehe und
auch im heißen Sommer niemals die Hitze aufkommen lasse.

Hier also hat Ccitullus gehaust, wenn auch seine Villa mit den sogenannten
Grotten des Catull schwerlich etwas zu tun hat, der größte Lyriker der römischen


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[0163] Über den Brenner Zeit entstand dann hier ein Kloster. Die heutige Kirche ist der heiligen Maria geweiht und ein sehr eigentümlicher einschiffiger Bau, denn das Dach ruht un¬ mittelbar auf einer Reihe von großen hohen Spitzbogen; daran schließt sich ein Kreuzgang. Hier hat einmal gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts das Ketzer- tum der Patarener einen so festen Halt gefunden, daß es eines blutigen Kreuz¬ zuges bedürfte, es auszurotten. Doch heute am Ostersonntage wandelten Frauen und Mädchen, manche anmutige schlanke Gestalt darunter, alle geputzt und geschmückt, so gut sie konnten, über das dunkle Haar den kleidsamen Spitzen¬ schleier, unter dem Geläute der Glocken zur Kirche, während die Männer um den Torbogen standen oder lärmend Morra spielten. Gleich nordwärts vom Städtchen erhebt sich das Terrain zu einer ausgedehnten Hochfläche, die ein Olivenwald mit meist sehr alten, seltsam gewundnen und oft völlig ausgehöhlten Bäumen bedeckt. Ein Wegweiser zeigt nach den „Grotten des Catull". Rechts zeigt sich oben eine moderne Villa, das Eigentum des anhaltischen Ministers von Koseritz, etwas weiter ab links vom Wege schimmert die uralte Langobardenkirche San Pietro, deren spitzer Turm seitwärts nur an die Kirche angelehnt ist, durch das lichte, graugrüne Laub der Bäume. Bald erscheinen allerhand Trümmer, endlich ungeheure Gewölbe, Bogen und Mauern, aus Bruchsteinen mit Ziegelschichten dazwischen wie für die Ewigkeit gefügt, von üppigem Gesträuch überwuchert, halb verschüttet und nach dem See zu wie Fels¬ wände steil abfallend, offenbar die Substruktionen eines großen spätrömischen Palastes, der eine Grundflüche bedeckte wie heute das riesige Grand Hotel in Gardone. Oben liegt hier und da noch das römische Ziegelpaviment bloß, und die weitverzweigten unterirdischen Gewölbe sind teilweise noch heute so gut er¬ halten, daß sie als Keller dienen. Da das ganze Terrain Staatseigentum ist, so kann hier glücklicherweise kein moderner Unternehmer durch irgendwelchen Spekulationsbau den idyllischen Frieden des Ortes stören. Und welch eine Idylle! Hinter uns der durchsichtige Olivenwald, tief unten der breite, flache Felsstrand, um dessen glattgespülte Platten die Wellen leise plätschernd schlagen, sonst ringsum der blaue See, jenseits nach Norden der lange Schneekamm des Monte Bald», über dem Dunst, der seine Abhänge verhüllt, wie abgelöst vom Boden schwebend, im Nordosten, verschwimmend im bläulichen Duft, San Vigilio und die Burg Garda, im Nordwesten über dem leicht hingehauchten Streifen der Isola ti Garda die prachtvoll gezackte Kette der Brescianer Alpen. Hier und da blitzt ein Segel in der Sonne auf. aber kein Geräusch unterbricht die tiefe, traum¬ hafte Stille. In der Tat, der alte Kellner, der sich um unser leibliches Wohl diensteifrig bemühte, hatte Recht, wenn er, selbst durchdrungen von dem Zauber dieses Erdflecks, sagte, man sei hier „wie außerhalb der Welt" (luori nisi monäo), und er wußte weiter zu rühmen, wie hier ein kühler Wind immer wehe und auch im heißen Sommer niemals die Hitze aufkommen lasse. Hier also hat Ccitullus gehaust, wenn auch seine Villa mit den sogenannten Grotten des Catull schwerlich etwas zu tun hat, der größte Lyriker der römischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/163>, abgerufen am 23.07.2024.