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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Über den Brenner

sich der Dampfer wieder zur Abfahrt rüstete, da drängte sich ein dichter Schwarm
von Kindern am Ufer und bis ins flache Wasser hinein, lachend, schreiend,
rufend, sich balgend und die Hände ausstreckend nach den Kupfermünzen, die
ihnen vom Schiffe aus zugeworfen wurden, und lächelnd sah ein junger Geistlicher
vom Balkon eines nahen Hauses aus dem Spektakel zu. Es war eine Szene
wie vor Capri. Aber schon hat Malcesine ein Albergo Italia, das auch von
Deutschen bereits entdeckt ist, und ein zweites größeres, das Albergo Malcesine,
ist im Bau. So dürfte auch Malcesine bald aus seiner "unendlichen Einsamkeit"
emportauchen.

Einsam, weltfern sind auch die kleinen Orte südlich davon, alle inmitten
ihrer Olivenwälder, Anhäufungen von halb verwahrlosten Steinhäusern unter
graurötlichen Ziegeldächern, aber meist mit stattlichen Kirchen. Besonders an¬
sehnlich präsentiert sich die große achteckige Kirche des heiligen Karl Borromäus
in Castelletto, das auch ein neues großes Waisenhaus hat. Von der ehemaligen
Bedeutung Torris zeugt nur noch die viertürmige Scaligerburg; doch bringen
die großen Marmorbrüche in der Nachbarschaft einiges Leben in die Einsamkeit,
und eine Uferstraße verbindet diese Orte miteinander. Dagegen liegt in schwer¬
mütiger Verlassenheit am scharfen Vorsprunge San Vigilio, das seinen Namen
dem heiligen Vigilius, dem Apostel dieser Gegend (um 400), verdankt; hohe
Zypressen, weithin sichtbar über den See, bilden den Hintergrund der ihm ge¬
weihten Kirche, daneben hat Graf Agostino Brenzone aus Verona um 1550
eine echte Nenaissancevilla mit offnen Loggien erbauen lassen, und Pinien,
Zypressen und Zitronenhaine umrahmen sie. Drei andre große Villen, Garten¬
paläste veronesischer Nobili, ziehn sich längs des ganzen flachen Gestades am
Fuße mäßiger Anhöhen hin, hinter ihnen lange dichte Reihen von Zypressen;
in der östlichsten, der dunkelroten burgartigen Villa Albertini hatte der König
Karl Albert im hoffnungsreichen Frühjahr 1848 sein Hauptquartier.

Doch dort ragt dicht am Ufer ein riesiger Felsblock auf, steile, gelbe Wände
über schrägen, dichtbewachsnem Abfall, oben ein breites waldbedecktes Plateau,
295 Meter über der Meeresfläche, also 230 Meter über dem See, dahinter, durch
eine Einsenkung getrennt, eine zweite, flacher ansteigende Höhe, aus deren Baum¬
wipfeln die Gebäude eines kleinen Klosters hervorschimmern, unten am Nord¬
fuße an der Bucht ein Städtchen. Das ist Garda, das schon im spätern Alter¬
tum unter diesem Namen vorkommt (beim Geographen von Ravenna im siebenten
Jahrhundert, der aber auf ältern Angaben fußt) und im Mittelalter dem See
seinen Namen gegeben hat. Beweist schon dies die damalige Bedeutung der
Burg, so spiegelt sich diese ebenso in der deutschen Heldensage wider, die so fest
mit Oberitalien und den: südlichen Tirol verwachsen ist. Hier auf Garten saßen
König Ortnit von Lamparten (Lombardei) und Hildebrand, der Waffenmeister
Dietrichs von Bern. Hier hielt König Berengar der Zweite, Markgraf von
Jvrea, 951 Adelheid von Burgund, die junge Witwe Lothars, die vielen als
die rechtmäßige Erbin des Königreichs Italien galt, in harter Haft, bis sie


Über den Brenner

sich der Dampfer wieder zur Abfahrt rüstete, da drängte sich ein dichter Schwarm
von Kindern am Ufer und bis ins flache Wasser hinein, lachend, schreiend,
rufend, sich balgend und die Hände ausstreckend nach den Kupfermünzen, die
ihnen vom Schiffe aus zugeworfen wurden, und lächelnd sah ein junger Geistlicher
vom Balkon eines nahen Hauses aus dem Spektakel zu. Es war eine Szene
wie vor Capri. Aber schon hat Malcesine ein Albergo Italia, das auch von
Deutschen bereits entdeckt ist, und ein zweites größeres, das Albergo Malcesine,
ist im Bau. So dürfte auch Malcesine bald aus seiner „unendlichen Einsamkeit"
emportauchen.

Einsam, weltfern sind auch die kleinen Orte südlich davon, alle inmitten
ihrer Olivenwälder, Anhäufungen von halb verwahrlosten Steinhäusern unter
graurötlichen Ziegeldächern, aber meist mit stattlichen Kirchen. Besonders an¬
sehnlich präsentiert sich die große achteckige Kirche des heiligen Karl Borromäus
in Castelletto, das auch ein neues großes Waisenhaus hat. Von der ehemaligen
Bedeutung Torris zeugt nur noch die viertürmige Scaligerburg; doch bringen
die großen Marmorbrüche in der Nachbarschaft einiges Leben in die Einsamkeit,
und eine Uferstraße verbindet diese Orte miteinander. Dagegen liegt in schwer¬
mütiger Verlassenheit am scharfen Vorsprunge San Vigilio, das seinen Namen
dem heiligen Vigilius, dem Apostel dieser Gegend (um 400), verdankt; hohe
Zypressen, weithin sichtbar über den See, bilden den Hintergrund der ihm ge¬
weihten Kirche, daneben hat Graf Agostino Brenzone aus Verona um 1550
eine echte Nenaissancevilla mit offnen Loggien erbauen lassen, und Pinien,
Zypressen und Zitronenhaine umrahmen sie. Drei andre große Villen, Garten¬
paläste veronesischer Nobili, ziehn sich längs des ganzen flachen Gestades am
Fuße mäßiger Anhöhen hin, hinter ihnen lange dichte Reihen von Zypressen;
in der östlichsten, der dunkelroten burgartigen Villa Albertini hatte der König
Karl Albert im hoffnungsreichen Frühjahr 1848 sein Hauptquartier.

Doch dort ragt dicht am Ufer ein riesiger Felsblock auf, steile, gelbe Wände
über schrägen, dichtbewachsnem Abfall, oben ein breites waldbedecktes Plateau,
295 Meter über der Meeresfläche, also 230 Meter über dem See, dahinter, durch
eine Einsenkung getrennt, eine zweite, flacher ansteigende Höhe, aus deren Baum¬
wipfeln die Gebäude eines kleinen Klosters hervorschimmern, unten am Nord¬
fuße an der Bucht ein Städtchen. Das ist Garda, das schon im spätern Alter¬
tum unter diesem Namen vorkommt (beim Geographen von Ravenna im siebenten
Jahrhundert, der aber auf ältern Angaben fußt) und im Mittelalter dem See
seinen Namen gegeben hat. Beweist schon dies die damalige Bedeutung der
Burg, so spiegelt sich diese ebenso in der deutschen Heldensage wider, die so fest
mit Oberitalien und den: südlichen Tirol verwachsen ist. Hier auf Garten saßen
König Ortnit von Lamparten (Lombardei) und Hildebrand, der Waffenmeister
Dietrichs von Bern. Hier hielt König Berengar der Zweite, Markgraf von
Jvrea, 951 Adelheid von Burgund, die junge Witwe Lothars, die vielen als
die rechtmäßige Erbin des Königreichs Italien galt, in harter Haft, bis sie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/160>, abgerufen am 23.07.2024.