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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die Schwestcrnfrage

einer der wichtigsten für die Menschheit, leidet durchaus nicht unter der allge¬
meinen Berufskrankheit, der Überfttllung. Während die katholischen Verbände
durch den größern Einfluß der katholischen Kirche auf ihre Glieder, durch ihre
starre Geschlossenheit noch über eine genügende Anzahl von Schwestern ver¬
fügen, leiden die evangelischen Verbände unter einem immer fühlbarer werdenden
Mangel.

Unsre Zeit, die das "Sichcmslebenwollen", die "Jndividualitütspflcge" auf
ihr Panier geschrieben hat, muß notgedrungen den strengen Forderungen an
Gehorsam, Aufgeben des Ichs, Verleugnung des freien Denkens und Wollens
feindlich oder ablehnend gegenüberstehn, Forderungen, die nicht nur die katho¬
lischen sondern auch die evangelischen Schwesternverbände an ihre Glieder stellen.
Was Wunder, daß sich die Lücken immer mehr erweitern! Vor einem Jahr
etwa erschien ein Buch, das in den weitesten Kreisen Interesse und in Berufs¬
kreisen teils warme Zustimmung, teils große Entrüstung hervorrief, ich meine:
Frei zum Dienst. Eine Diakonissengeschichte. Ich kann hier nicht näher darauf
eingehn, empfehle es aber zur Lektüre, denn man empfängt dadurch den Ein¬
druck, daß hier wahre Begebnisse von einer bedeutenden Persönlichkeit ge¬
schildert sind, daß hier der Finger auf die Wunde gelegt ist, an der das ganze
Diakonissenwesen krankt, oder ich will lieber sagen, durch die es viele vor dem
Eintritt zurückschreckt.

Es sind innere und äußere Vorgänge, die die Schwesternfrage gezeitigt haben,
und da alles Gewordne seine Geschichte hat, so glaube ich, daß es zum bessern
Verständnis der gegenwärtigen Fragen gut ist, wenn man sich jene vor Augen
führt. Solange die christliche Kirche besteht, kann man auch ihre Bestrebungen
erkennen, für ihre kranken Glieder durch ausreichende Pflege zu sorgen. Man
findet schon in früher Zeit kirchliche Pflegegenossenschaften und Verbünde.
Der Urgedanke der Krankenpfleger war die Arbeit um "Gotteslohn", d. h./die
Erwerbung der Seligkeit. Diese Ansicht der Pflegenden rief dann auch eine
besondre Beurteilung im Publikum hervor. Denn bis zum heutigen Tage hat
es sich noch nicht mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß, da jede Arbeit ihres
Lohnes wert ist, auch die Krankenpflege einen solchen verlangen darf. Bis auf
den heutigen Tag sieht denn auch noch die Hälfte aller Schwesternverbände die
Pflege als ein kirchliches Amt an, das um "Gotteslohn" getan wird. Die
katholischen Orden verlangen auch in unserm "aufgeklärten" Jahrhundert die
Ablegung der drei Gelübde, das völlige Aufgeben der eignen Persönlichkeit. Sie
schonen ihre Schwestern in keiner Weise, sie verbrauchen sie sehr rasch und skrupel¬
los, denn sie finden noch genügend Rekruten, die die Lücken füllen. In Frankreich,
dem Lande der Nonnen, kann Prevost in seinem Buche Lea eine Nonne mit
Recht sagen lassen: "Wenn ich jetzt heimkomme, werde ich wohl kaum jemand von
den Schwestern mehr kennen. Lauter neue Gesichter. -- Und ich gehöre jetzt zu
den Alten. --- Wie alt sind Sie, Schwester? -- Dreißig. -- Aber dann gehören
Sie doch gewiß noch zu den Jüngern. -- Sie wollen sich wohl über mich lustig


Die Schwestcrnfrage

einer der wichtigsten für die Menschheit, leidet durchaus nicht unter der allge¬
meinen Berufskrankheit, der Überfttllung. Während die katholischen Verbände
durch den größern Einfluß der katholischen Kirche auf ihre Glieder, durch ihre
starre Geschlossenheit noch über eine genügende Anzahl von Schwestern ver¬
fügen, leiden die evangelischen Verbände unter einem immer fühlbarer werdenden
Mangel.

Unsre Zeit, die das „Sichcmslebenwollen", die „Jndividualitütspflcge" auf
ihr Panier geschrieben hat, muß notgedrungen den strengen Forderungen an
Gehorsam, Aufgeben des Ichs, Verleugnung des freien Denkens und Wollens
feindlich oder ablehnend gegenüberstehn, Forderungen, die nicht nur die katho¬
lischen sondern auch die evangelischen Schwesternverbände an ihre Glieder stellen.
Was Wunder, daß sich die Lücken immer mehr erweitern! Vor einem Jahr
etwa erschien ein Buch, das in den weitesten Kreisen Interesse und in Berufs¬
kreisen teils warme Zustimmung, teils große Entrüstung hervorrief, ich meine:
Frei zum Dienst. Eine Diakonissengeschichte. Ich kann hier nicht näher darauf
eingehn, empfehle es aber zur Lektüre, denn man empfängt dadurch den Ein¬
druck, daß hier wahre Begebnisse von einer bedeutenden Persönlichkeit ge¬
schildert sind, daß hier der Finger auf die Wunde gelegt ist, an der das ganze
Diakonissenwesen krankt, oder ich will lieber sagen, durch die es viele vor dem
Eintritt zurückschreckt.

Es sind innere und äußere Vorgänge, die die Schwesternfrage gezeitigt haben,
und da alles Gewordne seine Geschichte hat, so glaube ich, daß es zum bessern
Verständnis der gegenwärtigen Fragen gut ist, wenn man sich jene vor Augen
führt. Solange die christliche Kirche besteht, kann man auch ihre Bestrebungen
erkennen, für ihre kranken Glieder durch ausreichende Pflege zu sorgen. Man
findet schon in früher Zeit kirchliche Pflegegenossenschaften und Verbünde.
Der Urgedanke der Krankenpfleger war die Arbeit um „Gotteslohn", d. h./die
Erwerbung der Seligkeit. Diese Ansicht der Pflegenden rief dann auch eine
besondre Beurteilung im Publikum hervor. Denn bis zum heutigen Tage hat
es sich noch nicht mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß, da jede Arbeit ihres
Lohnes wert ist, auch die Krankenpflege einen solchen verlangen darf. Bis auf
den heutigen Tag sieht denn auch noch die Hälfte aller Schwesternverbände die
Pflege als ein kirchliches Amt an, das um „Gotteslohn" getan wird. Die
katholischen Orden verlangen auch in unserm „aufgeklärten" Jahrhundert die
Ablegung der drei Gelübde, das völlige Aufgeben der eignen Persönlichkeit. Sie
schonen ihre Schwestern in keiner Weise, sie verbrauchen sie sehr rasch und skrupel¬
los, denn sie finden noch genügend Rekruten, die die Lücken füllen. In Frankreich,
dem Lande der Nonnen, kann Prevost in seinem Buche Lea eine Nonne mit
Recht sagen lassen: „Wenn ich jetzt heimkomme, werde ich wohl kaum jemand von
den Schwestern mehr kennen. Lauter neue Gesichter. — Und ich gehöre jetzt zu
den Alten. —- Wie alt sind Sie, Schwester? — Dreißig. — Aber dann gehören
Sie doch gewiß noch zu den Jüngern. — Sie wollen sich wohl über mich lustig


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[0134] Die Schwestcrnfrage einer der wichtigsten für die Menschheit, leidet durchaus nicht unter der allge¬ meinen Berufskrankheit, der Überfttllung. Während die katholischen Verbände durch den größern Einfluß der katholischen Kirche auf ihre Glieder, durch ihre starre Geschlossenheit noch über eine genügende Anzahl von Schwestern ver¬ fügen, leiden die evangelischen Verbände unter einem immer fühlbarer werdenden Mangel. Unsre Zeit, die das „Sichcmslebenwollen", die „Jndividualitütspflcge" auf ihr Panier geschrieben hat, muß notgedrungen den strengen Forderungen an Gehorsam, Aufgeben des Ichs, Verleugnung des freien Denkens und Wollens feindlich oder ablehnend gegenüberstehn, Forderungen, die nicht nur die katho¬ lischen sondern auch die evangelischen Schwesternverbände an ihre Glieder stellen. Was Wunder, daß sich die Lücken immer mehr erweitern! Vor einem Jahr etwa erschien ein Buch, das in den weitesten Kreisen Interesse und in Berufs¬ kreisen teils warme Zustimmung, teils große Entrüstung hervorrief, ich meine: Frei zum Dienst. Eine Diakonissengeschichte. Ich kann hier nicht näher darauf eingehn, empfehle es aber zur Lektüre, denn man empfängt dadurch den Ein¬ druck, daß hier wahre Begebnisse von einer bedeutenden Persönlichkeit ge¬ schildert sind, daß hier der Finger auf die Wunde gelegt ist, an der das ganze Diakonissenwesen krankt, oder ich will lieber sagen, durch die es viele vor dem Eintritt zurückschreckt. Es sind innere und äußere Vorgänge, die die Schwesternfrage gezeitigt haben, und da alles Gewordne seine Geschichte hat, so glaube ich, daß es zum bessern Verständnis der gegenwärtigen Fragen gut ist, wenn man sich jene vor Augen führt. Solange die christliche Kirche besteht, kann man auch ihre Bestrebungen erkennen, für ihre kranken Glieder durch ausreichende Pflege zu sorgen. Man findet schon in früher Zeit kirchliche Pflegegenossenschaften und Verbünde. Der Urgedanke der Krankenpfleger war die Arbeit um „Gotteslohn", d. h./die Erwerbung der Seligkeit. Diese Ansicht der Pflegenden rief dann auch eine besondre Beurteilung im Publikum hervor. Denn bis zum heutigen Tage hat es sich noch nicht mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß, da jede Arbeit ihres Lohnes wert ist, auch die Krankenpflege einen solchen verlangen darf. Bis auf den heutigen Tag sieht denn auch noch die Hälfte aller Schwesternverbände die Pflege als ein kirchliches Amt an, das um „Gotteslohn" getan wird. Die katholischen Orden verlangen auch in unserm „aufgeklärten" Jahrhundert die Ablegung der drei Gelübde, das völlige Aufgeben der eignen Persönlichkeit. Sie schonen ihre Schwestern in keiner Weise, sie verbrauchen sie sehr rasch und skrupel¬ los, denn sie finden noch genügend Rekruten, die die Lücken füllen. In Frankreich, dem Lande der Nonnen, kann Prevost in seinem Buche Lea eine Nonne mit Recht sagen lassen: „Wenn ich jetzt heimkomme, werde ich wohl kaum jemand von den Schwestern mehr kennen. Lauter neue Gesichter. — Und ich gehöre jetzt zu den Alten. —- Wie alt sind Sie, Schwester? — Dreißig. — Aber dann gehören Sie doch gewiß noch zu den Jüngern. — Sie wollen sich wohl über mich lustig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/134>, abgerufen am 27.12.2024.