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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Was bedeuten uns Bachs Uirchenkantaten?

Kennt er also schon das Werk, vielleicht aus einem Klavierauszug, so vermißt
er die kostbare Altarie "Ach bleibe doch, mein liebstes Leben", die nicht minder
kostbare Sopranarie "Jesu, deine Gnadenblicke", die Erzählung "Und da sie
ihm nachsähen", überhaupt den reichen Aufbau des Ganzen. Es ist das un¬
gefähr so, als wenn jemand Schillers "Wilhelm Tell" ansehen wollte, den
ersten, zweiten und fünften Aufzug vorgespielt bekäme und dann mit der Er¬
klärung, daß das Stück zu Ende sei, entlassen würde. Oder wenn man in
Bayreuth "Rheingold" und "Götterdämmerung" vorführen und dabei zu ver-
stehn geben wollte: das habe nun einmal Wagner so geschaffen, das sei der
berühmte "Ring der Nibelungen".

Robert Franz hat seinerzeit, neben Händelschen Arien und Duetten, auch
Arien und Duette aus den Kantaten Bachs so bearbeitet, daß zur Sing¬
stimme nur noch das Klavier, dieses allerdings in umfassender Weise, hinzu¬
tritt. Diese und ähnliche Veröffentlichungen haben hohen Wert, zumal für
die einfachere Hausmusik und für alle sonstigen Fälle, wo man keine ganze
Kantate vorführen kann und auf die verschieden Orchesterinstrumente verzichten
muß. Neuerdings sind bei Breitkopf und Härtel ausgewählte Sopran- und
Altarien von Bach sowie entsprechende Duette "mit einem obligaten Instrument
und Klavier- oder Orgelbegleitung" erschienen. (Der Bearbeiter ist Eusebius
Mandyczewski.) Das ist wieder ein Fortschritt. Bei Bach gibt es ja keine
nebensächliche Begleitung, sondern die Violine, die Flöte, die Oboe, oder was
es sonst gerade für ein obligates Instrument sein mag, "wetteifert" redlich mit
der Singstimme. Die Konzert- und Kirchenbesucher werden sich, wenn die er¬
wähnten Hilfsmittel gebührend benutzt werden, an die eigentümliche Polyphonie
dieser Musik gewöhnen, und damit wird ein großes Schönheitsgebiet zurück¬
erobert sein.

Zu einer Aufführung im Geiste Bachs bedarf es nicht gerade erster
Virtuosen, obwohl die Ansprüche des Meisters, namentlich im vokalen Gebiet,
groß sind. Wohl aber ist ein ganz eigenartiges Studieren und Probieren
notwendig. Sänger und Spieler müssen sich mit außerordentlichem Fleiß in
die Aufgaben einleben. Alle Teile müssen genau ineinander greifen. Das
kostet, da die Tradition solange unterbrochen gewesen ist, ungewöhnliche Opfer
an Zeit und Sorgfalt. Wenn bei Bach selbst das Schreiben, Einstudieren und
Ausführen eines größern Werkes meist nur geringe Zeit in Anspruch genommen
hat, so darf daraus weder gefolgert werden, daß es damals flüchtig zugegangen
sei, noch auch, daß eine heutige Kapelle die Sache im ersten Anlaufe be¬
wältigen könnte.

Es gibt vortreffliche Bearbeitungen von Werken Bachs für den praktischen
Gebrauch der Gegenwart. Aber auch in dieser Hinsicht bleibt noch viel zu
wünschen und zu tun übrig. Daß die Meinungen über die Erneuerung des
Generalbasses, über den größern oder geringern Anteil der Orgel und des
Cembalos, über die stärkere oder schwächere Besetzung des Orchesters usw. aus¬
einandergehn, ist kein Unglück. Man einige sich nur dahin, daß alles möglichst
wirkungsvoll zutage trete. Nur keine dünnen und dürftigen Klänge -- aus
angeblicher historischer Treue! Johann Christian Kittel, einer der letzten


Was bedeuten uns Bachs Uirchenkantaten?

Kennt er also schon das Werk, vielleicht aus einem Klavierauszug, so vermißt
er die kostbare Altarie „Ach bleibe doch, mein liebstes Leben", die nicht minder
kostbare Sopranarie „Jesu, deine Gnadenblicke", die Erzählung „Und da sie
ihm nachsähen", überhaupt den reichen Aufbau des Ganzen. Es ist das un¬
gefähr so, als wenn jemand Schillers „Wilhelm Tell" ansehen wollte, den
ersten, zweiten und fünften Aufzug vorgespielt bekäme und dann mit der Er¬
klärung, daß das Stück zu Ende sei, entlassen würde. Oder wenn man in
Bayreuth „Rheingold" und „Götterdämmerung" vorführen und dabei zu ver-
stehn geben wollte: das habe nun einmal Wagner so geschaffen, das sei der
berühmte „Ring der Nibelungen".

Robert Franz hat seinerzeit, neben Händelschen Arien und Duetten, auch
Arien und Duette aus den Kantaten Bachs so bearbeitet, daß zur Sing¬
stimme nur noch das Klavier, dieses allerdings in umfassender Weise, hinzu¬
tritt. Diese und ähnliche Veröffentlichungen haben hohen Wert, zumal für
die einfachere Hausmusik und für alle sonstigen Fälle, wo man keine ganze
Kantate vorführen kann und auf die verschieden Orchesterinstrumente verzichten
muß. Neuerdings sind bei Breitkopf und Härtel ausgewählte Sopran- und
Altarien von Bach sowie entsprechende Duette „mit einem obligaten Instrument
und Klavier- oder Orgelbegleitung" erschienen. (Der Bearbeiter ist Eusebius
Mandyczewski.) Das ist wieder ein Fortschritt. Bei Bach gibt es ja keine
nebensächliche Begleitung, sondern die Violine, die Flöte, die Oboe, oder was
es sonst gerade für ein obligates Instrument sein mag, „wetteifert" redlich mit
der Singstimme. Die Konzert- und Kirchenbesucher werden sich, wenn die er¬
wähnten Hilfsmittel gebührend benutzt werden, an die eigentümliche Polyphonie
dieser Musik gewöhnen, und damit wird ein großes Schönheitsgebiet zurück¬
erobert sein.

Zu einer Aufführung im Geiste Bachs bedarf es nicht gerade erster
Virtuosen, obwohl die Ansprüche des Meisters, namentlich im vokalen Gebiet,
groß sind. Wohl aber ist ein ganz eigenartiges Studieren und Probieren
notwendig. Sänger und Spieler müssen sich mit außerordentlichem Fleiß in
die Aufgaben einleben. Alle Teile müssen genau ineinander greifen. Das
kostet, da die Tradition solange unterbrochen gewesen ist, ungewöhnliche Opfer
an Zeit und Sorgfalt. Wenn bei Bach selbst das Schreiben, Einstudieren und
Ausführen eines größern Werkes meist nur geringe Zeit in Anspruch genommen
hat, so darf daraus weder gefolgert werden, daß es damals flüchtig zugegangen
sei, noch auch, daß eine heutige Kapelle die Sache im ersten Anlaufe be¬
wältigen könnte.

Es gibt vortreffliche Bearbeitungen von Werken Bachs für den praktischen
Gebrauch der Gegenwart. Aber auch in dieser Hinsicht bleibt noch viel zu
wünschen und zu tun übrig. Daß die Meinungen über die Erneuerung des
Generalbasses, über den größern oder geringern Anteil der Orgel und des
Cembalos, über die stärkere oder schwächere Besetzung des Orchesters usw. aus¬
einandergehn, ist kein Unglück. Man einige sich nur dahin, daß alles möglichst
wirkungsvoll zutage trete. Nur keine dünnen und dürftigen Klänge — aus
angeblicher historischer Treue! Johann Christian Kittel, einer der letzten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/712>, abgerufen am 27.12.2024.