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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Elisabeth Barrett-Browning

so ideale Selbstverleugnung aufgebaut werden, weder für den Einzelnen noch
für die Gesamtheit. Aber die Worte dieser hochsinnigen Vorrede sind ein
Warnruf, der den schroffen Widerspruch zwischen den Lehren des Christentums
und den Grundsätzen echt staatsmännischer Kunst der modernen Indifferenz zum
Bewußtsein bringen soll. E. Browning vertritt gern und oft in ihren
Dichtungen die Forderungen echt christlichen Geistes. Von Chateaubriand
hat sie gelernt, die christliche Doktrin, Bibelworte und Gleichnisse wundersam
poetisch zu erklären. Schillers Götter Griechenlands entlockten ihr als Gegen¬
demonstration das charakteristische Gedicht Hie äsaä ?an: (Zst to ause,
oomlnou mortals, -- s. eoiumon äooiu anni travk! -- I^se "o Lediller
trollt leis xortals Ol leis-t Hg,as8 call z^on baolc, 0r iustruot us to vssx
all -- at z^our Äntic^no tunsrsl.

Für die originellen Vergleiche, Bilder und Deutungen, die sie mit er¬
sichtlicher Vorliebe an bekannte Bibelstellen knüpft, bietet der Eingang des
dritten Buches von Aurora I^iAb. ein charakteristisches Beispiel. Sie zitiert
hier Ev. Joh. 21, 18 und reiht dem Bibelworte folgende ausführliche Er¬
läuterung an: "So sprach der Herr zu Petrus, um den Tod anzukünden,
den er sterben sollte, am Kreuzesstamme, mit dem Haupt nach unten. -- Wie
er zu Petrus sprach, spricht er zu uns; das Wort bedeutet manche Art des
Märtyrertums, es bedeutet vielfachen Tod, obwohl wir schwerlich als Apostel
sterben, wir, die wir die Schlüssel zum Himmel wie zur Erde verlegt haben!
Denn die Menschen sterben nicht erst in rasre äeatli. Wohl gürten wir
unsre Lenden zuerst mit der Jugend zartem Linnen und stürmen den Hügel
hinauf, der aufsteigenden Sonne entgegen, doch bald fügen wir uns müde,
geduldig wie die Einfalt, während andre uns gürten mit den gewaltsamen
Banden sozialer Lüge, Formel und Verstellung, unsre ehrliche Natur zum
Gegenteil verkehrend, um unsre niedre Notdurft vorzudrängen und unsre er¬
habnen Gedanken niederzudrücken: das Haupt nach unten an den Kreuzbalken
der Welt."

Man hat in der Januarnummer der (juartsrl^ L-soie-n (1902) in einem
summarischen Bericht über "Frauenfortschritte" unsrer Dichterin in Vergleich zu
ihrem großen Gatten die schöpferische Kraft abgesprochen, ohne sich die Mühe
zu nehmen, ihrer ungemein sensitiven Art Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Man übersieht, daß 1806 eine Dichterin geboren wurde, die den Mut hatte,
als echte Frau, oft in direktem Widerspruche mit Männeranschaunngen zu
denken und zu dichten, und dabei völlig frei von den Emanzipationsgelüsten
ihrer kühnen Zeitgenossin George Sand. Ebenso bescheiden wie würdevoll
klingt E. Brownings Charakteristik ihres Gattenverhältnisses: Ik I Kaps
attainscl an^tuiuA ok toios auel trsscloiu dz? livinK near vkck, tds vettsi
lor me. Lud 1 doxs z^on aom't edirt etat I inimiv tiini or lose iuäiviäualit/.
(Brief vom 18. Mai 1860.)




Elisabeth Barrett-Browning

so ideale Selbstverleugnung aufgebaut werden, weder für den Einzelnen noch
für die Gesamtheit. Aber die Worte dieser hochsinnigen Vorrede sind ein
Warnruf, der den schroffen Widerspruch zwischen den Lehren des Christentums
und den Grundsätzen echt staatsmännischer Kunst der modernen Indifferenz zum
Bewußtsein bringen soll. E. Browning vertritt gern und oft in ihren
Dichtungen die Forderungen echt christlichen Geistes. Von Chateaubriand
hat sie gelernt, die christliche Doktrin, Bibelworte und Gleichnisse wundersam
poetisch zu erklären. Schillers Götter Griechenlands entlockten ihr als Gegen¬
demonstration das charakteristische Gedicht Hie äsaä ?an: (Zst to ause,
oomlnou mortals, — s. eoiumon äooiu anni travk! — I^se »o Lediller
trollt leis xortals Ol leis-t Hg,as8 call z^on baolc, 0r iustruot us to vssx
all — at z^our Äntic^no tunsrsl.

Für die originellen Vergleiche, Bilder und Deutungen, die sie mit er¬
sichtlicher Vorliebe an bekannte Bibelstellen knüpft, bietet der Eingang des
dritten Buches von Aurora I^iAb. ein charakteristisches Beispiel. Sie zitiert
hier Ev. Joh. 21, 18 und reiht dem Bibelworte folgende ausführliche Er¬
läuterung an: „So sprach der Herr zu Petrus, um den Tod anzukünden,
den er sterben sollte, am Kreuzesstamme, mit dem Haupt nach unten. — Wie
er zu Petrus sprach, spricht er zu uns; das Wort bedeutet manche Art des
Märtyrertums, es bedeutet vielfachen Tod, obwohl wir schwerlich als Apostel
sterben, wir, die wir die Schlüssel zum Himmel wie zur Erde verlegt haben!
Denn die Menschen sterben nicht erst in rasre äeatli. Wohl gürten wir
unsre Lenden zuerst mit der Jugend zartem Linnen und stürmen den Hügel
hinauf, der aufsteigenden Sonne entgegen, doch bald fügen wir uns müde,
geduldig wie die Einfalt, während andre uns gürten mit den gewaltsamen
Banden sozialer Lüge, Formel und Verstellung, unsre ehrliche Natur zum
Gegenteil verkehrend, um unsre niedre Notdurft vorzudrängen und unsre er¬
habnen Gedanken niederzudrücken: das Haupt nach unten an den Kreuzbalken
der Welt."

Man hat in der Januarnummer der (juartsrl^ L-soie-n (1902) in einem
summarischen Bericht über „Frauenfortschritte" unsrer Dichterin in Vergleich zu
ihrem großen Gatten die schöpferische Kraft abgesprochen, ohne sich die Mühe
zu nehmen, ihrer ungemein sensitiven Art Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Man übersieht, daß 1806 eine Dichterin geboren wurde, die den Mut hatte,
als echte Frau, oft in direktem Widerspruche mit Männeranschaunngen zu
denken und zu dichten, und dabei völlig frei von den Emanzipationsgelüsten
ihrer kühnen Zeitgenossin George Sand. Ebenso bescheiden wie würdevoll
klingt E. Brownings Charakteristik ihres Gattenverhältnisses: Ik I Kaps
attainscl an^tuiuA ok toios auel trsscloiu dz? livinK near vkck, tds vettsi
lor me. Lud 1 doxs z^on aom't edirt etat I inimiv tiini or lose iuäiviäualit/.
(Brief vom 18. Mai 1860.)




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[0666] Elisabeth Barrett-Browning so ideale Selbstverleugnung aufgebaut werden, weder für den Einzelnen noch für die Gesamtheit. Aber die Worte dieser hochsinnigen Vorrede sind ein Warnruf, der den schroffen Widerspruch zwischen den Lehren des Christentums und den Grundsätzen echt staatsmännischer Kunst der modernen Indifferenz zum Bewußtsein bringen soll. E. Browning vertritt gern und oft in ihren Dichtungen die Forderungen echt christlichen Geistes. Von Chateaubriand hat sie gelernt, die christliche Doktrin, Bibelworte und Gleichnisse wundersam poetisch zu erklären. Schillers Götter Griechenlands entlockten ihr als Gegen¬ demonstration das charakteristische Gedicht Hie äsaä ?an: (Zst to ause, oomlnou mortals, — s. eoiumon äooiu anni travk! — I^se »o Lediller trollt leis xortals Ol leis-t Hg,as8 call z^on baolc, 0r iustruot us to vssx all — at z^our Äntic^no tunsrsl. Für die originellen Vergleiche, Bilder und Deutungen, die sie mit er¬ sichtlicher Vorliebe an bekannte Bibelstellen knüpft, bietet der Eingang des dritten Buches von Aurora I^iAb. ein charakteristisches Beispiel. Sie zitiert hier Ev. Joh. 21, 18 und reiht dem Bibelworte folgende ausführliche Er¬ läuterung an: „So sprach der Herr zu Petrus, um den Tod anzukünden, den er sterben sollte, am Kreuzesstamme, mit dem Haupt nach unten. — Wie er zu Petrus sprach, spricht er zu uns; das Wort bedeutet manche Art des Märtyrertums, es bedeutet vielfachen Tod, obwohl wir schwerlich als Apostel sterben, wir, die wir die Schlüssel zum Himmel wie zur Erde verlegt haben! Denn die Menschen sterben nicht erst in rasre äeatli. Wohl gürten wir unsre Lenden zuerst mit der Jugend zartem Linnen und stürmen den Hügel hinauf, der aufsteigenden Sonne entgegen, doch bald fügen wir uns müde, geduldig wie die Einfalt, während andre uns gürten mit den gewaltsamen Banden sozialer Lüge, Formel und Verstellung, unsre ehrliche Natur zum Gegenteil verkehrend, um unsre niedre Notdurft vorzudrängen und unsre er¬ habnen Gedanken niederzudrücken: das Haupt nach unten an den Kreuzbalken der Welt." Man hat in der Januarnummer der (juartsrl^ L-soie-n (1902) in einem summarischen Bericht über „Frauenfortschritte" unsrer Dichterin in Vergleich zu ihrem großen Gatten die schöpferische Kraft abgesprochen, ohne sich die Mühe zu nehmen, ihrer ungemein sensitiven Art Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Man übersieht, daß 1806 eine Dichterin geboren wurde, die den Mut hatte, als echte Frau, oft in direktem Widerspruche mit Männeranschaunngen zu denken und zu dichten, und dabei völlig frei von den Emanzipationsgelüsten ihrer kühnen Zeitgenossin George Sand. Ebenso bescheiden wie würdevoll klingt E. Brownings Charakteristik ihres Gattenverhältnisses: Ik I Kaps attainscl an^tuiuA ok toios auel trsscloiu dz? livinK near vkck, tds vettsi lor me. Lud 1 doxs z^on aom't edirt etat I inimiv tiini or lose iuäiviäualit/. (Brief vom 18. Mai 1860.)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/666>, abgerufen am 27.12.2024.