Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Stockung in den Fortschritten des allgemeinen Stimmrechts

richtig ist, sich so ablehnend zu verhalten, soll in dieser rein objektiven Skizze
nicht weiter untersucht werden. Baden und Bayern haben sich entgegengesetzt
Verhalten, sie schreiten kräftig auf der Bahn zum allgemeinen Stimmrecht vor.
Auch Württemberg ist mit seiner Verfassungsreform beschäftigt, die jedenfalls
das Stimmrecht erweitert und die erste Kammer umgestaltet. Sachsen hat
Reformen in Aussicht gestellt, will jedoch von Vorkehrungen nicht lassen, die
die Macht der Sozialdemokratie in Schranken halten. Sogar die Negierung
eines so kleinen Staates wie Oldenburg hat sich für die Einführung des all¬
gemeinen Stimmrechts ausgesprochen. Sie rechnet wahrscheinlich darauf, daß
Oldenburg überwiegend ein Bauernland ist, daß die Industrie schwerlich jemals
eine überragende Bedeutung erlangen wird. Jetzt ist das ganz adelslose
Lündchen parlamentarisch in der Hand der Großbaueru. Darin würde immer¬
hin beim allgemeinen Stimmrecht eine tiefgreifende Änderung eintreten. Über¬
haupt muß man bekennen, daß niemand mit einiger Sicherheit sagen kann,
wohin man in zwei oder drei Jahrzehnten gelangt sein wird. Entgegengesetzte
Bahnen haben die Hansestädte Hamburg und Lübeck eingeschlagen. Beide
Städte hatten kein allgemeines Stimmrecht, aber sie fürchteten, daß das be¬
stehende Wahlrecht leicht der Sozialdemokratie eine Macht geben könne, daß
sie Verfassungsänderungen zu hindern vermöge, und daß gar mit einer bürger¬
lichen Linken, die vielleicht auf sozialdemokratische Stichwahlstimmen angewiesen
sei. auch im übrigen die Gesetzgebung und die Verwaltung zu stark beeinflußt
werden könnten. Sie haben deshalb das Wahlrecht stark eingeengt. Damit
haben sie im Gegensatz zu dem freisinnigen Programm gehandelt, das unter
vorwaltendem Einfluß sozialliberaler Elemente kürzlich zustande gekommen ist.
Einer seiner Punkte ging dahin, daß in allen Einzelstaaten das allgemeine
Stimmrecht einzuführen sei. In allen -- das schließt also anch die hanseatischen
Stadtstaaten ein, deren Organismus doch mehr einer Gemeinde als einem
Staat gleicht. In den Einwohnerschaften wiegt das proletarische Element vor,
namentlich in Hamburg, dessen Einwohnerschaft denn auch nach Ausweis der
Neichstagswahlen mit einer unerschütterlichen Mehrheit der Sozialdemokratie
anhängt. Kann es einem Zweifel unterliegen, wie hier das allgemeine Stimm¬
recht wirken würde? Führte man es ein, so hieße das einfach, die große
blühende Seehandelsstadt, die erste des europäischen Kontinents, an die Sozial¬
demokratie ausliefern. Es wäre doch beispiellos, wenn das hamburgische
Bürgertum einer doktrinären Mahnung zuliebe das täte.

Das allgemeine Stimmrecht hat Fortschritte gemacht und wird ihrer noch
mehr machen. Aber ohne Schwankungen wird es dabei nicht abgehn. Und
wenn sich die Sozialdemokratie und ihre jeweiligen Bundesgenossen dabei ver-
galoppieren, so werden starke Rückschläge nicht ausbleiben.




Stockung in den Fortschritten des allgemeinen Stimmrechts

richtig ist, sich so ablehnend zu verhalten, soll in dieser rein objektiven Skizze
nicht weiter untersucht werden. Baden und Bayern haben sich entgegengesetzt
Verhalten, sie schreiten kräftig auf der Bahn zum allgemeinen Stimmrecht vor.
Auch Württemberg ist mit seiner Verfassungsreform beschäftigt, die jedenfalls
das Stimmrecht erweitert und die erste Kammer umgestaltet. Sachsen hat
Reformen in Aussicht gestellt, will jedoch von Vorkehrungen nicht lassen, die
die Macht der Sozialdemokratie in Schranken halten. Sogar die Negierung
eines so kleinen Staates wie Oldenburg hat sich für die Einführung des all¬
gemeinen Stimmrechts ausgesprochen. Sie rechnet wahrscheinlich darauf, daß
Oldenburg überwiegend ein Bauernland ist, daß die Industrie schwerlich jemals
eine überragende Bedeutung erlangen wird. Jetzt ist das ganz adelslose
Lündchen parlamentarisch in der Hand der Großbaueru. Darin würde immer¬
hin beim allgemeinen Stimmrecht eine tiefgreifende Änderung eintreten. Über¬
haupt muß man bekennen, daß niemand mit einiger Sicherheit sagen kann,
wohin man in zwei oder drei Jahrzehnten gelangt sein wird. Entgegengesetzte
Bahnen haben die Hansestädte Hamburg und Lübeck eingeschlagen. Beide
Städte hatten kein allgemeines Stimmrecht, aber sie fürchteten, daß das be¬
stehende Wahlrecht leicht der Sozialdemokratie eine Macht geben könne, daß
sie Verfassungsänderungen zu hindern vermöge, und daß gar mit einer bürger¬
lichen Linken, die vielleicht auf sozialdemokratische Stichwahlstimmen angewiesen
sei. auch im übrigen die Gesetzgebung und die Verwaltung zu stark beeinflußt
werden könnten. Sie haben deshalb das Wahlrecht stark eingeengt. Damit
haben sie im Gegensatz zu dem freisinnigen Programm gehandelt, das unter
vorwaltendem Einfluß sozialliberaler Elemente kürzlich zustande gekommen ist.
Einer seiner Punkte ging dahin, daß in allen Einzelstaaten das allgemeine
Stimmrecht einzuführen sei. In allen — das schließt also anch die hanseatischen
Stadtstaaten ein, deren Organismus doch mehr einer Gemeinde als einem
Staat gleicht. In den Einwohnerschaften wiegt das proletarische Element vor,
namentlich in Hamburg, dessen Einwohnerschaft denn auch nach Ausweis der
Neichstagswahlen mit einer unerschütterlichen Mehrheit der Sozialdemokratie
anhängt. Kann es einem Zweifel unterliegen, wie hier das allgemeine Stimm¬
recht wirken würde? Führte man es ein, so hieße das einfach, die große
blühende Seehandelsstadt, die erste des europäischen Kontinents, an die Sozial¬
demokratie ausliefern. Es wäre doch beispiellos, wenn das hamburgische
Bürgertum einer doktrinären Mahnung zuliebe das täte.

Das allgemeine Stimmrecht hat Fortschritte gemacht und wird ihrer noch
mehr machen. Aber ohne Schwankungen wird es dabei nicht abgehn. Und
wenn sich die Sozialdemokratie und ihre jeweiligen Bundesgenossen dabei ver-
galoppieren, so werden starke Rückschläge nicht ausbleiben.




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0632" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/299673"/>
          <fw type="header" place="top"> Stockung in den Fortschritten des allgemeinen Stimmrechts</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2793" prev="#ID_2792"> richtig ist, sich so ablehnend zu verhalten, soll in dieser rein objektiven Skizze<lb/>
nicht weiter untersucht werden. Baden und Bayern haben sich entgegengesetzt<lb/>
Verhalten, sie schreiten kräftig auf der Bahn zum allgemeinen Stimmrecht vor.<lb/>
Auch Württemberg ist mit seiner Verfassungsreform beschäftigt, die jedenfalls<lb/>
das Stimmrecht erweitert und die erste Kammer umgestaltet. Sachsen hat<lb/>
Reformen in Aussicht gestellt, will jedoch von Vorkehrungen nicht lassen, die<lb/>
die Macht der Sozialdemokratie in Schranken halten. Sogar die Negierung<lb/>
eines so kleinen Staates wie Oldenburg hat sich für die Einführung des all¬<lb/>
gemeinen Stimmrechts ausgesprochen. Sie rechnet wahrscheinlich darauf, daß<lb/>
Oldenburg überwiegend ein Bauernland ist, daß die Industrie schwerlich jemals<lb/>
eine überragende Bedeutung erlangen wird. Jetzt ist das ganz adelslose<lb/>
Lündchen parlamentarisch in der Hand der Großbaueru. Darin würde immer¬<lb/>
hin beim allgemeinen Stimmrecht eine tiefgreifende Änderung eintreten. Über¬<lb/>
haupt muß man bekennen, daß niemand mit einiger Sicherheit sagen kann,<lb/>
wohin man in zwei oder drei Jahrzehnten gelangt sein wird. Entgegengesetzte<lb/>
Bahnen haben die Hansestädte Hamburg und Lübeck eingeschlagen. Beide<lb/>
Städte hatten kein allgemeines Stimmrecht, aber sie fürchteten, daß das be¬<lb/>
stehende Wahlrecht leicht der Sozialdemokratie eine Macht geben könne, daß<lb/>
sie Verfassungsänderungen zu hindern vermöge, und daß gar mit einer bürger¬<lb/>
lichen Linken, die vielleicht auf sozialdemokratische Stichwahlstimmen angewiesen<lb/>
sei. auch im übrigen die Gesetzgebung und die Verwaltung zu stark beeinflußt<lb/>
werden könnten. Sie haben deshalb das Wahlrecht stark eingeengt. Damit<lb/>
haben sie im Gegensatz zu dem freisinnigen Programm gehandelt, das unter<lb/>
vorwaltendem Einfluß sozialliberaler Elemente kürzlich zustande gekommen ist.<lb/>
Einer seiner Punkte ging dahin, daß in allen Einzelstaaten das allgemeine<lb/>
Stimmrecht einzuführen sei. In allen &#x2014; das schließt also anch die hanseatischen<lb/>
Stadtstaaten ein, deren Organismus doch mehr einer Gemeinde als einem<lb/>
Staat gleicht. In den Einwohnerschaften wiegt das proletarische Element vor,<lb/>
namentlich in Hamburg, dessen Einwohnerschaft denn auch nach Ausweis der<lb/>
Neichstagswahlen mit einer unerschütterlichen Mehrheit der Sozialdemokratie<lb/>
anhängt. Kann es einem Zweifel unterliegen, wie hier das allgemeine Stimm¬<lb/>
recht wirken würde? Führte man es ein, so hieße das einfach, die große<lb/>
blühende Seehandelsstadt, die erste des europäischen Kontinents, an die Sozial¬<lb/>
demokratie ausliefern. Es wäre doch beispiellos, wenn das hamburgische<lb/>
Bürgertum einer doktrinären Mahnung zuliebe das täte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2794"> Das allgemeine Stimmrecht hat Fortschritte gemacht und wird ihrer noch<lb/>
mehr machen. Aber ohne Schwankungen wird es dabei nicht abgehn. Und<lb/>
wenn sich die Sozialdemokratie und ihre jeweiligen Bundesgenossen dabei ver-<lb/>
galoppieren, so werden starke Rückschläge nicht ausbleiben.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0632] Stockung in den Fortschritten des allgemeinen Stimmrechts richtig ist, sich so ablehnend zu verhalten, soll in dieser rein objektiven Skizze nicht weiter untersucht werden. Baden und Bayern haben sich entgegengesetzt Verhalten, sie schreiten kräftig auf der Bahn zum allgemeinen Stimmrecht vor. Auch Württemberg ist mit seiner Verfassungsreform beschäftigt, die jedenfalls das Stimmrecht erweitert und die erste Kammer umgestaltet. Sachsen hat Reformen in Aussicht gestellt, will jedoch von Vorkehrungen nicht lassen, die die Macht der Sozialdemokratie in Schranken halten. Sogar die Negierung eines so kleinen Staates wie Oldenburg hat sich für die Einführung des all¬ gemeinen Stimmrechts ausgesprochen. Sie rechnet wahrscheinlich darauf, daß Oldenburg überwiegend ein Bauernland ist, daß die Industrie schwerlich jemals eine überragende Bedeutung erlangen wird. Jetzt ist das ganz adelslose Lündchen parlamentarisch in der Hand der Großbaueru. Darin würde immer¬ hin beim allgemeinen Stimmrecht eine tiefgreifende Änderung eintreten. Über¬ haupt muß man bekennen, daß niemand mit einiger Sicherheit sagen kann, wohin man in zwei oder drei Jahrzehnten gelangt sein wird. Entgegengesetzte Bahnen haben die Hansestädte Hamburg und Lübeck eingeschlagen. Beide Städte hatten kein allgemeines Stimmrecht, aber sie fürchteten, daß das be¬ stehende Wahlrecht leicht der Sozialdemokratie eine Macht geben könne, daß sie Verfassungsänderungen zu hindern vermöge, und daß gar mit einer bürger¬ lichen Linken, die vielleicht auf sozialdemokratische Stichwahlstimmen angewiesen sei. auch im übrigen die Gesetzgebung und die Verwaltung zu stark beeinflußt werden könnten. Sie haben deshalb das Wahlrecht stark eingeengt. Damit haben sie im Gegensatz zu dem freisinnigen Programm gehandelt, das unter vorwaltendem Einfluß sozialliberaler Elemente kürzlich zustande gekommen ist. Einer seiner Punkte ging dahin, daß in allen Einzelstaaten das allgemeine Stimmrecht einzuführen sei. In allen — das schließt also anch die hanseatischen Stadtstaaten ein, deren Organismus doch mehr einer Gemeinde als einem Staat gleicht. In den Einwohnerschaften wiegt das proletarische Element vor, namentlich in Hamburg, dessen Einwohnerschaft denn auch nach Ausweis der Neichstagswahlen mit einer unerschütterlichen Mehrheit der Sozialdemokratie anhängt. Kann es einem Zweifel unterliegen, wie hier das allgemeine Stimm¬ recht wirken würde? Führte man es ein, so hieße das einfach, die große blühende Seehandelsstadt, die erste des europäischen Kontinents, an die Sozial¬ demokratie ausliefern. Es wäre doch beispiellos, wenn das hamburgische Bürgertum einer doktrinären Mahnung zuliebe das täte. Das allgemeine Stimmrecht hat Fortschritte gemacht und wird ihrer noch mehr machen. Aber ohne Schwankungen wird es dabei nicht abgehn. Und wenn sich die Sozialdemokratie und ihre jeweiligen Bundesgenossen dabei ver- galoppieren, so werden starke Rückschläge nicht ausbleiben.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/632
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/632>, abgerufen am 27.12.2024.