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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Stockung in den Fortschritten des allgemeinen
Stimmrechts

cisch wechselt heutzutage die Szenerie in der innern Politik der
meisten Mächte, rascher als sonst. Vor allen Dingen gilt das
von den beiden großen Ostmächten, die die Demokratisierung der
Staatsformen teils gar nicht, teils viel schärfer mitgemacht
hatten als Westeuropa: von Rußland und Österreich-Ungarn.
England ist seit zweihundcrtachtzehn Jahren von jeder Revolution verschont
geblieben. Es verdankt das zum Teil dem gesunden politischen Sinne seiner
Bevölkerung, die sich auf Fortschritte und friedliche Reformen verläßt, zum
Teil auch den regierenden Klassen, die selber die Initiative dazu ergreifen und
deshalb ohne allzugroße Schwierigkeit die Führung der Massen behalten.
Glückliches Land, das noch kaum eine sozialdemokratische Partei kennt, obwohl
es das vorgeschrittenste Industrieland der Welt ist! Das Königtum war unter
den fünf regierenden Männern aus dem Hause Hannover seiner Macht und
Volkstümlichkeit verlustig geworden. Der sechste Kronenträger, eine vortreffliche
Frau, gewann die Popularität in ungewöhnlichem Umfange zurück, doch griff
sie nur selten bestimmend in das Schicksal der Nation ein. Unverkennbar ist
allmählich der Glanz der Krone wieder gestiegen. König Eduard der Siebente
zieht großen Borten daraus. Er hütet sich vor Eingriffen in die innere
Politik, denn hier bringt sich der unüberwindliche Volkswille stark zum Aus¬
druck. In der auswärtigen Politik ist er dagegen der leitende Geist -- es
sei denn, daß er direkt gegen den Wunsch und den Willen des Unterhauses
steuern wollte, dann würde sich augenblicklich zeigen, daß die höchste Gewalt
nicht in seineu Händen liegt, sondern in denen der vom Volke gewählten
Parlamentsinstanz. So klar es auch ist, daß das heutige Königtum wieder
mehr Macht hat als seit langer Zeit, so sind die Gegner doch deutlich er¬
kennbar, und schwerlich stehn dem König Erfolge in Aussicht, wenn er weiter
greifen will.

Seit der Entstehung der jetzigen französischen Republik hat man immer
das Gespenst einer Wiederherstellung der Monarchie zu sehen geglaubt. Längst
ist die mitternächtliche Stunde vorüber, in der es hätte erscheinen können.


Grenzboten II 1906 79


Stockung in den Fortschritten des allgemeinen
Stimmrechts

cisch wechselt heutzutage die Szenerie in der innern Politik der
meisten Mächte, rascher als sonst. Vor allen Dingen gilt das
von den beiden großen Ostmächten, die die Demokratisierung der
Staatsformen teils gar nicht, teils viel schärfer mitgemacht
hatten als Westeuropa: von Rußland und Österreich-Ungarn.
England ist seit zweihundcrtachtzehn Jahren von jeder Revolution verschont
geblieben. Es verdankt das zum Teil dem gesunden politischen Sinne seiner
Bevölkerung, die sich auf Fortschritte und friedliche Reformen verläßt, zum
Teil auch den regierenden Klassen, die selber die Initiative dazu ergreifen und
deshalb ohne allzugroße Schwierigkeit die Führung der Massen behalten.
Glückliches Land, das noch kaum eine sozialdemokratische Partei kennt, obwohl
es das vorgeschrittenste Industrieland der Welt ist! Das Königtum war unter
den fünf regierenden Männern aus dem Hause Hannover seiner Macht und
Volkstümlichkeit verlustig geworden. Der sechste Kronenträger, eine vortreffliche
Frau, gewann die Popularität in ungewöhnlichem Umfange zurück, doch griff
sie nur selten bestimmend in das Schicksal der Nation ein. Unverkennbar ist
allmählich der Glanz der Krone wieder gestiegen. König Eduard der Siebente
zieht großen Borten daraus. Er hütet sich vor Eingriffen in die innere
Politik, denn hier bringt sich der unüberwindliche Volkswille stark zum Aus¬
druck. In der auswärtigen Politik ist er dagegen der leitende Geist — es
sei denn, daß er direkt gegen den Wunsch und den Willen des Unterhauses
steuern wollte, dann würde sich augenblicklich zeigen, daß die höchste Gewalt
nicht in seineu Händen liegt, sondern in denen der vom Volke gewählten
Parlamentsinstanz. So klar es auch ist, daß das heutige Königtum wieder
mehr Macht hat als seit langer Zeit, so sind die Gegner doch deutlich er¬
kennbar, und schwerlich stehn dem König Erfolge in Aussicht, wenn er weiter
greifen will.

Seit der Entstehung der jetzigen französischen Republik hat man immer
das Gespenst einer Wiederherstellung der Monarchie zu sehen geglaubt. Längst
ist die mitternächtliche Stunde vorüber, in der es hätte erscheinen können.


Grenzboten II 1906 79
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[0625] [Abbildung] Stockung in den Fortschritten des allgemeinen Stimmrechts cisch wechselt heutzutage die Szenerie in der innern Politik der meisten Mächte, rascher als sonst. Vor allen Dingen gilt das von den beiden großen Ostmächten, die die Demokratisierung der Staatsformen teils gar nicht, teils viel schärfer mitgemacht hatten als Westeuropa: von Rußland und Österreich-Ungarn. England ist seit zweihundcrtachtzehn Jahren von jeder Revolution verschont geblieben. Es verdankt das zum Teil dem gesunden politischen Sinne seiner Bevölkerung, die sich auf Fortschritte und friedliche Reformen verläßt, zum Teil auch den regierenden Klassen, die selber die Initiative dazu ergreifen und deshalb ohne allzugroße Schwierigkeit die Führung der Massen behalten. Glückliches Land, das noch kaum eine sozialdemokratische Partei kennt, obwohl es das vorgeschrittenste Industrieland der Welt ist! Das Königtum war unter den fünf regierenden Männern aus dem Hause Hannover seiner Macht und Volkstümlichkeit verlustig geworden. Der sechste Kronenträger, eine vortreffliche Frau, gewann die Popularität in ungewöhnlichem Umfange zurück, doch griff sie nur selten bestimmend in das Schicksal der Nation ein. Unverkennbar ist allmählich der Glanz der Krone wieder gestiegen. König Eduard der Siebente zieht großen Borten daraus. Er hütet sich vor Eingriffen in die innere Politik, denn hier bringt sich der unüberwindliche Volkswille stark zum Aus¬ druck. In der auswärtigen Politik ist er dagegen der leitende Geist — es sei denn, daß er direkt gegen den Wunsch und den Willen des Unterhauses steuern wollte, dann würde sich augenblicklich zeigen, daß die höchste Gewalt nicht in seineu Händen liegt, sondern in denen der vom Volke gewählten Parlamentsinstanz. So klar es auch ist, daß das heutige Königtum wieder mehr Macht hat als seit langer Zeit, so sind die Gegner doch deutlich er¬ kennbar, und schwerlich stehn dem König Erfolge in Aussicht, wenn er weiter greifen will. Seit der Entstehung der jetzigen französischen Republik hat man immer das Gespenst einer Wiederherstellung der Monarchie zu sehen geglaubt. Längst ist die mitternächtliche Stunde vorüber, in der es hätte erscheinen können. Grenzboten II 1906 79

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/625>, abgerufen am 24.07.2024.