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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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können. In die Verwaltung und in das Heer ist europäischer Einfluß ein¬
gedrungen und teilweise bestimmend geworden. Wie tief jedoch die Bedeutung
des Osmanenreichs als Staat gesunken ist, führt dem Moslem, der sehen will,
dreierlei täglich vor Augen, die Zulassung der fremden Postämter, die ständige
Anwesenheit der Stationsjachten und der Botschaftswachen der fremden Mächte,
und der gewaltige Fremdenverkehr, der vor nichts mehr Halt macht. Wie rück¬
ständig das Osmanentum aber ist, erfährt der Reisende bei den ersten Schritten,
wenn er den Sonnenuntergang jeder vernünftigen Zeitrechnung zum Hohn
als zeitbestimmend kennen lernt und den Moslem den Tag mit der Ruhe be¬
ginnen sieht.

Wir haben in unsern fünf Tagen, ohne uns an einen festen Plan zu
binden, mitgenommen, was Zeit, Wetter und Stimmung uns erlaubten und
glückliche Zufälle boten. Besondern Wünschen nachzugehn, fand sich dabei doch
immer Gelegenheit. Kein Weg war umsonst, denn für den, der seine Augen
öffnet, bringt jeder Spaziergang und jede Fahrt etwas neues. Freilich gehört
dazu erträgliches Wetter. Leider machte der Himmel am zweiten Nachmittag
bei unsrer Rückfahrt von der asiatischen Seite ein überaus unfreundliches Gesicht
und überschüttete uns mit Regen und Schnee. Dadurch wurde das Bild des
abendlich beleuchteten Konstantinopels und der Handelsflotte am Ausgange des
Goldner Horns stark beeinträchtigt. Gerade dieser Abend als Vorabend des
Veiramfestes, zu dem alle Schiffe schon über den Topper geflaggt hatten, und
Kanonenschläge die etwas eintönige musikalische Einleitung gaben, würde sonst
einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen haben. Gutes Wetter ist auch in
andrer Beziehung für Konstantinopel geboten: atmosphärische Feuchtigkeit ver¬
wandelt den lehmigen, niemals entfernten, höchstens durch abschüssige Seiten¬
straßen bei starken Regengüssen abfließenden, mit dem Müll der Haushaltungen
vermischten Schmutz der Straßen in eine klebrige, zähe Masse, durch die man
nur mit hochreichenden Überschuhen waten kann. Vorsichtig balanciert man
dann die schmalen Trottoirs entlang oder in den engen Seitengassen über
einzelne hervorragende Steine, während vorbeifahrende Wagen alle Mühe um¬
sonst machen, aber auch ihre Insassen mit ungezählten Schmutzflecken überspritzen.
Ebenso schnell jedoch, wie er entsteht, trocknet unter dem Einfluß der immer
herrschenden Winde und des Massenverkehrs auf der Straße der feuchte Schmutz,
sodaß es uns durchaus gelungen ist, die beiden Aggregatzustände des feucht¬
schmierigen und trockenstaubigen Konstantinopels in den fünf Tagen unsrer An¬
wesenheit zur Genüge kennen zu lernen. Unrecht wäre es jedoch gegen die
Gunst des Himmels, wollte ich nicht der herrlichen Abendsonne gedenken, die
Stambul, Per" und Galata bestrahlte, als wir auf der Höhe des Friedhofs
von Ejub über dem Goldner Horn standen, und die genügend Wärme gespendet
hatte, uns eine Kaikfahrt bei Mondenschein und Lichterglanz zur Alten Galata-
brücke zu gestatten.

Mit dem Wetter zufrieden, müssen wir den Glucksumstünden erst recht
dankbar sein, die unsern Aufenthalt begünstigt haben. Dazu rechne ich, daß
wir ohne unser Zutun gerade zum Beiramfest zurechtgekommen sind, und daß ein
Dampfer der Deutschen Levantelinie eintraf, dessen Gesellschaft wir uns ohne


können. In die Verwaltung und in das Heer ist europäischer Einfluß ein¬
gedrungen und teilweise bestimmend geworden. Wie tief jedoch die Bedeutung
des Osmanenreichs als Staat gesunken ist, führt dem Moslem, der sehen will,
dreierlei täglich vor Augen, die Zulassung der fremden Postämter, die ständige
Anwesenheit der Stationsjachten und der Botschaftswachen der fremden Mächte,
und der gewaltige Fremdenverkehr, der vor nichts mehr Halt macht. Wie rück¬
ständig das Osmanentum aber ist, erfährt der Reisende bei den ersten Schritten,
wenn er den Sonnenuntergang jeder vernünftigen Zeitrechnung zum Hohn
als zeitbestimmend kennen lernt und den Moslem den Tag mit der Ruhe be¬
ginnen sieht.

Wir haben in unsern fünf Tagen, ohne uns an einen festen Plan zu
binden, mitgenommen, was Zeit, Wetter und Stimmung uns erlaubten und
glückliche Zufälle boten. Besondern Wünschen nachzugehn, fand sich dabei doch
immer Gelegenheit. Kein Weg war umsonst, denn für den, der seine Augen
öffnet, bringt jeder Spaziergang und jede Fahrt etwas neues. Freilich gehört
dazu erträgliches Wetter. Leider machte der Himmel am zweiten Nachmittag
bei unsrer Rückfahrt von der asiatischen Seite ein überaus unfreundliches Gesicht
und überschüttete uns mit Regen und Schnee. Dadurch wurde das Bild des
abendlich beleuchteten Konstantinopels und der Handelsflotte am Ausgange des
Goldner Horns stark beeinträchtigt. Gerade dieser Abend als Vorabend des
Veiramfestes, zu dem alle Schiffe schon über den Topper geflaggt hatten, und
Kanonenschläge die etwas eintönige musikalische Einleitung gaben, würde sonst
einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen haben. Gutes Wetter ist auch in
andrer Beziehung für Konstantinopel geboten: atmosphärische Feuchtigkeit ver¬
wandelt den lehmigen, niemals entfernten, höchstens durch abschüssige Seiten¬
straßen bei starken Regengüssen abfließenden, mit dem Müll der Haushaltungen
vermischten Schmutz der Straßen in eine klebrige, zähe Masse, durch die man
nur mit hochreichenden Überschuhen waten kann. Vorsichtig balanciert man
dann die schmalen Trottoirs entlang oder in den engen Seitengassen über
einzelne hervorragende Steine, während vorbeifahrende Wagen alle Mühe um¬
sonst machen, aber auch ihre Insassen mit ungezählten Schmutzflecken überspritzen.
Ebenso schnell jedoch, wie er entsteht, trocknet unter dem Einfluß der immer
herrschenden Winde und des Massenverkehrs auf der Straße der feuchte Schmutz,
sodaß es uns durchaus gelungen ist, die beiden Aggregatzustände des feucht¬
schmierigen und trockenstaubigen Konstantinopels in den fünf Tagen unsrer An¬
wesenheit zur Genüge kennen zu lernen. Unrecht wäre es jedoch gegen die
Gunst des Himmels, wollte ich nicht der herrlichen Abendsonne gedenken, die
Stambul, Per« und Galata bestrahlte, als wir auf der Höhe des Friedhofs
von Ejub über dem Goldner Horn standen, und die genügend Wärme gespendet
hatte, uns eine Kaikfahrt bei Mondenschein und Lichterglanz zur Alten Galata-
brücke zu gestatten.

Mit dem Wetter zufrieden, müssen wir den Glucksumstünden erst recht
dankbar sein, die unsern Aufenthalt begünstigt haben. Dazu rechne ich, daß
wir ohne unser Zutun gerade zum Beiramfest zurechtgekommen sind, und daß ein
Dampfer der Deutschen Levantelinie eintraf, dessen Gesellschaft wir uns ohne


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/603>, abgerufen am 29.12.2024.