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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Die deutsche Iahrhundertausstellung in der Nationalgalerie

dürfen wir von einem solchen spontanen Geiste nicht erwarten, daß er auch die
letzte Rundung zum Ganzen erreicht. Fast alle Bilder, an denen er sich länger
gemüht hat, stehn zurück hinter seinen Skizzen. Sie wirken roh und oft geradezu
geschmacklos.

Wenn uns statt all der modernen, noch lebenden Meister, die genügend
bekannt sind, mehr von den ältern Künstlern gegeben worden wäre, wären wir
noch dankbarer gewesen. Zwei der größten Meister deutscher Kunst, Feuerbach
und Boecklin, hätten den Abschluß geben können. Jener erscheint in glänzender
Vollständigkeit, dieser ist offenbar vernachlässigt worden. Diese beiden Größten,
den einen, den Meister der Stilisierung, und den andern, den Herrscher im Reiche
der Farben und der wunderbaren Phantasie, von dem ein Werk oft mehr an
malerischer Kraft und Reichtum der Erfindung zu geben scheint als alle andern
Werke der Ausstellung, können wir leider nicht mehr besprechen. Wir müßten
flüchtig oder allzu ausführlich sein. Einen dritten, Hans von Marees (1837
bis 1887), hat man ihnen zugeordnet. Aber er steht weit hinter beiden zurück;
dem edeln Streben fehlt Kraft und Temperament, Reichtum der Phantasie. Das
Gequälte seines Schaffens verleidet den Genuß, ganz abgesehen davon, daß sein
Reliefstil, den er sich an der Antike großgezogen hat, für unser malerisches Auge
keinen Reiz hat. Wie weit dieses auch für Ad. Hildebrand, den antikisierenden
Theoretiker in der Plastik gilt, das können wir hier nicht auseinandersetzen.

Wir schließen die Besprechung mit dem Bewußtsein des Ungenügenden. So
hätten wir den eigenartigen, mit einem außergewöhnlich vornehmen Herrenporträt
(1386) und einem ganz breit gemalten Stück "Wildschweine" (1387) auftretenden
Dresdner F. von Raynski (1807 bis 1890), den Stuttgarter Realisten Theodor
Schüz (1830 bis 1900), Rud. Koller (1828 bis 1905), der mit einem vor¬
züglichen "Krautfeld" (895) u. a. erscheint, den Maler der feinen Luftstimmung
Dietrich Langko, Peter Becker, Epheu, ferner noch manchen andern nennen
müssen. Jedenfalls haben wir durch die Ausstellung die Erkenntnis gewonnen,
daß der Realismus und die Naturnachbildung als reine Seherscheiuung nicht
etwa eine den Franzosen abgelernte, ganz moderne Errungenschaft ist. Graff
und Schadow, Wasmann und Friedrich, Kobell und Krüger, Waldmüller und
Blechen, Menzel und endlich auch Boecklin sind Realisten gewesen und sind von
der Anschauung der Natur ausgegangen. Alle sind sie vor die Natur selbst
hingetreten, und jeder hat sich seine eigne Naturnachbildung ausgetüftelt. Daß es
naturwahr zu sein, nicht der impressionistischen Mache bedarf, das braucht nicht
gesagt zu werden. Wäre Technik Kunst, dann freilich wäre der fortgeschrittenste,
modernste Künstler der größte, dann wäre Liebermann auch mehr als Boecklin.
Aber wie bald könnte ein neuer kommen, der es noch raffinierter machte, und
der Ruhm der Größten wäre leicht vergänglich!




Die deutsche Iahrhundertausstellung in der Nationalgalerie

dürfen wir von einem solchen spontanen Geiste nicht erwarten, daß er auch die
letzte Rundung zum Ganzen erreicht. Fast alle Bilder, an denen er sich länger
gemüht hat, stehn zurück hinter seinen Skizzen. Sie wirken roh und oft geradezu
geschmacklos.

Wenn uns statt all der modernen, noch lebenden Meister, die genügend
bekannt sind, mehr von den ältern Künstlern gegeben worden wäre, wären wir
noch dankbarer gewesen. Zwei der größten Meister deutscher Kunst, Feuerbach
und Boecklin, hätten den Abschluß geben können. Jener erscheint in glänzender
Vollständigkeit, dieser ist offenbar vernachlässigt worden. Diese beiden Größten,
den einen, den Meister der Stilisierung, und den andern, den Herrscher im Reiche
der Farben und der wunderbaren Phantasie, von dem ein Werk oft mehr an
malerischer Kraft und Reichtum der Erfindung zu geben scheint als alle andern
Werke der Ausstellung, können wir leider nicht mehr besprechen. Wir müßten
flüchtig oder allzu ausführlich sein. Einen dritten, Hans von Marees (1837
bis 1887), hat man ihnen zugeordnet. Aber er steht weit hinter beiden zurück;
dem edeln Streben fehlt Kraft und Temperament, Reichtum der Phantasie. Das
Gequälte seines Schaffens verleidet den Genuß, ganz abgesehen davon, daß sein
Reliefstil, den er sich an der Antike großgezogen hat, für unser malerisches Auge
keinen Reiz hat. Wie weit dieses auch für Ad. Hildebrand, den antikisierenden
Theoretiker in der Plastik gilt, das können wir hier nicht auseinandersetzen.

Wir schließen die Besprechung mit dem Bewußtsein des Ungenügenden. So
hätten wir den eigenartigen, mit einem außergewöhnlich vornehmen Herrenporträt
(1386) und einem ganz breit gemalten Stück „Wildschweine" (1387) auftretenden
Dresdner F. von Raynski (1807 bis 1890), den Stuttgarter Realisten Theodor
Schüz (1830 bis 1900), Rud. Koller (1828 bis 1905), der mit einem vor¬
züglichen „Krautfeld" (895) u. a. erscheint, den Maler der feinen Luftstimmung
Dietrich Langko, Peter Becker, Epheu, ferner noch manchen andern nennen
müssen. Jedenfalls haben wir durch die Ausstellung die Erkenntnis gewonnen,
daß der Realismus und die Naturnachbildung als reine Seherscheiuung nicht
etwa eine den Franzosen abgelernte, ganz moderne Errungenschaft ist. Graff
und Schadow, Wasmann und Friedrich, Kobell und Krüger, Waldmüller und
Blechen, Menzel und endlich auch Boecklin sind Realisten gewesen und sind von
der Anschauung der Natur ausgegangen. Alle sind sie vor die Natur selbst
hingetreten, und jeder hat sich seine eigne Naturnachbildung ausgetüftelt. Daß es
naturwahr zu sein, nicht der impressionistischen Mache bedarf, das braucht nicht
gesagt zu werden. Wäre Technik Kunst, dann freilich wäre der fortgeschrittenste,
modernste Künstler der größte, dann wäre Liebermann auch mehr als Boecklin.
Aber wie bald könnte ein neuer kommen, der es noch raffinierter machte, und
der Ruhm der Größten wäre leicht vergänglich!




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[0489] Die deutsche Iahrhundertausstellung in der Nationalgalerie dürfen wir von einem solchen spontanen Geiste nicht erwarten, daß er auch die letzte Rundung zum Ganzen erreicht. Fast alle Bilder, an denen er sich länger gemüht hat, stehn zurück hinter seinen Skizzen. Sie wirken roh und oft geradezu geschmacklos. Wenn uns statt all der modernen, noch lebenden Meister, die genügend bekannt sind, mehr von den ältern Künstlern gegeben worden wäre, wären wir noch dankbarer gewesen. Zwei der größten Meister deutscher Kunst, Feuerbach und Boecklin, hätten den Abschluß geben können. Jener erscheint in glänzender Vollständigkeit, dieser ist offenbar vernachlässigt worden. Diese beiden Größten, den einen, den Meister der Stilisierung, und den andern, den Herrscher im Reiche der Farben und der wunderbaren Phantasie, von dem ein Werk oft mehr an malerischer Kraft und Reichtum der Erfindung zu geben scheint als alle andern Werke der Ausstellung, können wir leider nicht mehr besprechen. Wir müßten flüchtig oder allzu ausführlich sein. Einen dritten, Hans von Marees (1837 bis 1887), hat man ihnen zugeordnet. Aber er steht weit hinter beiden zurück; dem edeln Streben fehlt Kraft und Temperament, Reichtum der Phantasie. Das Gequälte seines Schaffens verleidet den Genuß, ganz abgesehen davon, daß sein Reliefstil, den er sich an der Antike großgezogen hat, für unser malerisches Auge keinen Reiz hat. Wie weit dieses auch für Ad. Hildebrand, den antikisierenden Theoretiker in der Plastik gilt, das können wir hier nicht auseinandersetzen. Wir schließen die Besprechung mit dem Bewußtsein des Ungenügenden. So hätten wir den eigenartigen, mit einem außergewöhnlich vornehmen Herrenporträt (1386) und einem ganz breit gemalten Stück „Wildschweine" (1387) auftretenden Dresdner F. von Raynski (1807 bis 1890), den Stuttgarter Realisten Theodor Schüz (1830 bis 1900), Rud. Koller (1828 bis 1905), der mit einem vor¬ züglichen „Krautfeld" (895) u. a. erscheint, den Maler der feinen Luftstimmung Dietrich Langko, Peter Becker, Epheu, ferner noch manchen andern nennen müssen. Jedenfalls haben wir durch die Ausstellung die Erkenntnis gewonnen, daß der Realismus und die Naturnachbildung als reine Seherscheiuung nicht etwa eine den Franzosen abgelernte, ganz moderne Errungenschaft ist. Graff und Schadow, Wasmann und Friedrich, Kobell und Krüger, Waldmüller und Blechen, Menzel und endlich auch Boecklin sind Realisten gewesen und sind von der Anschauung der Natur ausgegangen. Alle sind sie vor die Natur selbst hingetreten, und jeder hat sich seine eigne Naturnachbildung ausgetüftelt. Daß es naturwahr zu sein, nicht der impressionistischen Mache bedarf, das braucht nicht gesagt zu werden. Wäre Technik Kunst, dann freilich wäre der fortgeschrittenste, modernste Künstler der größte, dann wäre Liebermann auch mehr als Boecklin. Aber wie bald könnte ein neuer kommen, der es noch raffinierter machte, und der Ruhm der Größten wäre leicht vergänglich!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/489>, abgerufen am 24.07.2024.