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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Die Deutschen in Ästerreich und die lVahlrechtssrage

Großkapitals ihr Ende herbeigeführt hatte. Die neue Mehrheit des ungarischen
Abgeordnetenhauses hatte ein entschieden antiliberales, wirtschaftliches Programm.
In beiden Reichshälften mußten mithin die Interessenten des wirtschaftlichen Libe¬
ralismus damit rechnen, daß ihr Gegner, der produktive Mittelstand, dauernd von
der Verwaltung und der Gesetzgebung Besitz ergreifen werde. In diesem kritischen
Augenblick warf die Börse, getragen von der Sturzwelle der russischen Revolution,
das Schlagwort vom allgemeinen und gleichen Wahlrecht in die Massen.

In Ungarn, wo das geltende Wahlrecht das Magyarentum und in ihm
wieder den Adel außerordentlich begünstigt, dieser aber fast durchweg in das
oppositionelle Lager übergegangen war, lag es nahe, seine Macht durch eine
Reform des ungarischen Wahlrechts zu brechen; aber statt daß eine solche
Wahlreform im Sinne der politischen Befreiung der Nichtmagyaren versucht
worden wäre, entwarf man eine Wahlreform, die die heute noch sehr schwache
sozialdemokratische Bewegung in Ungarn entfesseln sollte. Nachdem der Kaiser
aber dafür gewonnen worden war, jenseits der Leitha die Sozialdemokratie zur
Stütze des Thrones zu machen, war es ein Leichtes, auch die diesseitige Reichs¬
hälfte in diese Bewegung hineinzuziehen. Wie auf Kommando flammte die
sozialdemokratische Bewegung in Österreich wieder auf, und die Börsenpresse
sorgte durch Kolportierung von allerlei angeblichen Äußerungen des Monarchen
dafür, daß die Agitation für das allgemeine, gleiche Wahlrecht gewissermaßen
durch ein kaiserliches Wort sanktioniert wurde.

Nur der österreichische Ministerpräsident auf seinem einsamen Gipfel poli¬
tischer Impotenz sah und hörte von alledem nichts; er hatte keine Ahnung von
dem Zusammenhange der Dinge diesseits und jenseits der Leitha, keine Ahnung
von den treibenden Kräften und ihren Zielen, und so gab er auch im September
1905, als im österreichischen Abgeordnetenhause die Wahlreformfrage erörtert
wurde, die Erklärung ab, daß die Frage der Abänderung der Wahlordnung erst
gründlich studiert werden müsse und nur unter genauer Abwägung der beteiligten
Interessen geordnet werden könne.

Das war eine wenn auch in verbindliche Form gekleidete Ablehnung der
Forderung nach dem allgemeinen, gleichen Wahlrecht, auf die jene, die es sich
in den Kopf gesetzt hatten, den Lorbeerkranz des wahren Volksfreundes um
das Haupt des Ministerpräsidenten zu winden, mit sozialdemokratischen Massen¬
demonstrationen antworteten. Aber Freiherr von Ganthas begriff immer noch nicht,
daß das Schicksal ihn für die Rolle eines Mirabeau bestimmt hatte, und ließ
mit blanker Waffe in die Demonstranten einHauen.

Was sich nach dieser unruhvollen Nacht in dem Konferenzzimmer des
Ministerpräsidenten abgespielt hat, deckt noch der Schleier des Geheimnisses;
nur das Ergebnis kennt man: die Bekehrung des Freiherrn von Ganthas zum
allgemeinen und gleichen Wahlrechte, denn bald darauf erfuhr man aus dem
Munde des Ministerpräsidenten, daß die Regierung nichts wichtigeres und
nichts dringenderes zu tun habe als die Einführung des allgemeinen, gleichen
Wahlrechts.'

Wie man ihn dazu gebracht hat, auf sein tadellos gescheiteltes Haar die
phrygische Mütze zu drücken, ist gleichgiltig: politische Einsichtslosigkeit und Eitel"


Die Deutschen in Ästerreich und die lVahlrechtssrage

Großkapitals ihr Ende herbeigeführt hatte. Die neue Mehrheit des ungarischen
Abgeordnetenhauses hatte ein entschieden antiliberales, wirtschaftliches Programm.
In beiden Reichshälften mußten mithin die Interessenten des wirtschaftlichen Libe¬
ralismus damit rechnen, daß ihr Gegner, der produktive Mittelstand, dauernd von
der Verwaltung und der Gesetzgebung Besitz ergreifen werde. In diesem kritischen
Augenblick warf die Börse, getragen von der Sturzwelle der russischen Revolution,
das Schlagwort vom allgemeinen und gleichen Wahlrecht in die Massen.

In Ungarn, wo das geltende Wahlrecht das Magyarentum und in ihm
wieder den Adel außerordentlich begünstigt, dieser aber fast durchweg in das
oppositionelle Lager übergegangen war, lag es nahe, seine Macht durch eine
Reform des ungarischen Wahlrechts zu brechen; aber statt daß eine solche
Wahlreform im Sinne der politischen Befreiung der Nichtmagyaren versucht
worden wäre, entwarf man eine Wahlreform, die die heute noch sehr schwache
sozialdemokratische Bewegung in Ungarn entfesseln sollte. Nachdem der Kaiser
aber dafür gewonnen worden war, jenseits der Leitha die Sozialdemokratie zur
Stütze des Thrones zu machen, war es ein Leichtes, auch die diesseitige Reichs¬
hälfte in diese Bewegung hineinzuziehen. Wie auf Kommando flammte die
sozialdemokratische Bewegung in Österreich wieder auf, und die Börsenpresse
sorgte durch Kolportierung von allerlei angeblichen Äußerungen des Monarchen
dafür, daß die Agitation für das allgemeine, gleiche Wahlrecht gewissermaßen
durch ein kaiserliches Wort sanktioniert wurde.

Nur der österreichische Ministerpräsident auf seinem einsamen Gipfel poli¬
tischer Impotenz sah und hörte von alledem nichts; er hatte keine Ahnung von
dem Zusammenhange der Dinge diesseits und jenseits der Leitha, keine Ahnung
von den treibenden Kräften und ihren Zielen, und so gab er auch im September
1905, als im österreichischen Abgeordnetenhause die Wahlreformfrage erörtert
wurde, die Erklärung ab, daß die Frage der Abänderung der Wahlordnung erst
gründlich studiert werden müsse und nur unter genauer Abwägung der beteiligten
Interessen geordnet werden könne.

Das war eine wenn auch in verbindliche Form gekleidete Ablehnung der
Forderung nach dem allgemeinen, gleichen Wahlrecht, auf die jene, die es sich
in den Kopf gesetzt hatten, den Lorbeerkranz des wahren Volksfreundes um
das Haupt des Ministerpräsidenten zu winden, mit sozialdemokratischen Massen¬
demonstrationen antworteten. Aber Freiherr von Ganthas begriff immer noch nicht,
daß das Schicksal ihn für die Rolle eines Mirabeau bestimmt hatte, und ließ
mit blanker Waffe in die Demonstranten einHauen.

Was sich nach dieser unruhvollen Nacht in dem Konferenzzimmer des
Ministerpräsidenten abgespielt hat, deckt noch der Schleier des Geheimnisses;
nur das Ergebnis kennt man: die Bekehrung des Freiherrn von Ganthas zum
allgemeinen und gleichen Wahlrechte, denn bald darauf erfuhr man aus dem
Munde des Ministerpräsidenten, daß die Regierung nichts wichtigeres und
nichts dringenderes zu tun habe als die Einführung des allgemeinen, gleichen
Wahlrechts.'

Wie man ihn dazu gebracht hat, auf sein tadellos gescheiteltes Haar die
phrygische Mütze zu drücken, ist gleichgiltig: politische Einsichtslosigkeit und Eitel"


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[0368] Die Deutschen in Ästerreich und die lVahlrechtssrage Großkapitals ihr Ende herbeigeführt hatte. Die neue Mehrheit des ungarischen Abgeordnetenhauses hatte ein entschieden antiliberales, wirtschaftliches Programm. In beiden Reichshälften mußten mithin die Interessenten des wirtschaftlichen Libe¬ ralismus damit rechnen, daß ihr Gegner, der produktive Mittelstand, dauernd von der Verwaltung und der Gesetzgebung Besitz ergreifen werde. In diesem kritischen Augenblick warf die Börse, getragen von der Sturzwelle der russischen Revolution, das Schlagwort vom allgemeinen und gleichen Wahlrecht in die Massen. In Ungarn, wo das geltende Wahlrecht das Magyarentum und in ihm wieder den Adel außerordentlich begünstigt, dieser aber fast durchweg in das oppositionelle Lager übergegangen war, lag es nahe, seine Macht durch eine Reform des ungarischen Wahlrechts zu brechen; aber statt daß eine solche Wahlreform im Sinne der politischen Befreiung der Nichtmagyaren versucht worden wäre, entwarf man eine Wahlreform, die die heute noch sehr schwache sozialdemokratische Bewegung in Ungarn entfesseln sollte. Nachdem der Kaiser aber dafür gewonnen worden war, jenseits der Leitha die Sozialdemokratie zur Stütze des Thrones zu machen, war es ein Leichtes, auch die diesseitige Reichs¬ hälfte in diese Bewegung hineinzuziehen. Wie auf Kommando flammte die sozialdemokratische Bewegung in Österreich wieder auf, und die Börsenpresse sorgte durch Kolportierung von allerlei angeblichen Äußerungen des Monarchen dafür, daß die Agitation für das allgemeine, gleiche Wahlrecht gewissermaßen durch ein kaiserliches Wort sanktioniert wurde. Nur der österreichische Ministerpräsident auf seinem einsamen Gipfel poli¬ tischer Impotenz sah und hörte von alledem nichts; er hatte keine Ahnung von dem Zusammenhange der Dinge diesseits und jenseits der Leitha, keine Ahnung von den treibenden Kräften und ihren Zielen, und so gab er auch im September 1905, als im österreichischen Abgeordnetenhause die Wahlreformfrage erörtert wurde, die Erklärung ab, daß die Frage der Abänderung der Wahlordnung erst gründlich studiert werden müsse und nur unter genauer Abwägung der beteiligten Interessen geordnet werden könne. Das war eine wenn auch in verbindliche Form gekleidete Ablehnung der Forderung nach dem allgemeinen, gleichen Wahlrecht, auf die jene, die es sich in den Kopf gesetzt hatten, den Lorbeerkranz des wahren Volksfreundes um das Haupt des Ministerpräsidenten zu winden, mit sozialdemokratischen Massen¬ demonstrationen antworteten. Aber Freiherr von Ganthas begriff immer noch nicht, daß das Schicksal ihn für die Rolle eines Mirabeau bestimmt hatte, und ließ mit blanker Waffe in die Demonstranten einHauen. Was sich nach dieser unruhvollen Nacht in dem Konferenzzimmer des Ministerpräsidenten abgespielt hat, deckt noch der Schleier des Geheimnisses; nur das Ergebnis kennt man: die Bekehrung des Freiherrn von Ganthas zum allgemeinen und gleichen Wahlrechte, denn bald darauf erfuhr man aus dem Munde des Ministerpräsidenten, daß die Regierung nichts wichtigeres und nichts dringenderes zu tun habe als die Einführung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts.' Wie man ihn dazu gebracht hat, auf sein tadellos gescheiteltes Haar die phrygische Mütze zu drücken, ist gleichgiltig: politische Einsichtslosigkeit und Eitel"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/368>, abgerufen am 27.12.2024.